Eden im Jenseits

„Lass uns jeden Tag das Leben endlos spüren / Und uns niemals unsre Ehrlichkeit verlieren“, heißt es in dem deutschen Schlager „Jenseits von Eden“ von Nino de Angelo. In dem neuen Kriminalroman „Das Ende von Eden“ des US-amerikanischen Autors Stephen Amidon ist Eden kein (biblischer) Ort, sondern eine junge Frau von 20 Jahren, und trotzdem passt das Schlager-Zitat. Irgendwer hat Eden zwischen Abend und Morgen in der idyllischen Bostoner Vorstadt Emerson ins Jenseits befördert. Dorothy Gates, Detective bei der State Police, sagt es Edens Mutter, wie es ist: „Man kann das einfach nicht schonend sagen. Eden ist tot.“ Was danach in dem Örtchen geschieht, ist perfekte Serienvorlage, ist Zeugnis für menschliche Abgründe, für Klassenunterschiede und die Macht des Geldes. Und es ist gut geschrieben.

Der 1959 geborene Stephen Amidon ist in Deutschland leider ein völlig unbekannter Autor. Abgesehen von „Das Ende von Eden“ (im Original: „Locust Lane“), das in diesem Jahr erschienen ist, haben es nur „The New City“ im Jahr 2000 als „Traumstadt“ sowie „Human Capital“ 2006 als „Der Sündenfall“ in eine deutsche Übersetzung geschafft (2019 mit Liev Schreiber verfilmt). In den USA dagegen ist Amidon durchaus ein Name. Wendy Smith schrieb im Januar in der Washington Post über ihn: „Stephen Amidon hat in den letzten drei Jahrzehnten eine Reihe von ebenso fesselnd lesbaren wie scharfkantigen Romanen über so unbequeme Fakten des amerikanischen Lebens wie Rasse, Klasse und Geld geschrieben.“ Auch in „Das Ende von Eden“ bleibt er dieser Linie treu. Opfer dieser Geschichte ist am Ende nicht nur das Mord-Opfer.

Eden, die in voller Pracht Eden Angela Perry heißt, liegt – offenbar erschlagen – im Haus der Bondurants. Dort war Eden seit drei Monaten als eine Art Haushälterin und Hundesitterin angestellt, dabei sind Eden und ihre Mutter Danielle mit der wohlhabenden Familie über mehrere Ecken verwandt. Danielle und Eden hatten eine Auszeit vereinbart, so wie auch Partnerschaften manchmal eine Auszeit brauchen, damit sich alle Beteiligten besinnen können. Eden, die hin und wieder dummes Zeug macht, weil das einfacher ist, die aber keiner Fliege was zuleide tun kann. Eden, die Menschen allzu leichtherzig vertraut. Eden, die ihre Mutter zum Wahnsinn getrieben hat, die von ihrer Mutter jedoch im selben Atemzug als Engel beschrieben wird. „Es ist schwer zu erklären. Dafür muss man sie kennen“, sagt Danielle. Was nun schwierig geworden ist.

Aber glaubt man ihm?

Ihren letzten Abend hat Eden mit drei Leuten von ihrer Schule verbracht: Christopher Mahoun, der schwer in sie verknallt war, sowie Jack Parrish und Hannah Holt, die beide ein Paar sind. Die Polizei hat schnell einen Verdächtigen ausgemacht, der es gewesen sein kann. Gewesen sein muss. Christopher Mahoun, Sohn eines libanesischen Einwanderers und bekannten Gastronoms in der Stadt, war von ihnen allen der letzte, der Eden lebend gesehen hat. Er beteuert jedoch, dass er sie nicht angefasst, dass sie noch gelebt hat, als er sie in der Nacht verließ. Und er kann auch die Kratzer an seinem Hals erklären. Aber glaubt man ihm?

Alle drei Jugendlichen fallen zu Hause auf. Noch in der Nacht oder am nächsten Morgen. Sie alle haben etwas zu verbergen. Auch die mitunter schwerreichen Eltern. Da ist Lug und Betrug, da sind Alkohol und Drogen im Spiel, falsche Freundschaften brechen auf und moralische Grenzen verschwimmen. Manch einer rächt sich, andere halten aus vermeintlich hehren Motiven schützend ihre teuren Hände über die Köpfe ihres Nachwuchses.

Für die Polizei passt es bei Christopher Mahoun einfach am besten. Für die Kommentatoren in den Sozialen Medien ohnehin: ein Dunkelhäutiger, der ein weißes Mädchen aus der privilegierten Schicht killt, weil sie ihn abblitzen lässt? Da ist der Schuldige also schnell gefunden, und die Hexenjagd beginnt mit all ihren hässlichen Fratzen.

Kluger Wechsel der Erzählstimmen

Stephen Amidon schreibt seinen Kriminalroman aus der Sicht von fünf Erwachsenen: Hannahs Stiefmutter, Jacks Mutter, Christophers Vater, Edens Mutter und aus der Sicht eines eigentlich unbeteiligten Dritten, der in der besagten Nacht etwas gesehen hat, sich aber aufgrund eines Alkoholproblems nicht traut, zur Polizei zu gehen. Geschickt rationiert Amidon die Häppchen, die er uns vorlegt und mit denen wir der Lösung immer wieder nahe zu kommen glauben. Nur um uns gleich danach wieder auf eine völlig neue Fährte zu bringen. Klug lässt der Autor seine fünf Erzählstimmen die Blickwinkel wechseln – und wir wissen nie sicher, welcher davon wie zu trauen ist.

Die Figurenzeichnung ist in ihrer Tiefe fast ausschließlich gut gelungen, vor allem die der Frauen. Oberflächlich gesehen bedient sich Amidon zwar gängiger Klischees von Klassenunterschieden. So ist Danielle, die Mutter der getöteten Eden, mit ihren Tattoos („Ich bin die illustrierte Ausgabe“) und den schwarz gefärbten Haaren der Arbeiterklasse zuzurechnen, während die anderen Frauen aus der oberen Mittelschicht edel wohnen, nicht arbeiten müssen und sich mit Geld ein paar Probleme vom Leib schaffen können. Amidon darauf zu relativieren, wäre aber falsch. Denn der Autor versteht es, die Innensicht seiner Figuren psychologisch nachvollziehbar darzustellen. Nur Michel, der Vater des Hauptverdächtigen, sowie die beiden Detectives bleiben ungewöhnlich blass. Im Hinblick auf seine wichtige Rolle im Innenverhältnis zu seinem Sohn ist das vor allem bei Michel unverständlich.

Sorgfältig ausstaffiert

Amidon schreibt gut, und Alice Jakubeit hat seinen Text in ein flüssiges Deutsch übertragen, das auch den Sarkasmus transportiert, mit dem Amidon seine Figuren manchmal sprechen oder denken lässt. Der Autor gibt seiner Geschichte viel Zeit, sich zu entwickeln. „Das Ende von Eden“ ist also kein atemloser Pageturner, der mit Cliffhangern arbeitet, sondern eine gesellschaftskritische Kriminalgeschichte, die nach und nach sorgfältig ausstaffiert wird.

Die Auflösung kommt schließlich unerwartet, heftig und erschütternd und öffnet uns in diesem Roman einmal mehr die Augen, wie Gerechtigkeit zurechtgebogen wird, wenn Menschen mit Geld ihre Macht und ihren Einfluss ausnutzen. Das Ende ist kein versöhnliches. Mit seiner Bitterkeit wird es nicht allen schmecken. Aber es hinterlässt uns nicht ohne Hoffnung, trotz der noch offenen Fragen.

Hoffen wir außerdem, dass der Droemer-Verlag mit „Das Ende von Eden“ genug Aufmerksamkeit auf dem deutschsprachigen Buchmarkt erzeugen kann, damit auch die anderen Romane von Stephen Amidon eine deutsche (Neu-)Übersetzung erfahren. Ansonsten bleibt uns nichts anderes übrig, als die Bücher im Original zu lesen. Entdecken Sie Stephen Amidon!

Stephen Amidon: Das Ende von Eden, Droemer-Verlag, München, 2023, 381 Seiten, broschiert, 16,99 Euro, ISBN 978-3426283929, Leseprobe

Vertraue niemandem – außer dieser Rezension

„Bühne“ sagt man. Nicht „Theater“. Das ist die erste Lektion, die die neuen Schauspielschülerinnen und -schüler an der Elite-Schule CAPA von dem berüchtigten, unkonventionellen Lehrer Mr. Kingsley lernen. Bühne. Die Bretter, die die Welt bedeuten. An der CAPA bedeuten sie auch Schmerz und Macht.

Das erfahren ganz besonders die beiden Hauptfiguren in Susan Chois fünftem Roman „Vertrauensübung“, der jetzt erstmalig auf Deutsch im Kjona-Verlag erschienen ist, toll übersetzt von Tanja Handels und Katharina Martl. Man sollte ihn jedoch nicht bloß „Roman“ nennen. Man nenne ihn „Kunst“. Oder auch: „Kaleidoskop“. Das sah auch die Jury des wichtigsten US-Literaturpreises so: Choi wurde für diesen Roman 2019 mit dem National Book Award ausgezeichnet.

Lassen Sie sich fallen

Haben Sie schon einmal an einer Vertrauensübung teilgenommen? Die einfachste ist: Sie stellen sich vor eine Person, der Sie vertrauen, und lassen sich rückwärts fallen. Werden Sie aufgefangen, ist die Vertrauensübung geglückt. Andernfalls sollten Sie möglicherweise Ihr Vertrauen zu der anderen Person überdenken.

An der CAPA, der Citywide Academy for the Performing Arts, die Teenager aufnimmt, die schon in jungen Jahren als Darsteller vielversprechend scheinen, gehören solche Vertrauensübungen zum Lehrprogramm, allerdings in scheinbar endlosen Variationen.

Im Jahr 1982 begleiten wir Sarah und David, zwei 15-Jährige, die gerade neu an der CAPA angenommen worden sind, durch ihr erstes Schuljahr. Sarah, die aus einfachen Verhältnissen stammt, und David, Spross eines wohlhabenden Elternhauses, ein „rich kid“, verlieben sich trotz aller Unterschiede und Ungereimtheiten ineinander. Doch diese Vertrauensübung geht schief. Sarah tritt hinter Davids Rücken zur Seite, als der sich gerade öffentlich fallen lassen will.

Grausam demütigende Bühnenarbeit

Stattdessen tritt nun Mr. Kingsley hinter Sarah und wird ihr Vertrauenslehrer. Ganz ohne sexuelle Konnotation. Vielleicht. Denn Mr. Kingsley ist doch schwul, erinnert sich Sarah immer wieder. Sie erzählt von ihrer misslungenen Liebesgeschichte, und Mr. Kingsley tritt hinter ihr zur Seite, lässt sie fallen und nutzt das Gehörte für grausam demütigende Bühnenarbeit und Zurschaustellung von Sarah und David. Wie sehr aber kann Mr. Kingsley seiner eigenen Macht vertrauen? Als er sich einem Jungen namens Manuel zuwendet, reagiert Sarah.

Und wie sicher sind Sie als Leserin, als Leser, dass die Autorin Sie auffängt, wenn Sie sich rücklings fallen lassen? Seien Sie nicht zu beruhigt. Denn der ganze Roman ist eine Vertrauensübung, die Sie nicht bestehen werden. Haben Sie Seite 178 erreicht, beginnt ein neuer Teil des Buches, der überschrieben ist mit „Vertrauensübung“. Und haben Sie Seite 316 gelesen, beginnt der dritte Akt. Er heißt: „Vertrauensübung“. Ich werde mich hüten, Ihnen genau zu erzählen, was es mit diesem meta-fiktionalen Teil auf sich hat – Ihnen entgeht am Ende noch der Genuss des Fallens.

Psychologisch wie strukturell raffiniert aufgebaut

Susan Choi schafft mit ihrem Roman ein vielschichtiges, zu Diskussionen und Interpretationen anstiftendes Werk, das wie ein Kaleidoskop immer neue Facetten aufblitzen lässt. Psychologisch wie strukturell ist der Roman raffiniert aufgebaut, das Dasein an einer Schauspielschule treffend gezeichnet; und das ist ja noch längst nicht alles.

Die Autorin war einst selbst Schülerin an einer solchen High School, wie sie in ihrer Danksagung schreibt: „Ganz ausdrücklich das positive Gegenstück zu meiner fiktiven CAPA und ein Hort der Träume, nicht der Albträume.“

Susan Choi, die 1969 als Tochter eines koreanischen Vaters und einer jüdischen Mutter in South Bend im US-Bundesstaat Indiana zur Welt kam, erzählte dem New York Magazine 2019 (sehr lesenswert!), beim Schreiben habe sie eine verrückte Wut angetrieben. Zum einen über die Trennung von ihrem Ehemann nach 13 Jahren. Zum anderen über die erfolgreiche Präsidentschaftskandidatur von Donald Trump, ganz besonders aber über dessen Prahlereien mit sexueller Gewalt („grab’em by the pussy“).

Lesen Sie dieses Buch. Geben Sie es auch Freundinnen und Freunden, denn Sie werden Vertraute suchen, mit denen Sie darüber sprechen können. Es ist ein Roman, dem Sie nicht vertrauen können, der jede Leserin und jeden Leser auf Loyalität testet und zugleich Lügen und Wahrheiten kunstvoll verstrickt, um daraus etwas Neues zu schöpfen. Aber ist es eine Lüge? Ist es Wahrheit? Was ist es? Keine leichte Kost, aber dennoch: unbedingt lesen! Doch gestatten Sie mir noch eine Frage: Vertrauen Sie mir?

Susan Choi: Vertrauensübung, Kjona-Verlag, München, 2023, 349 Seiten, gebunden, 25 Euro, ISBN 978-3910372115

Seitengang dankt dem Kjona-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Der vergessene Schöpfer des unvergesslichen Central Parks

Hand aufs Herz: Kennen Sie den US-Amerikaner Andrew Haswell Green? Die meisten Menschen dürften das verneinen, obgleich sie im selben Atemzug eine Frage nach der Bekanntheit des Central Parks von New York City bejahen würden. Ohne Andrew Haswell Green gäbe es heutzutage jedoch keinen Central Park, keine New York Public Library, kein Metropolitan Museum of Art. Zum Anfang des 20. Jahrhunderts erhielt Green gar den Beinamen „Vater von Greater New York“, weil er entscheidend daran mitgewirkt hat, dass sich Manhattan und Brooklyn, Queens und Staten Island zu einer einzigen Stadt vereinen.

Und heutzutage? Ist der Mann nahezu vergessen. Dank eines einfühlsamen Romans des britischen Autors Jonathan Lee dürfte sich das in Teilen ändern oder bereits geändert haben. Im vergangenen Frühjahr erschien im Diogenes-Verlag sein Buch „Der große Fehler“. Es erzählt die bewegende Lebensgeschichte von Andrew Haswell Green – aber auch die mysteriösen Hintergründe seines abrupten und tragischen Ablebens. Denn Green wurde plötzlich und unerwartet auf der Treppe vor seinem Haus mit fünf Pistolenkugeln niedergestreckt. Wer sollte diesem Mann von 83 Jahren nach dem Leben trachten?

Der bei London aufgewachsene Jonathan Lee ist bereits 2012 nach New York City gezogen und spaziert gern durch den Central Park. Eines Tages entdeckt er eine marmorne Bank, die schon etwas verwittert ist. Tauben haben ihre Geschäfte darauf erledigt, und einmal pro Woche kommt jemand, um den Dreck zu entfernen. In die Rückenlehne ist eine Inschrift eingraviert: „Zu Ehren von Andrew Haswell Green / Dem Schöpfergeist des frühen Central Park / Vater von Greater New York“. Der Name sagt Jonathan Lee, dem Autor von drei Romanen, dem New Yorker Verlagsmitarbeiter und Drehbuchschreiber, überhaupt nichts. Null. Er beginnt zu recherchieren und weiß bald: Das wird mein nächster Roman.

Erzählerisch äußerst gelungen

Der ist vor allem erzählerisch äußerst gelungen und sprachlich glänzend geschrieben. Es ist weniger ein Kriminalroman als ein biographischer Zugang in das New York zur Jahrhundertwende. Natürlich behandelt Lee auch die Ermittlungen des wunderbaren Inspectors McClusky, der in der Not steht, sich beweisen zu müssen, nachdem er zuvor durch ein Ungeschick seinen Ruf in der Polizeitruppe ruiniert hat. Dieser Erzählstrang nimmt jedoch nicht so viel Zeit ein, wie der Klappentext des Buches das vermuten ließe.

Auf einer zweiten Zeitebene erzählt Lee detailreich vom Aufwachsen, Leben und Handeln des einst berühmten Mannes. Greens Eltern haben elf Kinder, er selbst ist das siebte in der Reihe. Ein zurückhaltender, schmächtiger Junge, der Ordnung liebt und gerne zeichnet, dem aber nicht erlaubt wird, die Schule zu besuchen. Denn seine Arbeitskraft ist auf dem Bauernhof der Familie in Massachusetts wesentlich mehr von Nöten. Als Green 12 Jahre alt ist, stirbt seine geliebte Mutter. Ein Schock für ihn. Als man ihn dabei erwischt, wie er seinen besten (und einzigen) Jugendfreund küssen will, schickt ihn der Vater in die Lehre bei einem befreundeten Gemischtwarenhändler in New York.

Dort blüht Andrew Haswell Green auf, und er soll es noch mehr tun, als eines Tages der junge Anwalt Samuel Tilden in den Laden schneit. Der nimmt sich seiner an, macht ihn zu seinem Assistenten, zeigt ihm die Welt der Bücher („Ich glaube, dass man ohne eine Vorliebe für das Lesen niemals ein eleganter Mann werden kann“) und wird später stadtbekannte Projekte mit ihm umsetzen. Allen voran den Central Park, einen öffentlichen Park, der für alle Menschen frei zugänglich sein soll – ungewöhnlich für die Zeit, war man doch sonst bestrebt, Eintritt zu verlangen, um die Landstreicher und Kriminellen aus den Parks zu halten. Außerdem sollten Manhattan und Brooklyn zusammengeführt werden. Eine Idee, die manchen Zeitgenossen sehr zuwider war, die Green aber mit großer Verve verfolgte.

Bangen um ihr Ansehen und Wirken

Es ist mehr als eine innige Freundschaft, die die beiden Männer verbindet. Doch sie sind zu keiner Zeit bereit, ihre Liebe zueinander öffentlich zu machen, weil es sie bangt, dass nicht bloß ihr Ansehen, sondern vor allem ihr Wirken und ihre Vorhaben für die Gesellschaft dadurch Schaden nehmen können. Jonathan Lee beschreibt diesen inneren Kampf der unmöglichen Liebe, des Wollens, aber nicht Könnens, behutsam und mit viel Wissen um die Nuancen dieser Entscheidung.

Jonathan Lee hat seinen Roman in 33 Kapitel unterteilt, die als Überschrift jeweils die Namen der Parkeingänge zum Central Park tragen und schon erste Hinweise auf den Kapitelinhalt erlauben. Lee hat damit auch in der äußeren Form einen Rückgriff auf Greens Werk geschaffen, alle Wege durch die Tore seines Romans führen in den Central Park. Ist das der „große Fehler“, der dem Buch seinen Titel gibt, der Central Park? Jemand sagte mal, er halte den Park mitten in der Stadt für eine „schwache, sentimentale Idee“. Oder war es ein Fehler, dass Green am Morgen des 13. Novembers 1903, der ein Freitag war, sich keinen Talisman gegen das Unheil und das Böse an den Körper gelegt hat? Oder hat der Mann, der ihn erschoss, möglicherweise den falschen umgelegt?

Selbstverständlich gibt es eine Lösung, wie es auch ein Motiv für den Mord gibt. Beides klärt Jonathan Lee in seinem Roman auf, und doch sind beide Auflösungen zweitrangig, denn in erster Linie gelingt es Jonathan Lee auf literarisch hohem Niveau einen Mann wieder ins Licht zu holen, der zu lange Zeit vergessen war. Jede Frau und jeder Mann sollte dieses Buch gelesen haben, bevor ein jeder auch nur einen Fuß durch eines der Tore im Central Park gesetzt hat. Alles andere wäre ein Fehler.

Jonathan Lee: Der große Fehler, Diogenes-Verlag, Zürich, 2022, 367 Seiten, gebunden, 25 Euro, ISBN 978-3257071917, Leseprobe, Hörprobe

Zurück in die Zeitung

Kennen Sie noch das Videospiel „Paperboy“ aus den späten 1980er bis frühen 1990er Jahren? Man steuerte einen US-amerikanischen Zeitungsjungen auf einem BMX und musste möglichst alle Abonnent*innen einer Straße mit Zeitungen beliefern, natürlich im hohen Bogen vom Fahrrad aus. Punktabzüge gab es für eingeworfene Scheiben oder falls Zeitungsbesteller*innen leer ausgingen. Die Spielfigur damals war ein Junge, aber natürlich gibt es auch Mädchen und Frauen in dem Job. Vier ganz besonderen Papergirls haben der Autor Brian K. Vaughan und Zeichner Cliff Chiang eine sechsteilige Comic-Serie gewidmet, die nun auch in einer Gesamtausgabe erschienen ist. Fans der 1980er Jahre, von BMX; Walkie-Talkies, Zeitreisen und Außerirdischen, die nach Hause telefonieren wollen; sollten ihren Walkman mal zur Seite legen und die „Paper Girls“ zur Hand nehmen. Und: Richtig, es gibt auch eine Serienadaption davon.

Es ist 4.40 Uhr am sogenannten Höllen-Morgen des Jahres 1988, der Morgen nach Halloween, wenn auf den Straßen die letzten angetrunkenen Nachtschwärmer und Halbstarken unterwegs sind und die Stadtreinigung die Reste vom Feste noch nicht beseitigt hat. Um diese Zeit machen sich die Zeitungsbot*innen des Cleveland Preserver auf den Weg, um in Stony Stream, einem fiktiven Vorort von Cleveland (Ohio), die Zeitungen in die Vorgärten und bestenfalls auf die Fußmatten zu werfen. Zum ersten Mal ist auch die zwölfjährige Erin Tieng dabei und gerät im Morgengrauen gleich an ein Trio pubertärer Dumpfbacken.

Doch die Nacht ist noch nicht vorbei

Hilfe ist unterwegs, denn auch die drei Mädchen Mac, KJ und Tiff radeln mit Zeitungen durch die Straßen. Ganz besonders Mac ist nicht auf den Mund gefallen, sie vertreibt die Jungs und nimmt Erin in ihre Obhut. Doch die Nacht ist noch nicht vorbei, und der Zusammenprall mit den Jungs nur ein laues Lüftchen gegen das, was sich bisher unerkannt in ihrer Stadt zusammenbraut.

Nur wenig später werden zwei der Mädchen von drei Typen in seltsamen Geisterkostümen überfallen, zu viert nehmen die „Paper Girls“ die Verfolgung auf. Ob es wieder die Halbstarken sind, die sich für ihre Schmach rächen wollen? Die Mädchen vermuten das Versteck im Keller eines Hauses, entdecken dort jedoch keine Menschenseele, sondern eine Maschine oder ein Gerät, das wie eine alte Apollo-Kapsel aussieht.

Der Strom fällt aus, Taschenlampen funktionieren nicht mehr, und der Himmel über der Stadt leuchtet mit einem Mal in bunten Farben. Das Polarlicht ist nichts dagegen. Als schließlich noch Flugsaurier am Himmel auftauchen, flüchten die Mädchen zu Macs Eltern. „Mein Dad hat ne Knarre“, sagt Mac. Und mit Knarren, das wissen Amerikaner*innen, kann man alle Probleme lösen. Durch ein Missgeschick fängt sich Erin eine Kugel ein, und da auch das Telefon natürlich nicht mehr funktioniert, Macs Stiefmutter durch ihr Alkoholproblem fahruntüchtig ist, ist die tapfere Mac wieder die einzige, die sie aus diesem Schlamassel rausholen kann.

Begegnung mit den eigenen Ichs

Sie meinen, jetzt wäre die ganze Geschichte schon erzählt? Weit gefehlt – das war erst der Anfang dieser wahnwitzigen sechsbändigen Reihe um die vier „Paper Girls“. Thematisch bleibt es nicht bei Flugsauriern und Apollo-Kapseln, sondern – und das ist nicht zu viel verraten – die vier Mädchen geraten im weiteren Verlauf in eine kosmische Auseinandersetzung von zwei Zeitreise-Gruppen und begegnen ihren eigenen Ichs in unterschiedlichen Zeiten.

Ein älterer Schüler sagt im ersten Band der Reihe: „Ich bin wohl ganz schön high.“ Anders lässt sich das vermutlich nicht erklären, was der US-amerikanische Erfolgsautor Brian K. Vaughan („Saga“, „We stand on guard“, Drehbuch-Mitarbeit für die TV-Serie „Lost“, Autor für die TV-Serie „Under the Dome“) hier an Ideen auffährt. Manch einem mag das etwas überfrachtet vorkommen, auf einer Länge von 800 Seiten aber haben alle Neben-und Haupt-Erzählstränge ausreichend Platz, allen voran auch die ausgeklügelten Figurenzeichnungen der vier Mädchen, die sich mit einer Vielzahl von Themen beschäftigen: Freundschaft, Queerness, Tod, Liebe, People of Colour, Holocaust, Videospiele, Zeitreisen, Rich Kids, Armut, Alkoholismus. Teilweise geht es heftig zur Sache.

Stimmungsvolle Retro-Kolorierung

Cliff Chiang fängt das Gefühl der 1980er Jahre, diese wunderbare Nostalgie, zeichnerisch hervorragend und authentisch ein, auch in der Optik der Personen. Referenzen allerdings setzt er dezent ein, was raffiniert ist, weil es die Story nicht stört. Die stimmungsvolle Retro-Kolorierung durch Matt Wilson tut das Übrige zum optischen Gelingen dieser Reihe, die sich geradezu liebevoll um ihre Protagonist*innen kümmert, um ihnen den perfekten Boden für ihre eigene Geschichte zu bereiten. 2016 wurde die Reihe mit den renommierten Eisner-Awards für die „Beste neue Serie“ und Chiang als „Bester Zeichner“ ausgezeichnet.

Im Sommer 2022 veröffentliche der Streaming-Dienst „Amazon Prime Video“ schließlich die acht Episoden lange erste Staffel der Serien-Adaption von „Paper Girls“. Nur um wenige Wochen später zu verkünden, dass es keine weiteren Staffeln der Serie geben werde. Vermutlich gingen die „Paper Girls“ in der fetten Marketing-Kampagne zu „The Lord of the Rings: The Rings of Power“ einfach unter. Ein wenig Hoffnung besteht noch, dass das co-produzierende Studio „Legendary Television“ einen anderen Streaming-Dienst findet, der die verrückte Zeitreise fortsetzen möchte. Mit Kindern auf Fahrrädern in den 80er Jahren kann man in Büchern und Filmen ja eigentlich nie etwas falsch machen.

„Paper Girls“ hebt diese einfache Formel auf ein geniales neues Level: Es ist eine intelligente, herrlich komische, feministische und sehr unterhaltsame Coming-of-Age-Geschichte, die deutlich macht, wie schön die Kindheit sein könnte, wenn nicht die Erwachsenenwelt ständig in sie hineinbräche. Unbedingt lesen!

Brian K. Vaughan: Paper Girls 1, Cross Cult, Ludwigsburg, 2017, 144 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959811408
Brian K. Vaughan: Paper Girls 2, Cross Cult, Ludwigsburg, 2017, 144 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959814102
Brian K. Vaughan: Paper Girls 3, Cross Cult, Ludwigsburg, 2017, 144 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959815611
Brian K. Vaughan: Paper Girls 4, Cross Cult, Ludwigsburg, 2018, 144 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959817677
Brian K. Vaughan: Paper Girls 5, Cross Cult, Ludwigsburg, 2019, 152 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959818261
Brian K. Vaughan: Paper Girls 6, Cross Cult, Ludwigsburg, 2019, 128 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3959818261
Brian K. Vaughan: Paper Girls – die komplette Geschichte, Cross Cult, Ludwigsburg, 2022, 800 Seiten, gebunden, 99 Euro, ISBN 978-3966588720
Brian K. Vaughan: Paper Girls – die komplette Geschichte, Cross Cult, Ludwigsburg, 2022, 800 Seiten, Taschenbuch, 60 Euro, ISBN 978-3966589963

Das ganze Leben ist ein Spiel

Katzen haben sieben Leben, in England sogar neun. In Computerspielen hat man meist mindestens drei, manchmal sogar unendlich viele Leben. Wir Menschen aber verfügen sehr wahrscheinlich nur über ein einziges Leben. Wie soll man da nicht verzweifeln angesichts der Möglichkeiten, dieses eine Leben zu füllen und die richtigen Wege zu gehen?

In Gabrielle Zevins wundervollem neuen Roman „Morgen, morgen und wieder morgen“ begegnen wir zwei jungen Menschen, die dieser Diskrepanz zu begegnen versuchen. Und gleichzeitig ist dieses Buch vermutlich das tollste Buch, was je über Videogamer*innen geschrieben worden ist (und nicht etwa über Prokrastination, wie manche den Titel auch deuten).

Sadie Green ist elf Jahre alt, als sie Mitte der 1980er Jahre in Los Angeles im Flur eines Krankenhauses sitzt und darauf wartet, dass sie wieder in das Zimmer ihrer 13-jährigen Schwester darf, die an Leukämie erkrankt ist. Ein Pfleger erbarmt sich des Mädchens und bringt es in den Aufenthaltsraum der Station, wo Sadie auf den gleichaltrigen Sam Masur trifft, der gerade dabei ist, „Super Mario Brothers“ zu spielen. Sein linker Fuß steckt in einem Metallkäfig, und er kann sich nur auf Krücken bewegen. Sein Fuß ist siebenundzwanzigmal gebrochen, erzählt er Sadie. An diesem Nachmittag teilen sie sich die verfügbaren Leben von „Super Mario“. Es ist der Beginn einer Kinderfreundschaft, die durch ein Missverständnis ein jähes Ende nimmt.

Ein scheinbar belangloses Wiedersehen

Als Sam 21 Jahre alt ist, studiert er in Cambridge und trifft eines Tages wieder auf Sadie, die, wie er weiß, dort ebenfalls studiert. Es ist ein scheinbar belangloses Wiedersehen, das jedoch durch den Austausch einer 3,25-Zoll-Diskette die alte Freundschaft zunächst zögerlich, dann mit einigem Esprit wiederbelebt. Denn beide sind immer noch begeistert von Computerspielen aller Art. Sie kennen sich nicht nur hervorragend aus, sondern Sadie schreibt bereits ihre ersten, kleinen Computerspiele. Sie beginnen, ihre gegenseitigen Talente nicht nur einfach zu begreifen, sondern auch auch als lohnenswert zu begreifen, vor allem dann, wenn man sie vereint. Gemeinsam erschaffen sie ein Spiel namens „Ichigo“, in dem ein Kind den Weg nach Hause finden muss.

Das wiederum ist geradezu ein Kunstgriff der Autorin, denn auch wenn sich der Roman im Zentrum um die beiden Freunde herumentwickelt, so ist es eigentlich ein Roman über jeweils ein Kind, Sadie und Sam, das den Weg nach Hause finden muss. Und wie es in Spielen Nebenquests gibt und Monster und Fallen und Gegner, so haben Sadie und Sam im echten Leben auch Nebenaufgaben zu bewältigen, Monster zu bekämpfen, Fallen auszuweichen und Gegner (mund)tot zu machen. Und wie ein Spieler bestenfalls von seinem Spiel gefesselt ist, so werden Sie als Leser*in von diesem Roman gefesselt sein, weil Ihnen die beiden (Spiel-)Figuren Sadie und Sam so derbe ans Herzen wachsen.

Zevin erzählt anspruchsvoll, sprachlich treffend

Auch die Nebenfiguren des Romans sind hervorragend besetzt. Da ist zum Beispiel Sadies Professor Dov, ein cholerischer Typ, der von seinen Student*innen gefürchtet wird, aber Sadies Potenzial in der Spieleentwicklung entdeckt. Über den Verlauf des Buches lernen wir ihn als zweigesichtigen Menschen kennen, der vor allem zunehmend toxisch wird. Dann ist da noch Marx, Sams Mitbewohner zu College-Zeiten, der Sam liebt wie einen Bruder, dass es zu Tränen rührt. Zevin erzählt ihren Roman anspruchsvoll, sprachlich treffend, aber unaufgeregt, was die Leser*innen in gefährlicher Sicherheit wiegt, denn dieses Buch ist wie eine Achterbahnfahrt im Dunkeln, und so sehen wir schreckliche Dinge erst dann, wenn sie schon direkt vor uns liegen und die Achterbahn nicht mehr zu bremsen ist.

Gabrielle Zevin ist in Deutschland relativ unbekannt. Auf Deutsch erschien von ihr unter anderem „Die Widerspenstigkeit des Glücks“ (2016), das von einem Buchladen handelt, sowie ihr Debüt „Anderswo“, das vom Time-Magazine als eines der „100 besten Bücher für junge Erwachsene aller Zeiten“ gelobt wurde. Die deutsche Übersetzung ist leider vergriffen. Zevin wurde in New York als Tochter einer koreanischen Mutter und eines jüdisch-amerikanischen Vaters geboren, die beide in der IT-Branche gearbeitet haben. Wie Sadie und Sam hat auch ihre Autorin in Cambridge studiert.

Wer in den 1980er und 1990er Jahren jung war, kann an diesem Buch eigentlich nicht vorbei, denn es erzählt so wundervoll davon, wie Videospiele wie „Pac-Man“ und „Maniac Manson“ und „Super Mario“ und all die anderen eine ganze Generation geprägt haben. Es erzählt von Freundschaft und Liebe und von dem ganzen Spiel des Lebens, in dem wir alle daran arbeiten, unseren Weg zu finden.

Gabrielle Zevin: Morgen, morgen und wieder morgen, Eichborn-Verlag, Köln, 2023, 560 Seiten, gebunden, 25 Euro, ISBN 978-3847901297, Leseprobe

Seitengang dankt dem Eichborn-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.