Die Traumtänzer vom Abgrund

Wir schreiben den 16. November 1925. Mitten im Berliner Amüsierviertel der Friedrichstraße dümpelt eine männliche Leiche in der Spree, Hinterkopf nach oben. Kein Schwimm- oder Tauchunfall, sondern: Mord. Das Opfer ist ein Journalist, der für das Nazi-Blatt „Völkischer Beobachter“ geschrieben hat. Im Ausklang des Jahres, in dem in München die NSDAP neu gegründet wurde, Hitler den ersten Band von „Mein Kampf“ veröffentlichte und die SS ins Leben gerufen wurde, lässt die Autorin Kerstin Ehmer ihren sympathischen Kommissar Ariel Spiro in einem Fall ermitteln, in dem er oft einen Schritt zu spät zu kommen scheint.

Der dritte (und bisher beste) Roman mit dem Titel „Der blonde Hund“ knüpft nahtlos an den Vorgänger an, in dem Spiro Boxunterricht genommen hatte, um den nationalsozialistischen Schlägertrupps etwas entgegensetzen zu können, und in dem die Ausbreitung des Antisemitismus beschrieben wird.

Die Spirale beginnt nun, sich schneller zu drehen. Die Nazis treten selbstbewusster auf, versammeln Geldgeber um sich und vertreiben ihre hirnlosen Schläger in die zweite Reihe. Wer ihnen dort vor die Füße fällt, dem gnade Gott.

Der Judenhass bricht sich Bahn, und auch Ariel Spiro bekommt nun häufiger antisemitische Vorurteile um die Ohren gepfeffert. Er trägt zwar einen jüdischen Namen, ist aber kein Jude. Im ersten Roman „Der weiße Affe“ hatte Spiro noch immerzu betont, seine Mutter habe Shakespeare verehrt, Lieblingsstück „Der Sturm“, und Ariel sei ein Luftgeist. Mittlerweile hat Spiro die Erklärungen aufgegeben. Sein Umfeld weiß Bescheid, und den Nazis ist in ihrer erbitterten Ideologie ohnehin nicht zu helfen.

„Wir setzen alle unsere Hoffnungen auf ihn“

Spiros Ermittlungen führen ihn zunächst in die Villa des bekanntesten Berliner Pianofabrikanten Eduard Bachmann („Ihre Klimperkästen sind der Stolz der Stadt“). Er und seine Frau Helena hatten sich mit dem Verleger-Ehepaar Feldstein aus München im Hotel Adlon zum Dinner getroffen. Zugegen war auch ein weiterer Herr aus München, den die Kellner als „fleischlos“ bezeichnen, als Vegetarier. Helena Bachmann beschreibt ihn hingegen so: „Oh, das ist ein überaus interessanter Mann, ein aufstrebendes, politisches Talent mit großem Potenzial. Wir setzen alle unsere Hoffnungen auf ihn.“ Der Name des Mannes wird an keiner Stelle des Romans benannt; aber es dürfte sich bei ihm um Adolf Hitler gehandelt haben.

Zurück zum Mordfall: Spiros Spur bringt ihn schließlich nach München, wo der sogenannte „Blonde Hund“ abgetaucht sein soll, ein junger Mann, der im Verdacht steht, eine Verbindung zum Mordopfer gehabt zu haben. Spiro schleicht sich unter falschem Namen im deutsch-nationalen Salon der Feldsteins ein und ermittelt im Kreis der höchsten Gesellschaftsschichten Münchens. Er begegnet dem Vater von Heinrich Himmler, wird auf der Reise zum nächsten Fixpunkt seiner Ermittlungen von einem Trupp Nazis aufgemischt, und recherchiert bei den Artamanen, wo der „Blonde Hund“ untergekommen sein soll. Die Artamanen wollten im Osten des Deutschen Reiches möglichst autark von bäuerlicher Tätigkeit leben („Fast jeden Tag ein Ei, das ist schon was“), auch um polnische Saisonarbeiter aus dem Land zu drängen. Sie verfochten eine völkische, agrarromantische Blut-und-Boden-Ideologie, 1934 gingen sie in der Hitlerjugend auf. Heute gibt es sie übrigens wieder, die völkischen Siedler: Neo-Artamanen nennen sie sich.1)

Äußerst penibel recherchiert

In Ehmers brillantem Kriminalroman ist wie immer viel drin, und dennoch wirkt er an keiner Stelle überfrachtet. Die Autorin recherchiert für ihre Romane stets äußerst penibel und schafft mit ihrem Fachwissen die prächtige Bühne für ihre Figuren. Natürlich schwingt auch immer viel Lokalkolorit mit: Die Männer trinken sich abends ihre Molle, die Damen gießen sich das Likörchen aus der Mampe-Flasche ein, und dann geht’s hinein ins pulsierende Berlin mit seinen Clubs und Bars, mit Tanz und Eleganz, mit Jazz und Klaviermusik. Dazu die Reichen und Schönen, die Arbeiter und Elenden, die Verbrecher und die ganze politische Dramaturgie der scheinbar Goldenen Zwanziger.

Während Spiro durch Deutschland fährt, bleibt seine eigenwillige Geliebte Nike Fromm in Berlin. Neugierig nimmt sie an Séancen teil, geht zu einem Wahrsager und versucht auf eigene Faust, das Rätsel um einen schwer verletzten jungen Mann zu lösen, der offenbar von einem brutalen Nazi-Offzier bei ausartenden SM-Spielen misshandelt wurde. Um Näheres herauszufinden, besucht sie eine Pension, in der Menschen mit dieser besonderen sexuellen Neigung im wahrsten Sinne des Wortes verkehren und in der niemand Fragen stellt.

Ja, es ist viel drin zwischen den beiden Buchdeckeln, und Kerstin Ehmer gelingt es auch in ihrem dritten Roman, gekonnt und mit viel Feingefühl die Spannung zu halten. Es ist ein geschickter Schachzug der Autorin, ihren Kommissar durchs Land reisen zu lassen, in einer Zeit, an der Deutschland langsam an den Scheitelpunkt gerät. Hervorragend stellt sie dar, wie die nationalsozialistische Ideologie auf der einen Seite bei immer mehr Menschen verfängt, während sie auf der anderen Seite abgetan oder gar unterschätzt wird. Der Oberkommissar der Politischen Polizei etwa verkennt die Lage völlig und sagt zu Spiro: „Meine Abteilung ermittelt überwiegend am linken Rand des politischen Spektrums, wo ich persönlich die größere Gefahr für unsere Republik sehe. Die Nationalsozialisten sind so gut wie tot.“

Nur eine ist hellsichtig und klug

Der Abgrund nähert sich, und selbst Spiro sieht es nicht. Für ihn sind die Bachmanns und Feldsteins alle „Traumtänzer, die mit Scheuklappen die Gegenwart ausblenden“. Nur eine in diesem Roman ist hellsichtig und klug: Nike Fromm. Sie sagt zu Spiro: „Etwas geschieht. Aber es ist viel größer als dein Fall. Es geschieht gleichzeitig an verschiedenen Orten. Der Aberglaube ist zurück. Unwissen und Dummheit sind wiederauferstanden und der Hass auf die Juden. Wir gehen nicht mehr vorwärts. Wir gehen zurück.“

Weniger als ein Jahr ist Spiro jetzt in Berlin. Er hat ein Mädchen gefunden, liebe Freunde und eine neue Heimat. Man hofft so sehr, dass die wandelnden Zeiten ihm das Glück nicht zerstören, aber wir gedanklich Zeitreisenden wissen es vermutlich besser: Das wird arg und ärger. Ja, fürwahr, der Abgrund nähert sich. Spiro, was wirst du tun?

Kerstin Ehmer: Der blonde Hund, Pendragon-Verlag, Bielefeld, 2022, 460 Seiten, broschiert, 22 Euro, ISBN 978-3865327635, Leseprobe

Seitengang dankt dem Pendragon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

1) Der „Deutschlandfunk Kultur“ hat 2017 in der Sendung „Zeitfragen“ über die neuen völkischen Siedler im ländlichen Raum berichtet. Der Beitrag ist hier nachzulesen.

German Scham

Endlich! Endlich ist auch in Deutschland der hervorragende Debütroman von Katharina Volckmer erschienen. „Der Termin“, von Volckmer in ihrer Zweitsprache Englisch verfasst, fand lange Zeit keinen deutschen Verlag, wurde aber in zwölf andere Sprachen übersetzt. In England erschien das Buch 2020 als „The Appointment (Or, The Story of a Cock)“, in den USA als „The Appointment (Or, The Story of a Jewish Cock)“, in Frankreich als „Jewish Cock“.

In Deutschland jetzt also als „Der Termin“ ohne Untertitel, verlegt beim neu gegründeten und mit vielversprechendem Herbst-Katalog startenden Kanon-Verlag. In diesem an Philip Roths „Portnoys Beschwerden“ erinnernden Buch (andere Rezensenten halten dem Buch gerne den Thomas-Bernhard-Spiegel vor) hält eine namentlich nicht bekannte Patientin einen 117 Seiten langen Monolog, während sie auf dem Behandlungsstuhl des jüdischen Gynäkologen Dr. Seligmann liegt.

Sie obduziert das peinliche Schweigen

Die Themenvielfalt dieses Bewusstseinsstroms ist groß, das Unbehagen beim Lesen nicht minder. Die Patientin eröffnet ihre Rede mit dem Bekenntnis, sie habe mal davon geträumt, Hitler zu sein. Ihre Ausführungen darüber, dass man niemals hätte davon ausgehen können, dass die Deutschen „mit der miserablen Landesküche ein Reich für tausend Jahre würden halten können“ wandeln sich zu in sehr drastischen Worten umschriebenen sexuellen Fantasien, bei denen Hitler ebenfalls Rollen zugesprochen werden, bis sie schließlich auch darüber redet, welche Scham sie als Deutsche empfindet. Sie obduziert die Geschichte Deutschlands und das peinliche Schweigen der Täter- und Nachkriegsgenerationen. „Der Termin“ ist auch eine Coming-of-Silence-Geschichte.

Die namenlose Ich-Erzählerin hat sich von ihrer katholisch geprägten nachkriegsdeutschen Familie abgenabelt und lebt, wie die Autorin, in London. In einer Rückschau macht sie ihre eigene Geschlechtsidentität sowie die Beziehung zu Mutter, Vater, Urgroßvater („Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er ein richtiger Nazi war“) zum Thema. Ihr Ton ist dabei oft lakonisch-komisch.

Sie erzählt, wie sie bei einer Wutattacke im Büro einem Kollegen drohte, sein Ohr am Tisch festzutackern. Dann ist sie überrascht, wieso ihr nach dieser Geschichte gekündigt wurde. Obwohl doch jedem klar sein müsse, dass man mit diesen Billigtackern eher sich selbst verletzt, als anderer Leute Ohren an Schreibtischplatten festtackern zu können.

Das deutsche Brot ist zu trocken

Über Nürnberg, einst Stadt der Reichsparteitage der Nationalsozialisten, unkt sie, dass dort jetzt jährlich Messen für Waschmaschinen abgehalten werden und ruft die Erinnerung an deutsche Fernsehwerbung auf, die meterweise reine, weiße Wäsche verspricht. Gedankensprung: Das deutsche Brot ist zu trocken, deshalb gelingt Deutschen der Oralverkehr nicht gut.

Volckmer ist provokant, ja. Und einiges davon glaubt man auf den ersten Blick gleich erkannt zu haben: Hitler und Juden als Aufreger, der Skandal scheint programmiert.

Was soll das eigentlich?

Ist das nicht Verharmlosung der deutschen Geschichte? Wird hier nicht zu sehr auf Hitler fokussiert? Hitler, mal als komische Figur, dann wieder als Sexphantasie – was soll das eigentlich?

Ja, das alles brodelt an der Oberfläche. Aber wie beim qualvollen Häuten der Zwiebel treten nach und nach untere, verborgene Schichten nach oben, die Frage der Geschlechtsidentität vor allem. Bin ich Mann, bin ich Frau? Warum fühle ich mich als Mann, bin aber als Frau geboren? Welchen Prozess durchlaufen Transmenschen? „Jedenfalls glaube ich, dass unsere Körper manches wissen, lange bevor unser Kopf es tut“, sagt die Patientin, die als heterosexuelle Cis-Frau sozialisiert wurde.

Der Gynäkologe bleibt die meiste Zeit stumm, und doch spricht die Patientin nie ins Leere. Erst spät fragt er sie, und wir lesen nie seine Frage, sondern nur ihre Antwort, ob sie wütend auf ihre Eltern sei. Ist sie nicht. Denn ihr Kopf ist nach dem Körper schon ein Stück auf dem Befreiungsweg vorangekommen.

„Ich wünschte, wir beide hätten das durchschaut“

Sie erzählt von ihren Schwierigkeiten, als sie jung ist, und die Mutter sie zu einer jungen Dame machen will, mit Schminke und Parfüm und schönen Kleidern. „Ein Großteil unserer Schwierigkeiten miteinander rührte von einem völlig unnötigen Lampenfieber, das uns von einer Welt aufgezwungen wird, die Leute ohne Schwanz auf ihren Platz verweisen will, und ich wünschte, wir beide hätten das durchschaut.“

Das auf den ersten Blick „nur“ die deutsche Scham und Vergangenheit ankratzende Buch ist wie ein trojanisches Pferd, das ein Hitlerbärtchen trägt, vielleicht auch nur einen Hoden hat und von Dirty Talk-AnhängerInnen geschoben wird, das aber bei genauerer Betrachtung und Überwindung der Befestigungsanlagen gefüllt ist mit Kriegerinnen und Kriegern, Cis- und Transmenschen, die traditionelle Geschlechterrollen, Geschlechterbinarität, Transphobie und das Patriarchat bekämpfen. Und letztlich schaut man sich um, wie man hergekommen ist, sieht das trojanische Pferd, und muss sich doch wieder der eigenen Vergangenheitsbewältigung und dem deutschen Völkermord stellen. Dr. Seligmann kann beides verbinden, und die Patientin ist genau deshalb bei ihm.

Katharina Volckmer, wurde 1987 in Deutschland geboren und zog mit 19 Jahren zum Sprachen-Studium nach England. Heute lebt sie in London und arbeitet für eine Literatur-Agentur. „Der Termin“ ist ihr erster Roman, und es ist so ein temporeiches Wahnsinnsbuch! Man verschlingt es in wenigen Stunden und lacht und weint und fühlt sich furchtbar und interessiert und pikiert. Das ist wirklich raffinierte, konzertante und elegant kurzweilig geschriebene Literatur, die ihresgleichen sucht. Wenn das gleich beim kühnen Debüt dermaßen reinhaut, was kommt mit dem Zweitwerk auf uns zu? Kann nur gut werden für die Literatur!

Katharina Volckmer: Der Termin, Kanon-Verlag, Berlin, 2021, 128 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3985680009

Seitengang dankt dem Kanon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Großmutter und die Phase mit Hitler

IrminaSchon bei Goethes Faust wohnten zwei Seelen, ach!, in seiner Brust. Auch Irmina ist innerlich zerrissen, allerdings nicht mit faust’schen Ambitionen, sondern zwischen Rechtschaffenheit und dem Wunsch nach gesellschaftlichem Aufstieg. Sie ist die Heldin in Barbara Yelins gleichnamiger Graphic Novel. Zutiefst beeindruckend erzählt die Autorin und Zeichnerin darin die Geschichte einer jungen Mitläuferin zur Zeit des Nationalsozialismus‘. Viele Bücher sind darüber geschrieben worden, aber selten geht eines dem Leser so nahe wie dieses. Vielleicht weil Barbara Yelin das Leben ihrer eigenen Großmutter als Vorlage genommen hat. Vielleicht auch, weil es eine Generation an das Schweigen ihrer Eltern und Großeltern erinnert.

Die Handlung beginnt im Jahr 1934. Irmina, eine junge, selbstbewusste Frau, stolz, aber etwas spröde, geht von Stuttgart nach London, um dort an einer Wirtschaftsschule für Mädchen eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin zu machen. Frei möchte sie sein und unabhängig. Sie verliebt sich in Howard, einen schwarzen Stipendiaten aus Oxford. Beide verbindet das Fremdsein in England. Offen ergreift sie für ihn Partei, wenn er sich rassistischen Bemerkungen gegenübersieht. Auf Äußerungen der Engländer zur Situation in Nazi-Deutschland reagiert Irmina indes patzig und kratzbürstig.

Als selbst Howard bei einer romantischen Bootstour Adolf Hitler erwähnt, wird sie wütend und schimpft, alle Welt rede immer nur von Hitler, wenn das Gespräch auf Deutschland komme. „Der hält sich doch nicht. Das ist nur eine Phase“, erklärt sie Howard. Davon sei sie fest überzeugt. Schon hier deutet sich eine politische Naivität an, die sich später noch öfter zeigen wird. Howard und Irmina träumen von einer gemeinsamen Zukunft, vielleicht sogar auf Barbados, Howards Heimat. Doch dann wird das Geld knapp. Sie kehrt nach Deutschland zurück. Ohne ihre große Liebe. Im April 1935.

Sie selbst verändert sich schleichend

Über Beziehungen gelangt sie an eine Stelle im Reichskriegsministerium in Berlin. Überall auf den Fluren schallt ihr der Hitler-Gruß entgegen, sie selbst verändert sich schleichend. Sie heiratet einen überzeugten Nationalsozialisten, einen SS-Mann und Architekten, der auf den großen Auftrag wartet, den Speer einmal nicht bekommt, und hofft auf den ersehnten finanziellen Aufschwung, den gesellschaftlichen Aufstieg und das ganz persönliche Glück. Währenddessen verliert sie nach und nach und ganz leise ihren so wertvollen Sinn für Rechtschaffenheit.

Yelin lässt dem Leser genügend Raum für die Überlegung, was er an Irinas Stelle getan hätte, welchen Weg er beschritten hätte. Und ob er selbst dem sicheren Scheitern entkommen wäre. Eine Frage, die sich die Nachkriegsgenerationen noch heute stellen. Weil sie von ihren Eltern und Großeltern keine Antworten bekommen haben. Millionen von Menschen haben in der Nazi-Zeit geschwiegen, während auf der Straße Juden zusammengetrieben wurden, die noch gestern ihre Nachbarn waren. Millionen von Menschen haben die Augen vor der Realität verschlossen, den Mund nicht aufbekommen, und man fragt sich immer noch fassungslos: Wie konnte das sein?

Yelins Buch gibt eine eigentlich einfache, aber immer wieder erschütternde Antwort: Weil die Millionen Menschen, die wir heute als Mitläufer bezeichnen, aus dem Leid der Opfer ihren Nutzen gezogen haben. Sie haben sich schlichtweg an ihnen bereichert. Ehemaliges jüdisches Eigentum wurde versteigert, Wohnungen von Deportierten waren günstiger zu haben, Arbeitsstellen, die zuvor von Juden besetzt waren, wurden frei und konnten nun eingenommen werden. Der Historiker Dr. Alexander Korb, der Yelin bei dem Buch historisch begleitet hat, erklärt dies in seinem lesenswerten Nachwort als „eindeutigen Beleg dafür, dass die Judenverfolgung eben nicht nur ein von einer Clique von Verfolgern durchgeführtes Verbrechen war, sondern sich in einer vielfältigen Weise auf das Leben aller Zeitgenossen auswirkte, ebenso wie umgekehrt das Verhalten des Einzelnen eine Rückwirkung hatte auf den Verlauf der Verfolgung.“

Allerlei Schattierungen von Grau und Schwarz

Barbara Yelins Comicroman bietet einen ungeheuerlichen Einblick in eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte. Ihre Zeichnungen skizzieren detailreich und in allerlei Schattierungen von Grau und Schwarz die Zeit des Nationalsozialismus‘. Bei einer Lesung im Bielefelder Buchladen „Eulenspiegel“ erzählt sie, sie habe sich beim Zeichnen an die Geschichte herangetastet. Denn das Buch erzählt auch die Geschichte von Yelins Großmutter. Nach deren Tod entdeckte Yelin einen Karton mit Briefen und Tagebüchern.

Der Fund habe sie inspiriert, schreibt sie im Vorwort. Für die Handlung des Romans habe sie sich jedoch erzählerische Freiheiten genommen: „Die auftretenden Personen, ihre biografischen Zusammenhänge und viele der Schauplätze sind zugunsten der Dramaturgie frei gestaltet.“ Faszinierend ist vor allem, dass Yelin ihre Großmutter weder nur verurteilt, noch sie nur in Schutz nimmt, sondern sich beides die Waage hält.

Das Buch kostet 39 Euro – auch für Graphic Novels ist das ein stolzer Preis. Dennoch: „Irina“ ist vor allem eins: große Kunst. Und Kunst kostet nun mal Geld.

Barbara Yelin: Irmina, Reprodukt Verlag, Berlin, 2014, 288 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 38 Euro, ISBN 978-3956400063, Leseprobe

Seitengang dankt dem Reprodukt Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Leipziger Buchmesse 2013: „Stauffenbergs Gefährten“

DSC_0028Im ARD-Hörbuch-Forum der Leipziger Buchmesse waren am Freitagmittag Antje Vollmer und Lars-Broder Keil zu Gast. Die beiden sprachen über ihr gemeinsames Buch „Stauffenbergs Gefährten: Das Schicksal der unbekannten Verschwörer“, das jetzt im Hanser Verlag Berlin erschienen ist. Stauffenberg ist der Name, der mit dem Attentat vom 20. Juli 1944 verbunden ist, die meisten anderen Helfer bleiben stets unerwähnt, ja, gar unbekannt. In zehn Porträts stellen die beiden Autoren einige dieser unbekannten Widerstandskämpfer vor, beschreiben deren Handeln, Beweggründe und das Schicksal ihrer Familien.

Im Gespräch erläuterte Vollmer zunächst, warum sie ausgerechnet ein Foto des jungen Offiziers Friedrich Karl Klausing zum Titelfoto wählten: „Das Foto zeigt am besten die Einsamkeit der Verschwörer, denn wer zu so einer Gruppe gehörte, war einsam, einsam in der Familie, einsam unter Freunden – und so ein Attentat machte man auch nicht im Auftrag des deutschen Volkes.“ Auf der Fotografie aus den 40er Jahren sitzt Klausing allein im Gebirge. Das Foto entstand während einer Winterkampfübung seines Ausbildungslehrgangs auf der Trögel-Hütte in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen, wie aus dem Vorwort des Buches zu erfahren ist.

Zehn Personen haben Antje Vollmer und Lars-Broder Keil aus dem Kreis oder näheren Umfeld jener Männer porträtiert, die einen Staatsstreich zur Entmachtung des NS-Regimes planten, der mit dem Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 seinen Anfang nehmen sollte. „Von diesen zehn Personen konnten wir noch mit zwei interessanten Zeitzeugen sprechen, zum einen mit Richard von Weizsäcker, der viele der Verschwörer persönlich kannte, zum anderen aber auch noch mit Ewald Heinrich von Kleist, dem letzten Überlebenden der Aktionen im Bendlerblock“, erklärte Keil. Noch im vergangenen Jahr führten die Autoren ein langes Interview mit von Kleist, das nun in das Buch eingeflossen ist. Vor wenigen Tagen (8. März 2013) starb von Kleist im Alter von 90 Jahren in München.

Dass die Männer um Stauffenberg tatsächlich unbekannt sind, zeigt ein Beispiel, das Vollmer nannte: Als im Jahr 2008 Philipp von Boeselager starb, habe Frank Schirrmacher in der FAZ geschrieben, der letzte überlebende Beteiligte des Hitler-Attentats sei gestorben. „Es war also völlig unbekannt – sogar in den deutschen Feuilletons -, dass es mit von Kleist noch einen weiteren Überlebenden gab.“

Die Familien der Widerstandskämpfer haben die Autoren bei ihrer Arbeit immens unterstützt. „Wir haben teilweise sehr private Aufzeichnungen zu sehen bekommen, vor allem Briefe und Tagebücher, Dokumente also, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, und das hat uns sehr dankbar gemacht“, erklärte Vollmer nachdrücklich. Es habe zwar schon einige Bücher über den Stauffenberg-Kreis gegeben, aber nie habe man sich die Mühe gemacht, auch die Familien anzusehen. Bei einigen Porträts war es sogar notwendig, falsche historische Einschätzungen zu korrigieren. Als Beispiel nannte Vollmer den Nachrichten-General Erich Fellgiebel, der gerade auch in der Hollywood-Verfilmung mit Tom Cruise völlig falsch dargestellt werde.

Eine Rolle der zehn Porträtierten nannte Vollmer „ganz unheimlich“: Hans Bernd Gisevius. Sein nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichtes Buch „Bis zum bitteren Ende“ habe das Bild des 20. Juli ganz fatal geprägt.

„Unser großer Wunsch ist es, dass unser Buch in Schulklassen gelesen wird, und jeder Schüler sich ein Porträt vornimmt, um zu begreifen, was diese Menschen für ihre Tat gewagt haben – da kommt man näher ran, als durch irgendwelche Feiern“, sagte Vollmer abschließend und erntete Applaus vom Publikum.

Beide Autoren, sowohl Antje Vollmer, als auch Lars-Broder Keil, haben sich wiederholt mit dem Widerstand gegen das Nazi-Regime auseinandergesetzt. Von Vollmer, einst Bundestagsabgeordnete für Bündnis 90/Die Grünen und von 1994 bis 2005 amtierende Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, erschien zuletzt eine von der Kritik begeistert aufgenommene Doppelbiographie über das Paar Heinrich und Gottliebe von Lehndorff, das ebenfalls zu den Mitwissern im Stauffenberg-Kreis gehörte.

Lars-Broder Keil arbeitet als Redakteur im Ressort Innenpolitik der Welt und hat im vergangenen Jahr mit seinem Kollegen Sven Felix Kellerhoff den Fall Peter Fechter aufgearbeitet.

Antje Vollmer / Lars-Broder Keil: Stauffenbergs Gefährten. Das Schicksal der unbekannten Verschwörer, Hanser Verlag, Berlin, 2013, 256 Seiten, gebunden, 19,90 Euro, ISBN 978-3446241565

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