Ganz seicht entführt

Der neunjährigen Sarah stehen alles andere als schöne Ferien bevor, als sie in den Kleinbus einsteigt, der sie und andere Kinder in ein Sommercamp bringen soll. Ihre Mutter Lena ahnt zunächst nichts – erst als wenige Minuten später die echten Mitarbeiter des Camps vor ihrer Haustür stehen und Sarah abholen wollen. Einen weiteren Fahrer für die Tour gebe es nicht, sagen die. Doch auch bei drei anderen Familien war der nette Fahrer namens J. D. und hat die Kinder abgeholt, ohne dass die Eltern argwöhnisch geworden sind. Der Beginn eines Albtraums.

Was da passiert ist, weiß der Leser längst, weil es auf dem Klappentext des Buches steht. Aber auch Lena weiß es schnell: „Ich glaube, die Mädchen wurden gekidnappt.“ Was dann folgt, ist eine seichte und mäßig spannende Handlung. Die Figuren bleiben blass und haben zu wenige Konturen. Das Potential der menschlichen Konflikte untereinander kommt auch viel zu kurz. Sarahs Vater etwa, David, war nicht zu Hause, als sie von dem Fremden abgeholt wurde. Lena vermutet, dass er eine Affäre hat, spricht ihn aber nicht darauf an; er dagegen macht ihr Vorwürfe, dass sie diesem Typen ihre Tochter mitgegeben hat. Es dauert sehr lange, bis der Autor sich auch auf diese ehelichen Spannungen besinnt und sie entwickelt. Mit den Ermittlungen der Polizei, die sehr behäbig beschrieben werden und kaum die Unruhe erzeugen, die der Leser erwartet, beginnt auch das Rätselraten der Eltern, wer hinter der Entführung stecken könnte. Möglicherweise sogar jemand der Eltern selbst?

Wesentlich mehr in Atem halten die Kapitel, in denen Doug Magee über das Schicksal der Kinder erzählt. Die nämlich werden tief in die Wildnis verschleppt. Bei der Schilderung, wie jedes einzelne Kind unterschiedlich mit der Bedrohung umgeht, schafft Magee endlich diese Nähe des Lesers zu den Figuren, die man in den übrigen Kapiteln so arg vermisst.

Das Buch hält nicht, was der Klappentext verspricht. Im Gegenteil, der er führt sogar etwas in die Irre, aber vielleicht muss das bei einem so schwachen Erstlingswerk sein, um den Verkauf anzukurbeln. Doug Magee, laut Klappentext Fotograf, Journalist, Drehbuchautor und Regisseur, wünscht man für sein nächstes Buch jedenfalls mehr Geschick. „Schöne Ferien“ ist ein Buch geworden, das das Regal nicht braucht.

Doug Magee: Schöne Ferien, Rütten & Loening Verlag, Berlin, 2010, 366 Seiten, broschiert, 14,95 Euro, ISBN 978-3352007934

Literarischer Quickie

Wenn eine Autorin über Sex schreibt, ist die Tatsache, dass sie aus Sicht einer Frau schreibt, nicht gleich ein Kriterium für literarisch-erotische Texte auf hohem Niveau. Die Französin Alina Reyes dagegen ist gewöhnlich Garantin für ein Karussell aus erotischen Spielarten in literarischer Sprache. Offen, provokant, mit einer Eloquenz, die aus dem Vollen schöpft. Die Leser sind sich wenig einig, ob es erotische Literatur ist oder nur Schund. Ob es sinnliche Kopfkinofilme für die Spätvorstellung sind oder nur Geldmacherei à la „sex sells“.

In dem erneut schmalen Bändchen „Die siebte Nacht“ lotet Reyes die Erwartungen und Sehnsüchte einer Frau aus, die dem ersten sexuellen Akt mit ihrem neuen Liebhaber entgegenfiebert. Sieben Nächte muss sie warten, und in jeder Nacht stellt er die Regeln auf, darf sie ihm jeweils ein Stück näher kommen. „Ich nannte ihn bei seinem Namen. Er trat vor, schlug das Bett auf, bat mich, mich hinzulegen. Ich versuchte, ihn mit aufs Laken zu ziehen, aber er ließ nicht zu, dass ich ihn berührte. ‚Morgen‘, sagte er. ‚In der ersten Nacht darf man sich nicht berühren.'“ So folgt in der zweiten Nacht die Regel, dass sie machen dürfen, was sie wollen, jedoch ohne zum Orgasmus zu kommen und ohne die Geschlechtsteile zu berühren, weder mit der Hand noch mit dem Mund. In der dritten Nacht ist das Berühren mit den Händen erlaubt, überall, aber einen Orgasmus darf es trotzdem nicht geben. Erst in der siebten und letzten Nacht folgt die Erlösung. Der Klappentext spricht gar – ein wenig hochgegriffen – von „Apotheose der sexuellen Erfahrung“.

Die Sprache ist poetisch, anregend, sinnlich, teilweise aber auch flach und gekünstelt. Es gehört sicherlich nicht zu Reyes‘ besten Büchern und erreicht keinesfalls die Stärke von „Tagebuch der Lust“. Beide Bücher sind im selben Verlag erschienen, „Die siebte Nacht“ ist sogar bibliophil angehaucht. Ein Lesebändchen bei einem gebundenen Buch von 84 Seiten – das erwartet man bei Manesse, aber nicht unbedingt bei Bloomsbury Berlin. Dazu die erotische Umschlaggestaltung des Designbüros Rothfos & Gabler aus Hamburg mit einem Ausschnitt aus Felix Vallotons Gemälde „Liegende Frau vor violettem Grund“ – da hat sich der Verlag Mühe gegeben, dem Inhalt ein ebenbürtiges Äußeres zu geben.

„Die siebte Nacht“ ist kein Muss für das Bücherregal oder die Liste der gelesenen Bücher. Aber für den literarischen Quickie zwischendurch ist es allemal geeignet.

Alina Reyes: Die siebte Nacht, Bloomsbury Berlin, 2005, 84 Seiten, gebunden, 12 Euro, ISBN 978-3827005878

Entführt, missbraucht – und dann?

Als Thea Dorn im Jahr 2008 ihr Buch „Mädchenmörder“ veröffentlicht, ist Natascha Kampusch seit eineinhalb Jahren frei – da drängt sich dem Leser der Verdacht auf, die Autorin habe die Zeichen der Zeit erkannt und das Martyrium der jungen Österreicherin für ein eigenes Buchprojekt genutzt. Doch Verena Mayer schreibt in der Süddeutschen Zeitung, dass Dorn bereits an dem Roman gearbeitet habe, bevor der Fall Kampusch bekannt geworden sei. Grundlage des Buches sei vielmehr ein Fall aus den USA. Dort sei ein Serienmörder quer durch die Staaten gereist sei, habe Frauen umgebracht, und nur eine 16-Jährige habe überlebt.

In Dorns „Liebesroman“ ist es die 19-jährige Abiturientin Julia, die nach einer Party in Köln den Nachtbus nehmen will und stattdessen von dem sadistischen Ex-Rennradprofi David entführt wird. Sie fristet die ersten Tage in einem dunklen Keller, wird von ihrem Entführer, den sie durchgängig als ihren „Peiniger“ bezeichnet, misshandelt und vergewaltigt, jedoch nicht getötet. Dabei hat er schon mindestens zwei weitere junge Frauen auf dem Gewissen, doch irgendetwas scheint bei Julia anders zu sein. „Wie fühlt sich eine Gazelle, wenn ihr klar wird, dass sie dem Löwen nicht mehr entkommt? Spürt sie panische Angst? Versucht sie, doch noch einmal zu fliehen? Oder schaut sie nicht den Löwen im letzten Moment an und denkt: Was für ein schönes, starkes Tier! Sterben muss ich ja sowieso. Ist es da nicht besser, von solch einem Tier gefressen zu werden als einfach zu verrecken? Ich habe mich tausendmal gefragt, wieso ausgerechnet ich als Einzige von all den Mädchen überlebt habe. Vielleicht nur deshalb, weil ich die Einsicht einer Gazelle in mir fand.“

Julia überlebt also die Entführung und die gemeinsame Flucht durch Südeuropa. Da die Medien ihr aber zu viele Fakten verdreht haben, muss sie selbst ihre Erinnerungen niederschreiben. Das ist mitunter zäher Lesestoff. Die neunmalklugen Kommentare der Einser-Abiturientin, gerne auch auf Französisch, ermüden. Teils belanglose Hintergrundinformationen werden eingeklammert, machmal mehrere hintereinander. Die Gefühle des Opfers bleiben vage, die Motive des Täters erschließen sich ebensowenig. Stattdessen werden Grausamkeiten bis ins Detail erzählt, der Leser ist nur noch Voyeur. Die Wende im zweiten Teil des Romans ist zwar einigermaßen überraschend und durchdacht, aber auch hier bleibt das Buch an der Oberfläche. Warum Julia letztendlich freikommt, bleibt ein Rätsel. Vielleicht ist dies aber auch genau Dorns Intention: Bei all der Sensationsgier des Lesers, die vollumfänglich bedient wird, schwammig und ungenau zu bleiben und die Neugier an des Rätsels Lösung doch nicht zu befriedigen.

Thea Dorn: Mädchenmörder, Wilhelm Goldmann Verlag, München, 2008, 335 Seiten, gebunden, 19,95 Euro, ISBN 978-3442545834

Emma liebt einen Jüngling von 14 Lenzen

Schnappt sich ein Mann eine wesentlich jüngere Frau, reagiert die Gesellschaft nicht so sehr mit gerümpfter Nase, wie dann, wenn sich eine Frau mit einem Jüngling einlässt. Dabei haben sich schon einige Bücher und Filme diesem Tabuthema gewidmet. Hinzugekommen ist jetzt Simonetta Greggio mit ihrem Roman „Mit nackten Händen“. Mit skandalträchtigem Inhalt.

Emma ist Anfang vierzig, Landtierärztin, ohne Mann und ohne Kinder. Will sie Sex haben, reist sie in fremde Städte, um von niemandem erkannt zu werden. „Dort klapperte ich schummrige Bars ab, trank ein paar Gläser, ließ mich treiben. Den Hunger stillte ich etwas im Lauf einer gestohlenen Nacht mit einem Gelegenheitsliebhaber. Es war ein lachhafter Trost: Wie oft hatte ich die Augen geschlossen und einen bestimmten Namen gerufen, immer denselben.“ Es ist Raphael, ihre große Liebe, den sie nicht vergessen kann. Und dann – steht eines Tages dessen Sohn Gio vor ihrer Tür. Knapp fünfzehn Jahre alt. Er erinnert Emma nicht nur an Raphael, sondern auch an Micol, jene Frau, für die sich Raphael damals entschieden hatte. Und damit gegen Emma. „Im zur Schulter geneigten Gesicht warf sein Nasenrücken – wie sein Vater hat er eine leicht gekrümmte Adlernase – einen reliefartigen Schatten auf die unrasierte Wange, halb Samt, halb Sandpapier. Seine leicht geöffneten Lippen waren die seiner Mutter, voll und geschwungen. (…) Gios Gesichtszüge waren regelmäßiger als die von Raphael, ohne die Asymmetrie, die seinem Vater etwas Faunartiges verlieh. Von Micol hatte er die sehr weiße Haut, auch die Haselnussaugen. Aber diese Anmut, dieses ausgewogene Verhältnis von Kind- und Erwachsensein gehörten ihm allein.“

Emma und Gio kommen sich näher. Viel näher, als Gesellschaft und Moral das einem 14-Jährigen und einer erwachsenen Frau erlauben. Die Umgebung reagiert entsprechend mit Abneigung, denn diese Art der Verbindung bleibt natürlich nicht lange geheim. Es beginnt mit einer Meldung in einer Tageszeitung.

Die Autorin lässt viel Raum für Phantasie. Der Liebesakt zwischen Emma und Gio wird nicht erzählt, er bleibt vage. Hier ist kein reißerisches Buch mit Vulgarität entstanden, sondern ein leise und romantisch herumflechtendes Stück. Nicht umsonst aber ist dieses Buch im Diana-Verlag erschienen. Der ist auf ein dezidiert weibliches Publikum ausgerichtet und kooperiert bei mehreren Publikationen mit dem Frauenmagazin „Brigitte“. Das „Figaro Magazine“ nennt die Sprache des Buches poetisch, doch sie ist wohl eher blumig. Die Charaktere bleiben derweil blass und ohne Tiefe, weil stattdessen mehr die Umgebung und das Wetter beschrieben werden. Das Thema reizt zu einem guten Stück Literatur, entstanden aber ist nur ein Stück Unterhaltung. Das wird sich jedoch in der Zielgruppe des Verlags trotzdem gut verkaufen lassen. Ein Buch für das Regal ist es indes nicht.

Simonetta Greggio: Mit nackten Händen, Diana Verlag, München, 2010, 159 Seiten, gebunden, 14,99 Euro, ISBN 978-3453290990

Dieser Unsympath nervt

Vielleicht wollte Frédéric Beigbeder nur in die große Liste der Aphoristiker aufgenommen werden. Vielleicht dachte er, ein Tagebuch-Roman sei der beste Weg dazu. Jeden Tag ein paar sinnreiche Bonmots niederkritzeln, durchzogen von sexuellen Anspielungen und Ausschweifungen, angereichert mit den Namen der angesagten Damen, Herren, Orte und Clubs dieser Welt – das muss doch den anspruchsvollen Leser überzeugen. Entstanden ist das nervigste Buch seit langer Zeit.

Wer die ersten 100 Seiten gelesen hat, kann vom Rest des Buches nicht mehr erwarten als die entsprechenden Synonyme der vorhergegangenen Seiten. Oscar Dufresne heißt der 34-jährige Held des Romans. Wie sein Schöpfer ist er Schriftsteller. „Er ist ein Egoist, dazu faul, zynisch und voller sexueller Obsessionen, kurz: ein Mensch wie du und ich“, ist auf dem Buchrücken zu lesen. Viel schlimmer: Dufresne ist ein Unsympath. Mit wachsendem Missmut liest man die kurzen Einträge, die intellektuell wirken sollen, stattdessen aber in der Masse ermüden und langweilen. Nur hier und da blitzen mal ein paar geistreiche Gedanken auf. Doch würden diese Blitze mehr Aufmerksamkeit erhaschen, wenn sie auf einem Kalenderblatt zum Abreißen geschrieben stünden. So gehen sie in der Masse der Bedeutungslosigkeiten unter. Von der viel gerühmten Genialität des Herrn Beigbeders: keine Spur.

Eine Inhaltsangabe des Buches ist schwierig. Aber mir liegt auch nicht daran, dieses Buch zu empfehlen, denn ich kann nichts Gutes daran finden. Wer seiner Zeit überdrüssig ist, kann sich damit beschäftigen. Wer die Kunst des Querlesens verfeinern will, dem sei dieses Buch angeraten. Allen anderen rate ich, einen großen Bogen um den „Romantischen Egoisten“ zu machen und sich stattdessen den Essais von Michel de Montaigne zu widmen. Oder jedem anderen Buch. Es gibt derlei viele. Auch für Intellektuelle.

Frédéric Beigbeder: Der romantische Egoist, Ullstein Taschenbuch Verlag, Berlin, 2. Auflage 2009, 287 Seiten, Taschenbuch, 8,95 Euro, ISBN 978-3548267104

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