Erwachsenwerden, der blanke Horror

Black HoleEs ist ein kleiner Horrortrip durch die Adoleszenz, gezeichnet in beeindruckenden Schwarz-Weiß-Bildern: Vier Heranwachsende stecken sich in den 70er Jahren mit einer sexuell übertragenen Krankheit an, die sie mutieren lässt und groteske Deformationen zur Folge hat. Charles Burns‘ düstere Graphic Novel „Black Hole“ ist zurecht bereits zum Klassiker der Neunten Kunst avanciert und soll jetzt von David Fincher verfilmt werden.

Das Buch spielt in den wilden 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. In einem Vorort von Seattle grassiert eine mysteriöse Krankheit, die sich „Teenager-Pest“ oder „Der Bazillus“ nennt. Die Erkrankten mutieren in unterschiedlichsten Formen, manche nur wenig, andere bizarr. Doch wer immer mit der „Teenager-Pest“ infiziert ist, verändert sich: „Einige erwischte es nicht so schwer – ein paar Beulen, ein hässlicher Ausschlag… andere verwandelten sich in Monster oder bildeten neuer Körperteile…“ Die Mutationen lassen sich nur selten verstecken, und so müssen sich die Erkrankten mit ihrem neuen Aussehen arrangieren, oder sie stürzen in eine tiefe Identitätskrise.

Der Leser folgt der Geschichte von vier Charakteren: Chris, Rob, Keith und Eliza. Keith ist in die etwas naive Chris verliebt, die jedoch nichts von ihrem Verehrer ahnt und ihrerseits für den Schulschwarm Rob in tiefer Zuneigung entbrannt ist. Bei einer Party kommen die beiden sich näher und geraten bei der Suche nach einem ungestörten Fleck auf einen Friedhof, wo sie zum ersten Mal zusammen Sex haben. Doch Rob ist bereits mit der „Teenager-Pest“ infiziert und steckt wegen eines Missverständnisses zwischen den beiden nun auch Chris an. Wenig später wird Chris zu den Erkrankten gehören, die sich häuten wie eine Schlange. Rob dagegen hat einen kleinen zweiten Mund am Hals, der redet und Geräusche macht.

Ein Schwanz, der sich bewegt

Zur selben Zeit gerät Keith beim Drogenkauf mit Freunden in ein Haus, wo er der betörenden Eliza begegnet. Auch sie ist infiziert: Ihr ist ein kleiner Schwanz gewachsen, der sich bewegt. Keith jedoch scheint entweder unwissend oder unbedarft zu sein, denn er macht keine Anstalten, Eliza darauf anzusprechen. Als die beiden Sex haben, steckt sie Keith an. Ihn befällt die Krankheit glücklicherweise nur mit kleinen Hautveränderungen, die Kaulquappen ähneln. Andere Teenager trifft es härter: Mit entstellten Gesichtern werden sie von der Gesellschaft ausgeschlossen. In den Wäldern außerhalb der Stadt bauen sie ein Outsider-Camp auf. Doch auch dort treibt der Horror sein böses Spiel mit den Ausgestoßenen.

„Black Hole“ erschien 1995 in den USA nach mehr als zehnjähriger Arbeit in einer Serie von 12 Ausgaben. Im Jahr 2011 veröffentlichte der deutsche Reprodukt-Verlag das Werk in einer übersetzten Gesamtausgabe. Es ist Burns‘ Opus Magnum, rund 400 Seiten stark. Inzwischen gilt der US-amerikanische Zeichner als einer der einflussreichsten Comic-Macher der neuen Generation, die Tiefgründigkeit und Ästhetik vereinen. Schon deshalb ist „Black Hole“ kein bloßer Sex-, Drogen- und Horror-Comic. „Black Hole“ ist anspruchsvolle Kunst, die betrachtet und gelesen werden sollte.

Burns schafft mit seinen Schwarz-Weiß-Bildern eine kontrastreiche und ganz eigentümliche Atmosphäre, einen Film Noir in Comic-Form. Dem titelgebenden schwarzen Loch meint man deshalb in jeder Zeichnung zu begegnen. Gleich zu Beginn drängt sich ein Loch-Quartett auf: ein sezierter Frosch, ein Schnitt in einer Fußsohle, die Rückenansicht eines sich häutenden Menschen und eine mit einer Hand bedeckte Vulva. Die sexuellen Anspielungen sind nicht immer unbedingt subtil, aber in der Adoleszenz erwacht das sexuelle Interesse oft auch nicht besonders rücksichtsvoll. Die Idee, die Zeit des Erwachsenwerdens und Heranreifens mit all seinen physischen und psychischen Entwicklungen als Krankheit darzustellen, ist schlichtweg grandios gelungen.

Eine Metapher für Aids?

Ist die Geschlechtskrankheit in „Black Hole“ auch eine Metapher für Aids? Charles Burns verneint diese Frage jedes Mal, wenn sie ihm gestellt wird. Die Mutationen sollen die Veränderung des Körpers beim Heranwachsen und die Ängste beim Finden der eigenen Identität versinnbildlichen, nicht aber auf Aids anspielen. Das wird beim Lesen dieser grausigen und doch bestechend berührenden Geschichte auch schnell deutlich.

Vielleicht verhilft die Verfilmung durch David Fincher dem Buch zu einer größeren Aufmerksamkeit. Das ist Charles Burns zu wünschen. Eine erste sehenswerte Kurz-Verfilmung hat der britische Regisseur Rupert Sanders auf seiner Webseite veröffentlicht. Und das Buch? Da gibt es nur eine Antwort: Lesen!

Charles Burns: Black Hole, Reprodukt Verlag, Berlin, 2011, 368 Seiten, schwarzweiß, Klappenbroschur, 24 Euro, ISBN 978-3941099753, Leseprobe (vergriffen)

Charles Burns: Black Hole, Reprodukt Verlag, Berlin, 2016, 368 Seiten, schwarzweiß, Klappenbroschur, 29 Euro, ISBN 978-3941099753 (Neuauflage im Februar 2016)

Vom Vögeln statt Lieben

Maria RosenblattSex spielt in dem neuen Roman von Corinna T. Sievers eine wichtige Rolle. Maria Rosenblatt, die herrische Chefin in einem männerdominierten Kommissariat der Stadtpolizei in Zürich, ermittelt in mehreren Fällen von Kinderpornografie, die sie an ihre Belastungsgrenze bringen. Sie selbst ist süchtig nach Sex und Liebe, ihr Ehemann aber hat zum letzten Mal mit ihr geschlafen, als sie vor fünf Jahren die zweite Tochter zeugten. Was also tun? Der Roman ist offen und direkt: Es wird gefickt und gelitten in diesem wirklich lesenswerten, harten Psychogramm einer starken Frauengestalt. Männer sind hier nur Kretins.

Maria Rosenblatt ist 45 Jahre alt und steckt in einer Ehe, bei der Mann und Frau mehr Lebenspartner als Sexualpartner sind. Auch die Kommunikation ist auf der Strecke geblieben. Geäußert wird nur noch ein verwässertes Etwas der Essenz. Maria rackert sich ab, beruflich wie privat, sendet hoffnungsvoll Signale eines noch nicht erkalteten Interesses an ihrem Mann und ihrer Ehe und erntet doch nur Vorwürfe, sie kümmere sich nicht ausreichend um die Kinder.

Auch in ihrem aktuellen Fall geht es um Kinder. Unbekannte Täter fotografieren tote Kinder in pornografischer Art und Weise. Durch Zufall wird ein Handy mit entsprechenden Bildern gefunden, die offenbar per MMS verschickt worden sind, von Prepaidhandy zu Prepaidhandy, nicht nachzuverfolgen. Die Bilder in der Akte, vor Augen und im Kopf belasten nicht nur Maria, sondern gehen auch dem Leser an die Nieren.

Als Frau männlich sein

Die Ermittlungen sind zäh. Dabei ist es nicht hilfreich, dass Maria auch im Kommissariat an verschiedenen Fronten kämpfen muss. Im Grunde muss sie als Frau männlich sein, schroff, herrisch, streng. Um für die Männer nicht nur eine Frau, sondern die Vorgesetzte zu sein.

Sie ist genervt von einem Kollegen, der sich in ihrer Gegenwart ungeniert zwischen die Beine fasst. Ein anderer, Detlef, war einst ihr Liebhaber. Er behauptet, seitdem nur noch blonde Frauen vögeln zu können. Zu vögeln, nicht zu lieben. Sie hatte ihn damals verlassen, weil er nicht fähig war, ihr beim Sex schmutzige Worte ins Gesicht zu sagen. Darauf steht sie: Dirty Talk. Stattdessen war er ihr hörig.

In den Armen des neuen, ihr vorgesetzten Staatsanwalts findet sie einen Zufluchtsort, zwischen seinen Beinen einen Zu-Ficken-Ort. Es ist die Flucht vor der totalen Erschöpfung. Beim Steinmetz am See bestellt sie ihren eigenen Grabstein. Sie zahlt ihn an, doch am nächsten Tag storniert sie den Auftrag. „Abends im Bett hatte sie Hannes gefragt, ob es ihm auch so ginge, dass er die Toten um ihre Ruhe beneide.“ Ruhe. Mitunter findet sie die, wenn sie am See steht, ein wenig abseits der Autostraße in die Stadt. Ansonsten betäubt sie sich mit Alkohol.

Klare, sehr nüchterne Wortwahl

Die Figur der Maria Rosenblatt ist keine Sympathieträgerin. Doch gerade das ist einer der wichtigsten Aspekte des neuen Romans der Ärztin und Autorin Corinna T. Sievers. Einer netten, zuvorkommenden Frau nähme man die Geschichte nicht ab. Sie muss also eine harte, toughe Frau sein, wild und schamlos. Das Buch steht ihr in nichts nach. Es ist ein kurzer, nur rund 140 Seiten umfassender Kanten, der sich mit Wucht ins Gehirn hämmert. Hier wird nichts beschönigt. In klarer, sehr nüchterner Wortwahl beschreibt Sievers den atemlosen Kampf dieser Frau.

In einem Interview mit der in Bielefeld erscheinenden Tageszeitung Neue Westfälische erklärte Sievers eine der Intentionen ihres Buches: „Ich verstehe mein Buch (…) auch als Hilfeschrei einer Ärztin, die in ihrer Profession fast immer nur von Männern umgeben ist, die oftmals nicht trennen können zwischen dem Erotischen und dem Intellektuellen, wenn sie einer Frau begegnen.“

Der Roman ist wahrlich kein freudiges Leseerlebnis. Und dennoch ist es ganz und gar lesenswert. Ein ernsthaftes, wichtiges Buch.

Corinna T. Sievers: Maria Rosenblatt, Verlag Lutz Schulenburg (Edition Nautilus), Hamburg, 2013, 143 Seiten, gebunden, 16 Euro, ISBN 978-3894017798, Leseprobe

Totgesagte leben länger

The Beat Goes OnIhr Rocker, Ihr Popper! Ihr Musikfetischisten da draußen! Aufgemerkt – dies ist Euer Buch, Euer Kalender und täglicher Begleiter im Jahr 2014: „The Beat Goes On“. Ihr meint, Sonny & Cher können Euch gestohlen bleiben? Aber niemals dieses Buch: Das „Kalendarium toter Musiker“ erinnert kongenial an 1.962 verstorbene Musiker. Und das Ganze ist auch noch herrlich anzuschauen.

Heutzutage notieren viele Menschen ihre Termine in ihrem Smartphone oder Internet-Kalender, damit sie weltweit darauf Zugriff haben und gar elektronisch an Omas Geburtstag oder den Hochzeitstag erinnert werden können. All jene, die noch Taschenkalender führen, werden dagegen jedes Jahr ab Juli mit einer Fülle von neuen Schrecklichkeiten zum Kauf angeregt, damit Tägliches vermerkt werden kann.

Zum siebten Mal aber gibt die Berliner Edition Observatör das „Kalendarium toter Musiker“ heraus und schafft damit erneut einen Kontrapunkt auf dem Markt der Taschenkalender. Bislang gelang ihr das jedoch nur für absolute Kenner. Doch jetzt konnte erstmalig Suhrkamp als Verleger für das Projekt gewonnen werden. Den Herausgebern ist zu wünschen, dass sie damit auch einem breiteren Publikum von Musikliebhabern und Vinylhörern bekannt werden.

Mit Liebe und Bedacht gefertigt

Äußerlich erinnert das Kalendarium mit seinem Leineneinband, dem Lesebändchen und den goldgeprägten Kreuzen auf dem Vorderdeckel eher an ein kirchliches Gesangbuch, wäre da nicht der kleine Grabstein auf der Rückseite. Das ist mit Liebe und Bedacht gefertigt. Im Vorwort erklären die Herausgeber die Spielregeln: Der Kalender solle als solcher benutzt werden, darüber hinaus sei er aber auch ein Nachschlagewerk. Aufgenommen werden nur Künstler, die nach 1945 gestorben sind. „Alles ist streng subjektiv, Kritik daher nutzlos.“ Wer will auch dieses Kleinod kritisieren? Und dann sehr deutlich: „Elvis ist der KING.“

Dass dem King of Rock’n’Roll derart und sogar in Versalien gehuldigt wird, wurde bereits in der ersten Ausgabe (2007) erklärt. Damals schrieb Stefan Hauser im Vorwort: „Nachdem wir zum dritten Mal in Folge den Todestag des KING vergessen hatten, reichte es meinem Freund Milan.“ Er machte sich mit den übrigen Herausgebern der Edition Observatör daran, all jene gestorbenen Musiker mitsamt ihren Todesursachen zu sammeln. Daraus entstand „The Beat Goes On“ (2008).

Und auch in der aktuellen Ausgabe sind wieder bekannte und weniger bekannte Musiker versammelt, die der Tod schon dahingerafft hat. Ihre Namen stehen als Fußnoten unter den freien Linien der Kalendertage. Isaak Hayes etwa, der am 10. August 2008 an einem Schlaganfall starb. Tot aufgefunden wurde er neben seinem Laufband. Oder aber der eher unbekanntere Monti Lüftner, der Whitney Houston entdeckte. Ihn erwischte es am 7. Mai 2009: Als er auf einem Recyclinghof Müll wegbrachte, wurde er von einem 18-Tonner überrollt. Oder auch Joseph Brooks, der „den meistverkauften Song der Siebziger geschrieben hatte“ („You light up my life“): Er wurde am 22. Mai 2011 mit einer Plastiktüte über dem Kopf tot aufgefunden. Zuvor war bekannt geworden, dass er jahrelang Frauen vergewaltigt hatte.

Sehr persönliche Rühmung

Die Herausgeber und Autoren sind eifrige Chronisten. Doch sie betätigen sich auch als Schreiber von Hommagen. Jeder Woche ist der „Death of the Week“ vorangestellt. Das mag zynisch klingen, ist aber in den meisten Fällen eine sehr persönliche Rühmung eines vom jeweiligen Autor sehr geschätzten Musikers. Jefferson Chase zum Beispiel widmet sich in der 18. Kalenderwoche sehr eindrucksvoll dem englischen Lead-Gitarristen Mick Ronson, den er „Archetyp eines Lead-Gitarristen“ nennt. Abschließend verweist er auf ein YouTube-Video, das Ronson mit der „Ian Hunter Band“ im Rockpalast zeigt. Dazu die Empfehlung: „Unbedingt ansehen bzw. anhören bzw. anbeten.“ Ja, es ist anbetungswürdig, in der Tat. Danke für diesen bereichernden Hinweis! *)

Dass manch einer recht unfreiwillig und teilweise kurios aus dem Leben geschieden ist, zeigt dieses Werk auch. Die große Stärke dieses Buches ist, dass die Autoren stets respektvoll bleiben, so hanebüchen die Todesursache auch ist. Im Anhang gibt es nicht nur eine famos-morbide Statistik (an Krebs sterben die meisten, aber auch 34 werden erschossen, zwei überleben das Russische Roulette nicht, einer fällt von einer Brücke und wird vom Verkehr überrollt), sondern auch eine Aufzählung der musikalischen Lieblingsmordszenen der Redaktion und eine Auflistung der redaktionellen Inspirations- und Arbeitsquellen.

Das „The Beat Goes On“-Jahr 2014 beginnt schon am 30. Dezember. Lassen Sie sich darauf ein und folgen Sie den Empfehlungen der Redakteure. Dieses Buch lässt Sie nicht nur in Erinnerungen an Ihre eigenen musikalische Helden schwelgen, sondern auch neue entdecken. Sonny & Cher können Ihnen trotzdem gestohlen bleiben. Sonny ist ohnehin schon tot. Woran er starb? Lesen Sie das „Kalendarium toter Musiker“.

Edition Observatör (Hg.): The Beat Goes On – Kalendarium toter Musiker für das Jahr 2014, Suhrkamp Verlag, 2013, 496 Seiten, gebunden, Leinenband mit Goldprägung, abgerundeten Ecken und Lesebändchen, 14,95 Euro, ISBN 978-3518464564 (Einblicke ins Buch)

*) Diese Rezension wäre so nicht geschrieben worden, hätte Jefferson Chase nicht auf das YouTube-Video „Ian Hunter Band feat. Mick Ronson“ hingewiesen. Vielen Dank!

Panoptikum des Hochprozentigen

Das Ende der EnthaltsamkeitDas „Golem“ ist eine Bar am Hamburger Fischmarkt, eine vorübergehende Heimstatt für all jene Individuen, die Getränke mit feinen Ingredienzien meist alkoholischer Natur zu schätzen wissen und darüberhinaus eigenwillige Mixturen unterschiedlichster Musikeinflüsse tanzbar finden. Das „Golem“ ist ein Geheimtipp für die Bonvivants und Hedonisten dieser Welt. Das könnte sich ändern. Denn jetzt ist „Das Ende der Enthaltsamkeit“ erschienen. Ein Buch übers Bars, Cocktails, Selbstermächtigung und die Schönheit des Niedergangs, wie es im Untertitel heißt. Ein „Golem“-Buch für die „Golem“-Fanatikerinnen und -Liebhaber und solche, die dazu veranlagt sind.

Wer das „Golem“ betritt, sofern er überhaupt den Eingang findet, könnte meinen, Nick Charles müsse einst zum Stammpublikum gehört haben, dermaßen gekonnt werden dort alkoholische Getränke zubereitet. Nick Charles, Hauptfigur der „Dünne Mann“-Filme aus den 30er Jahren, erklärt in einer Szene von „The Thin Man“ (1934) einem Barkeeper: „The important thing is the rhythm. Always have rhythm in your shaking. Now, a Manhattan you shake to fox-trot time, a Bronx to two-step time, a dry martini you always shake to waltz time.“ (Deutsche Fassung: „Das Allerwichtigste beim Mixen ist der Rhythmus. Auf den müssen Sie unbedingt achten. Ein Manhattan wird selbstverständlich im Fox-Rhythmus gemixt. Und ein Bronx im Two-Step-Rhythmus. Und ein Dry Martini im langsamen Walzertempo.“)

Das Mixen müsste Nick Charles den Barkeepern im „Golem“ nicht mehr beibringen – das beherrschen sie. Nein, Nick Charles würde an der Bar lehnen, einen Dry Martini nach dem anderen trinken und in einem mysteriösen schwarzen Büchlein blättern, das man ihm verschwiegen zugeschoben hat. Ein Leineneinband mit Goldprägung, innen dann und wann illustriert, ein goldenes Lesebändchen zwischen den feinen Seiten.

So wahnwitzig und abgedreht

Es ist ein lesenswertes Panoptikum des Hochprozentigen, das Anselm Lenz, Mitbegründer und Hausdichter des „Golem“, und Betreiber Alvaro Rodrigo Piña Otey auf 270 Seiten versammelt haben. 21 Autorinnen und Autoren, viele von ihnen Gäste der Bar, sorgen mit ihren Beiträgen für mehr oder minder gehaltvolle Unterhaltung, ja, sogar Belehrung. Manches steigt zu Kopf, anderes ist so wahnwitzig und abgedreht, dass es nur im Alkoholrausch zu Papier gebracht worden sein kann. Im Präludium geben die Herausgeber zu bedenken, dass das „Buch als virulente Klolektüre verstanden werden“ will, „im besten Falle noch als Vademecum für Fragen abgehobener und in Schönheit bruchgelandeter Saufkultur“.

Nicht zu ernst nehmen also? Vielleicht. Distanzierte Neugier scheint angebracht, um nicht verschreckt das Büchlein wieder schließen zu müssen. Erwarten Sie nichts, aber lassen Sie sich darauf ein. Laden Sie Freunde zu einem Abend der Alkoholgenüsse, bieten Sie Rauchwaren an und lassen Sie reihum Auszüge aus dem Buch vortragen. Es wird Wirkung zeigen. Ob Heinz Strunk Trinker gegen Abstinenzler antreten lässt, Thomas Ebermann darüber nachdenkt, was Herbert Marcuse Ihnen wohl mitzuteilen hätte, verkehrten tatsächlich Hedonisten im „Golem“, „Tocotronic“-Sänger Dirk von Lowtzow den Song-Text von „Ich will für dich nüchtern bleiben“ beisteuert, der gute Tino Hanekamp einen „Selbstversuch ohne Saufen“ macht, der Künstler und Philosoph Fahim Amir sich dem Thema „Tiere und Alkohol“ widmet oder der Theaterregisseur Nis-Momme Stockmann vom „Prisma-Katapult (Lord der Einhörner)“ erzählt, lassen Sie sich bloß darauf ein!

Lassen Sie sich auch darauf ein, weil sie am Ende von sieben Zirkeln mit einem Appendix belohnt werden, der Ihnen nicht nur bei der Ausstattung und Einrichtung des heimischen Saufkabinetts behilflich sein will (sofern Sie über entsprechende Barmittel verfügen), sondern Sie auch in einige Cocktail-Rezepte des „Golem“ einweiht, die bisher argwöhnisch unter Verschluss gehalten worden sind. Den „Golem“-Fanatikerinnen und -Liebhabern sind die meisten der Rezept-Offenbarungen schon aus den Newslettern „Golem Cogitationes“ bekannt, die Anselm Lenz höchstselbst in regelmäßigen Abständen verfasst. Hier sind sie teilweise gekürzt, bearbeitet und erweitert worden, was sie nicht weniger erhellend macht.

„Was wären wir ohne den magischen Zaubertrank“

Ist das nun bedenklich, ein Buch zu empfehlen, das vom Alkohol handelt und die gepflegte Trinkkultur propagiert? Die Herausgeber versuchen im Präludium einen ersten Vorstoß: „Ist es nicht der Rausch, der kulturelle Höchstleistungen, allen Fortschritt und dazu die Liebe zuerst ermöglicht und bedingt? Was wären wir ohne den magischen Zaubertrank, der, zumindest für einen heidnischen Moment, geeignet ist, uns der rationalen Authentizität unserer beknackten, unbefriedigenden und letztlich doch auch immer nutzlosen Tätigkeit zu entheben?“ Ganz so einfach lassen sich Alkoholgegner aber wohl nicht überzeugen. Wie andere Genussmittel kann auch Alkohol zu einer Sucht führen.

Der Nutzen eines Buchs wie „Das Ende der Enthaltsamkeit“ lässt sich angesichts der Alkoholismusstatistiken nur schwer begründen. Allenfalls kann es dann noch als Kompendium herhalten, wozu Alkoholgenuss auch führen kann. Die Genießer recken das Büchlein in die Höhe und verweisen auf gepflegte Gespräche, philosophische Betrachtungen, die ohne den entfesselnden Geist des Hochprozentigen nicht gedacht worden wären. Aber fürwahr: Bei dem einen oder anderen Text wird sich der Leser fragen, ob der Autor nicht etwas zu tief ins Glas geschaut hat und ihm eine nüchterne Betrachtungsweise besser zu Gesicht gestanden hätte.

Es gibt keine Lösung. „Der Mensch ist frei“, schrieb Clemens Brentano. „Er kann sein Teil sich wählen.“ Dann wähle er: „Das Ende der Enthaltsamkeit“, das Lustwandeln und verschmitzte Lesevergnügen – oder eines der vielen anderen Bücher auf dem Markt.

Anselm Lenz / Alvaro Rodrigo Piña Otey (Hrsg.): Das Ende der Enthaltsamkeit, Verlag Lutz Schulenburg (Edition Nautilus), Hamburg, 2013, 270 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 19,90 Euro, ISBN 978-3894017743

Die Kummer-Nummer

Miss Lonelyhearts„Haben Sie Sorgen? Schreiben Sie Miss Lonelyhearts!“ Diesem Angebot der New Yorker „Post-Dispatch“ folgen immer mehr Leserinnen und Leser, und auf dem Schreibtisch der Kummerkastentante stapeln sich die Briefe ratsuchender Menschen. Doch Miss Lonelyhearts ist nicht nur keine Frau, sondern ihre Tipps und Anregungen sind auch noch dreist erlogen. Nathanael West hat daraus einen schwachen Roman gemacht, der erstaunlicherweise von Schriftstellerkollegen und der Presse hoch gelobt wurde.

„Miss Lonelyhearts“ spielt in den Jahren 1930/1931. Viele Zeitungen haben eine regelmäßig erscheinende Ratgeberkolumne, in der mehr oder minder berufene Journalisten die meist banalen Alltagsprobleme der Leserschaft zu lösen vorgeben. Je triefender, trivialer oder anrüchiger die Problematik, desto höher ist die Begeisterung bei der Leserschaft der Boulevardblätter, die sich vornehmlich dieser Kategorie der journalistischen Darstellungsform befleißigen.

Und so hat also auch der „Post-Dispatch“ eine solche Kolumne, doch seine Kummerkastentante zeigt erste Anzeichen der Erschöpfung. Tag für Tag kommen mehr als 30 Briefe, und Miss Lonelyhearts, die ein Mister ist, findet keine Worte mehr, die nach Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft klingen. Miss Lonelyhearts ist am Ende. Der Winter hängt über der Stadt, seine Behausung ist „so voller Schatten wie ein alter Stahlstich“, und selbst der Whisky in seiner Stammkneipe kann ihn nicht erwärmen. „Wenn er nur an Christus glauben könnte, dann wäre Ehebruch eine Sünde, dann wäre alles einfach, und die Briefe wären überaus leicht zu beantworten.“

Dilemma der Moral

Religion spielt eine gewichtige Rolle in diesem Roman, „Christus“ scheint oft die wirkliche und einzige Antwort auf alle brieflichen Fragen – das Christus-Business, wie sein Feuilletonredakteur und Vorgesetzter die Sache nennt. Stattdessen aber lässt Miss Lonelyhearts das Beantworten der Briefe sein, es hat ja doch kein Zweck, und versteift sich in doppeldeutigem Sinne bei Hausbesuchen von hilfesuchenden Damen. Er zerbricht an dem Dilemma der Moral.

Das alles ist schön und gut, aber beileibe keine übertriebenen Lobeshymnen wert. Der US-amerikanische Schriftsteller Samuel Dashiell Hammett („Der dünne Mann“) erklärte nach Angaben des Manesse-Verlags: „‚Miss Lonelyhearts‘ ist aus dem Stoff, aus dem unsere Zeitungen sind – bloß dass West die Wahrheit erzählt.“ Nun, das ist famos. Aber solcherlei Lob lässt sich auf vielerlei Buchrücken drucken, das ist kein Alleinstellungsmerkmal. Ja, West schreibt leichtfüßig, ohne viele Schnörkel und verschachtelte Sätze. Kurz, prägnant, sachlich, fast ein wenig zu sehr distanziert. Das passt zu einem Text, der sich mit dem Zeitungsmilieu beschäftigt. Aber es ist keine Wucht.

Die Geschichte der Kummerkastentante bleibt schwach. Es ist eine zynische Abwärtsspirale, die unweigerlich in die Tragik führt. Am Ende müsste Miss Lonelyhearts wohl einen Brief an sich selbst schreiben, dermaßen trostlos steht es um ihn. Vortrefflich von Dieter E. Zimmer übersetzt – die erste Übersetzung der „Miss Lonelyhearts“ ins Deutsche seit 1961 -, sind es aber vor allem seine Anmerkungen und sein Nachwort, die den Roman schlußendlich erst nachvollziehbar machen.

Nathanael West: Miss Lonelyhearts, Manesse Verlag, Zürich, 2012, 170 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 19,95 Euro, ISBN 978-3717522744