Die Rädchen im System

Rund sechs Jahre ist es her, dass Dave Eggers‘ Roman „Der Circle“ auf Deutsch erschien. Im Mittelpunkt des Romans stand die Internetfirma „The Circle“, deren Ziel es ist, die Anonymität im Netz zu beseitigen und umfassende Transparenz, Überwachung und soziale Kontrolle zu schaffen. Jetzt hat der US-Amerikaner Rob Hart mit „Der Store“ einen dystopischen Roman geschrieben, der erneut einen großen Online-Riesen zum Vorbild hat. Bei Eggers war es Google, beim „Store“ dürfte es Amazon sein. Der Unterschied: Das Medienecho in Deutschland ist bei Hart ungleich kleiner, dabei ist „Der Store“ wesentlich nachvollziehbarer, aktueller und vor allem stilistisch besser gelungen.

Im Roman von Rob Hart heißt der weltgrößte Onlinehändler nicht Amazon, sondern Cloud. Bestellen kann man aber auch dort wirklich alles: Bratensaftspritzen, Bücher, Katzenfutter, Kunstfellpantoffeln, Filzstifte, Selfie-Sticks, Baumscheren, Kokosnussöl, Fernseher, Eiweißpulver oder Knopfbatterien. Geliefert wird die Ware überallhin. Hinter dem knallhart kalkulierenden Wirtschaftsunternehmen Cloud steht Firmengründer Gibson Wells, mit einem Vermögen von 304,9 Milliarden Dollar der reichste Mensch in Amerika und der viertreichste der Welt. By the way: Amazon-Chef Jeff Bezos besitzt „nur“ 100 Milliarden Dollar (Stand: November 2019).

Doch Gibson Wells ist an Krebs erkrankt und hat nicht mehr lange zu leben. Während er mit seiner Frau die von der Außenwelt hermetisch abgeriegelten, MotherCloud genannten Standorte des Konzerns abklappert, lernen sich in einem von ihnen Paxton und Zinnia kennen. Beide wollen einen der begehrten Jobs bei Cloud, jedoch aus unterschiedlichen Motiven.

Harter Boden des Ruins

Paxton ist ein Opfer von Cloud. Das Unternehmen hat das von ihm  entwickelte Produkt in den Warenbestand aufgenommen, dann aber immer mehr Rabatt gefordert. Der wurde schließlich so immens, dass Paxton keinen Gewinn mehr erzielen konnte. Als er sich weigerte, auf die Forderung einzugehen, kappte Cloud die Geschäftsverbindung, und Paxton krachte auf den harten Boden des Ruins. Welche Motive die undurchsichtige Zinnia antreiben, erfährt der Leser erst später. Doch auch wenn Zinnia die Revoluzzerin von beiden ist, hat auch sie nicht damit gerechnet, wie weit Cloud gehen würde, um das Unternehmen zu schützen.

An die Nieren gehen vor allem die Szenen, in denen man ihren Arbeitsalltag im Warendepot verfolgt. Zinnia ist dafür verantwortlich, durch eine Halle zu laufen — die so groß ist, dass sie sogar eine Horizontlinie hat —, die angeforderte Ware durch Klettern aus mehrstöckigen Regalen zu holen und auf die Förderbänder zu legen. Im Akkord. Neun Stunden lang. Jede Sekunde zählt, denn der Kunde draußen im Land wartet am nächsten Tag auf seine Lieferung.

Ein Stern bedeutet die sofortige Kündigung

Das CloudBand, das jeder Mitarbeiter am Handgelenk trägt, misst nicht nur die Herzfrequenz, öffnet Türen und dient als mobile Kreditkarte, sondern weist auch den Weg und — registriert die Arbeitsleistung. „Grün heißt, dass du das Soll erfüllst. Wenn du hinterherhinkst, wird die Linie gelb, und sobald sie rot wird, stürzt dein Ranking ab. Pass also auf, dass es gar nicht erst dazu kommt“, lautet der Rat eines Kollegen. Das Ranking wird in fünf Sterne unterteilt. Fünf ist das Optimum, einer bedeutet die sofortige Kündigung. „Und wollen wir nicht alle jemand mit fünf Sternen sein?“

Im Kapitel „Alltagstrott“ sind Zinnia und Paxton zu den indoktrinierten Rädchen im System geworden, die Cloud am Laufen halten. Entsprechend kurz sind die Unterkapitel: „Zinnia wachte auf. Arbeitete. Schlief ein.“ Nächstes Kapitel: „Paxton wachte auf. Arbeitete. Schlief ein.“ Sie stecken fest im Hamsterrad, auch wenn Cloud ihnen vorgaukelt, es sei eine Karriereleiter.

Jeder Mitarbeiter wohnt und arbeitet auf dem Cloud-Gelände. Die Wohnungen sind kleine, mehr oder minder praktisch eingerichtete „Zellen“. Wer viel leistet, kann sich größere Unterkünfte verdienen, aufsteigen, Manager werden. Alles ist streng hierarchisch geregelt. Gewerkschaften gibt es nicht, und man sollte das Wort nicht mal laut aussprechen.

Unternehmen nutzen ihre Machtstellung aus

„Der Store“ ist kein modernes „1984“, kein utopischer Roman über eine übermächtige Regierung, sondern eine ziemlich wirklichkeitsnahe Dystopie über ein übermächtiges Wirtschaftsunternehmen. Unternehmen wie Google, Amazon, Facebook, Apple oder auch Ikea machen Milliarden-Gewinne, zahlen darauf aber kaum Steuern. Sie nutzen ihre Machtstellung aus, auch gegenüber Staaten und Regierungen, während auf der anderen Seite der Einzelhandel den Bach runtergeht. Wie es in Amazon-Logistiklagern zugeht, darüber hat etwa Nina Scholz für das Online-Magazin Vice berichtet. Die Unterzeile des Artikels lautet: „Kollegen werden abgemahnt, weil sie 16 Sekunden zu früh in die Mittagspause gegangen sind. Solche Dinge passieren täglich.“ Dasselbe würde Zinnia wohl auch über Cloud sagen.

Rob Hart, der früher als politischer Journalist und Kommunikationsmanager für Politiker und im öffentlichen Dienst der Stadt New York gearbeitet hat, sagt selbst: „Ich glaube, wir müssen alle gründlich überdenken, wie wir konsumieren. Vielleicht muss nicht immer alles erhältlich sein, vielleicht brauchen wir keine Zustellung in zwei Tagen, vielleicht brauchen wir keine Handys für 1.000 Dollar. Aber vielleicht ist dieses System auch einfach so unglaublich groß, vielleicht sind wir so tief darin verwurzelt, vielleicht gibt es kein Entkommen.“ Hart, so viel darf man verraten, gibt auch in und mit seinem Roman keine Antwort darauf.

Regisseur hat sich die Filmrechte gesichert

Dass „Der Store“ hervorragender Stoff fürs Kino ist, ist kaum von der Hand zu weisen. „Der Circle“ ist mit Emma Watson und Tom Hanks verfilmt worden. Und auch den „Store“ werden wir wohl bald im Kino sehen können, denn Star-Wars-Regisseur Ron Howard hat sich bereits die Filmrechte gesichert.

„Der Circle“, „Der Store“: Dass der deutsche Titel den englischen Begriff verwendet, ist folgerichtig. Im Original heißt Harts Roman „The Warehouse“ („Das Warenhaus“), aber niemand in Deutschland würde sagen: „Ich habe das im Warenhaus gekauft.“ Wir gehen shoppen, bevorzugt im Sale oder im Outlet, wir haben Meetings, trinken Coffee to go, und unsere Eltern hatten schon zu Studentenzeiten Sit-ins. Moderne, trendbewusste Menschen würden also auch im „Store“ einkaufen. Was sie damit anrichten, können sie in diesem spannenden, hochaktuellen und intelligenten Roman lesen. Wir alle sind Rädchen in diesem System, das die Cloud am Laufen hält. Wir alle.

Rob Hart: Der Store, Heyne Verlag, München, 2019, 592 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3453272309, Leseprobe

Buch Wien 2013 – Das Fazit

DSC_0291Vor einer Woche schlossen sich die Tore der sechsten Internationalen Buchmesse „Buch Wien“ endgültig. Laut Veranstalter besuchten rund 34.000 Literaturinteressierte die Buchmesse und die begleitende Lesefestwoche. Flächenmäßig war die Messe auf 8.800 Quadratmeter gewachsen und bot mit 330 Ausstellern aus zehn Nationen und mehr als 400 Veranstaltungen ein breites Programm für Bücherfreunde.

Die Eröffnungsrednerin Sibylle Lewitscharoff hielt in ihrer Rede ein viel beachtetes Plädoyer für das gedruckte Buch und wetterte gegen den Online-Versandhändler Amazon und die Aufweichung des Urheberrechts:

„Ebenso katastrophal (…) sind tumbe neue politische Gruppierungen, deren oberstes Ziel es ist, die Urheberrechte zu schleifen und gleich alles kostenlos ins Netz zu stellen. Wir leben nun einmal in einer Gesellschaft, die ihre Anerkennung dadurch ausdrückt, dass für eine Leistung bezahlt werden muss. Dass es dabei oft eklatant ungerecht zugeht, ist klar. Aber es ist völlig unverantwortlich, von einzelnen Branchen zu fordern, dass in ihnen künftig unbezahlt gearbeitet werden soll.“

Die vollständige Eröffnungsrede ist hier abrufbar.

Für Andrang bei den Messebühnen und volle Säle bei den Abendveranstaltungen sorgten vor allem österreichische, aber auch internationale Autoren wie Leon de Winter, Per Olov Enquist, Viktor Jerofejew, Tanja Maljartschuk und Mahmud Doulatabadi. Aus Deutschland kamen unter anderem Ferdinand von Schirach, der mit seinem neuen Roman „Tabu“ die Lesefestwoche eröffnete, Brigitte Kronauer und Clemens Meyer.

Die österreichische Literaturszene war mit Peter Henisch, Austrofred und Michael Stavarič prominent vertreten, die Schweiz mit Peter Stamm. Ganz besonders genossen habe ich die Lesung von Nadine Kegele, der Publikumspreisträgerin des diesjährigen Bachmann-Preis-Wettbewerbs, die für mich eine Entdeckung war.

Dass die Buch Wien jedoch noch am Anfang einer Messe-Karriere steht, merkt man an einigen kleinen Stellen. Zwar gibt es ein gedrucktes Programmheft, das kostenlos ausliegt, es fehlt darin aber ein Autoren- und Ausstellerverzeichnis. Das Ausstellerverzeichnis gibt es extra als Faltplan, ist aber nicht in das Programmheft integriert. Außerdem fehlen im Programmheft leider Hinweise auf die Termine an den einzelnen Messeständen. Das ist etwa bei der Leipziger Buchmesse besser gelöst.

Es fällt außerdem auf, dass die Verlage bei Facebook und anderen sozialen Netzwerken zu wenig Werbung machen für die Buch Wien. Auch das ist bei den großen Messen in Leipzig und Frankfurt anders. Trotzdem ist auch die Buch Wien eine Messe, die sich zu besuchen lohnt. Sie ist klein, familiär und überschaubar. Und gerade das macht sie so interessant. An den Messeständen und bei den Lesungen kommen Leser, Autoren und Verlagsmitarbeiter ins Gespräch. Ein Gang über die Messe artet nicht in Stress und Geschiebe aus, sondern sorgt für einen guten Einblick in die aktuelle Buchlandschaft. Ich bin gespannt, wie sich die Messe in den nächsten Jahren weiterentwickelt.

Die nächste Gelegenheit, die Buch Wien zu besuchen, gibt es vom 13. bis 16. November 2014. Ob Seitengang daran teilnehmen kann, ist allerdings noch nicht klar. Alle Berichte von der Buch Wien sind hier nachzulesen.

Buch Wien: Lewitscharoff wettert gegen Amazon

DSC_0197Die internationale Buchmesse „Buch Wien“ ist eröffnet. Am Mittwochabend nutzte die Eröffnungsrednerin Sibylle Lewitscharoff die Gelegenheit, neben ihrem angekündigten Beitrag über die Zukunft des Lesens auch gegen das Online-Versandhaus Amazon zu wettern: „Wenn ich eine Firma hasse, dann Amazon!“

Die frisch gekürte Georg-Büchner-Preisträgerin fand scharfe Worte gegen den aggressiven Online-Händler: „Amazon bezahlt keine Steuern in den Ländern, in denen dieser widerliche Club eine Menge Geld verdient. Er bezahlt seine Angestellten empörend schlecht, ruiniert die Buchhändler und zunehmend auch die Verlage.“

Sie selbst habe zuletzt notgedrungen bei Amazon bestellen müssen, weil es in ihrem Stadtteil von Rom, wo sie derzeit als Stipendiatin der Villa Massimo wohnt, erschreckenderweise keine Buchhandlung mehr gebe und auch kein anderer Händler in Rom das Buch habe beschaffen können. Das sei eine ziemlich scheußliche Welt, sagte Lewitscharoff.

„Mit einem Jubelruf auf den Lippen ins Grab“

„Sollte es mir vergönnt sein, den Tod dieser verhassten Firma zu erleben, sinke ich mit einem Jubelruf auf den Lippen ins Grab“, erklärte sie weiter. Viel Hoffnung aber habe sie nicht.

Lewitscharoff bekannte sich offen und frenetisch dazu, Bücher zu lesen, und zwar solche, die zwischen zwei Buchdeckeln zu finden sind: „Ein Buch ist wie eine Schatulle.“ Das eBook jedoch werde wohl auch nicht so schnell wieder vom Markt verschwinden. „An diese Art des Lesens werde ich mich aber nie gewöhnen können.“ Zu flüchtig sei sie, zu „verschwindibushaft“.

„Ein Buch zu lesen, das ist ein ganz anderer Vorgang, als einen elektronischen Text auf ein Gerät aufzuladen.“ Man öffne ein Buch, schließe es und fühle die Seiten beim Umblättern. „Elektronische Texte rauschen bei mir durch, bei Büchern weiß ich oft noch nach Jahren, wo ich bestimmte Stellen suchen muss und vor allem auf welcher Höhe einer Seite.“

„Sie leben in einem literaturgesegneten Land“

Über die Zukunft des Buches redet Lewitscharoff allerdings nicht so gern wie über die Vergangenheit. An die Österreicher gerichtet sagte sie: „Sie leben in einem literaturgesegneten Land.“ Das 20. Jahrhundert der deutschsprachigen Literatur gehöre ganz den Österreichern. Und sie zählte all jene österreichischen Schriftsteller auf, die ihr „Herz hüpfen lassen“, darunter Musil und Doderer.

Lewitscharoff sprach erfrischend offen über ihre Lesegewohnheiten. Eine Nachtleserin sei sie, niemals eine Tagesleserin. „Bett oder Sofa sind die idealen Unterlagen für den Körper.“ Sie habe sich eine innere Familie angelegt, zu der einige Personen der Literatur gehören. „Vielleicht habe ich mir diese innere Familie erschaffen, weil ich mit meiner eigenen Familie unzufrieden war.“

An Büchern schätzt Lewitscharoff, dass „wir unendlich viele Menschen kennenlernen, ja, sogar in ihren Gedanken sein können.“ Manchmal würde sie gerne mit den Figuren schwätzen, auch wenn sie das Buch schon zu Ende gelesen hat. „Aber ich scheue mich davor, in der Öffentlichkeit zu sein und die Lippen zu bewegen.“ Ihr Ein und Alles, das ist bekannt, ist Franz Kafka. Immer wieder spricht sie davon, dass sie ein inniges Verhältnis zu ihm habe. Mit seinen Figuren aber ließen sich keine Gespräche fortführen.

„Ich glaube an die Zukunft des Buches“

Zum Schluss ihrer beeindruckenden Rede kehrte sie von der Vergangenheit zur Zukunft zurück. Mit Nachdruck sagte sie: „Ich glaube an die Zukunft des Buches zwischen zwei Deckeln und werde weiterhin Bücher bei Buchhändlern kaufen.“

Zuvor hatte schon Claudia Schmied, österreichische Bundesministerin für Unterricht, Kunst und Kultur, das Versprechen abgegeben, wieder mehr Bücher zu kaufen. „Ich freue mich, dass ich bald wieder mehr Zeit zum Lesen habe.“ Ende September hatte sie nach fast siebenjähriger Amtszeit den Rückzug aus der Politik angekündigt.

Schmied hat in allen sechs Jahren die „Buch Wien“ eröffnet und stets sehr bewusst unterstützt. Am Abend sagte sie zum letzten Mal als Bundesministerin die Worte: „Die Buch Wien 2013 ist eröffnet.“

Mehr als 300 Autoren zu Gast

Von Donnerstag bis Sonntag sind mehr als 300 Autorinnen und Autoren auf der größten österreichischen Lesemesse zu Gast. Mit rund 8.800 Quadratmetern Ausstellungsfläche ist die „Buch Wien“ im sechsten Jahr ihres Bestehens erneut gewachsen und stößt jetzt an die Grenzen der belegten Halle D.

In der Größe vergleichbar mit der Leipziger oder gar der Frankfurter Buchmesse ist sie indes nicht. Wesentlich kleiner kommt sie daher, wirkt dadurch aber auch familiärer.

Das vollständige Programm ist hier abrufbar. Der Text der Eröffnungsrede von Sibylle Lewitscharoff ist hier nachzulesen.

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