Ein Balladenschatz

Und noch fünfzehn Minuten bis BuffaloGenerationen von Schülern haben sie auswendig aufsagen müssen: Den „Erlkönig“, die „Bürgschaft“ oder „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“. Manch einem war die Pflicht ein Gräuel, Lyrikfreunden aber gehen die Zeilen noch heute mit Inbrunst von den Lippen. Jetzt ist im Insel Verlag eine herrliche Sammlung von 23 deutschen Balladen erschienen, die schon in ihrer literarischen Zusammenstellung prächtig geraten ist. Vor allem aber ist das Bändchen der Insel-Bücherei hervorragend illustriert. Eine selten gesehene Harmonie von Bild und Text!

Den Anfang macht natürlich der alte Goethe. „Sah ein Knab ein Röslein stehn,/ Röslein auf der Heiden…“ heißt es da, und später auch noch: „Walle! walle/ Manche Strecke,/ Dass, zum Zwecke,/ Wasser fließe…“. Vier Balladen steuert Goethe bei, vier an der Zahl sind’s auch bei Fontane. Schiller: drei. Heine: zwei. Droste-Hülshoffs „Der Knabe im Moor“ findet sich ebenso wie Conrad Ferdinand Meyers „Füße im Feuer“ oder Mörikes „Feuerreiter“. An der Auswahl hätte sicherlich auch Ernst Theodor Echtermeyer seine Freude gehabt.

Doch wirklich ausgezeichnet wird der Sammelband erst durch die kunstfertige Illustration von Burkhard Neie. Der Berliner Zeichner verschafft den oft dramatischen erzählenden Gedichten eine weitere Darstellungsebene. Interessant in dem Zusammenhang ist, dass eine Zeichnung nicht einfach einer Textseite gegenübergestellt wird, sondern die Farben schwach, aber deutlich genug auf die Textseite überlaufen und so Worte und Darstellung verbinden, ja, vereinnahmen. Liegen zwei Textseiten nebeneinander, fließt sogar ein wenig Farbe aus dem Buchfalz heraus, so dass jedwede Seite eingenommen wirkt.

Ach, es ist eine Lust und eine Freude, in diesem Band zu blättern, die Zeichnungen zu beschauen und die Balladen, obwohl man sie meist doch in- und auswendig kennt, immer wieder leise vor sich hinzumurmeln. Ein Buch zum Verschenken, zum Lyriklesen-Lustmachen, zum Selbstbesitzen. Zum Erinnern, Schwelgen, Gruseln und zum Vorlesen. Eine Wucht!

Matthias Reiner (Hg.): „Und noch fünfzehn Minuten bis Buffalo“ – Die schönsten Balladen, Insel Verlag, Berlin, 2013, 111 Seiten, mit farbigen Illustrationen von Burkhard Neie, gebunden, 16 Euro, ISBN 978-3458200062, Leseprobe

Erwachsenwerden, der blanke Horror

Black HoleEs ist ein kleiner Horrortrip durch die Adoleszenz, gezeichnet in beeindruckenden Schwarz-Weiß-Bildern: Vier Heranwachsende stecken sich in den 70er Jahren mit einer sexuell übertragenen Krankheit an, die sie mutieren lässt und groteske Deformationen zur Folge hat. Charles Burns‘ düstere Graphic Novel „Black Hole“ ist zurecht bereits zum Klassiker der Neunten Kunst avanciert und soll jetzt von David Fincher verfilmt werden.

Das Buch spielt in den wilden 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. In einem Vorort von Seattle grassiert eine mysteriöse Krankheit, die sich „Teenager-Pest“ oder „Der Bazillus“ nennt. Die Erkrankten mutieren in unterschiedlichsten Formen, manche nur wenig, andere bizarr. Doch wer immer mit der „Teenager-Pest“ infiziert ist, verändert sich: „Einige erwischte es nicht so schwer – ein paar Beulen, ein hässlicher Ausschlag… andere verwandelten sich in Monster oder bildeten neuer Körperteile…“ Die Mutationen lassen sich nur selten verstecken, und so müssen sich die Erkrankten mit ihrem neuen Aussehen arrangieren, oder sie stürzen in eine tiefe Identitätskrise.

Der Leser folgt der Geschichte von vier Charakteren: Chris, Rob, Keith und Eliza. Keith ist in die etwas naive Chris verliebt, die jedoch nichts von ihrem Verehrer ahnt und ihrerseits für den Schulschwarm Rob in tiefer Zuneigung entbrannt ist. Bei einer Party kommen die beiden sich näher und geraten bei der Suche nach einem ungestörten Fleck auf einen Friedhof, wo sie zum ersten Mal zusammen Sex haben. Doch Rob ist bereits mit der „Teenager-Pest“ infiziert und steckt wegen eines Missverständnisses zwischen den beiden nun auch Chris an. Wenig später wird Chris zu den Erkrankten gehören, die sich häuten wie eine Schlange. Rob dagegen hat einen kleinen zweiten Mund am Hals, der redet und Geräusche macht.

Ein Schwanz, der sich bewegt

Zur selben Zeit gerät Keith beim Drogenkauf mit Freunden in ein Haus, wo er der betörenden Eliza begegnet. Auch sie ist infiziert: Ihr ist ein kleiner Schwanz gewachsen, der sich bewegt. Keith jedoch scheint entweder unwissend oder unbedarft zu sein, denn er macht keine Anstalten, Eliza darauf anzusprechen. Als die beiden Sex haben, steckt sie Keith an. Ihn befällt die Krankheit glücklicherweise nur mit kleinen Hautveränderungen, die Kaulquappen ähneln. Andere Teenager trifft es härter: Mit entstellten Gesichtern werden sie von der Gesellschaft ausgeschlossen. In den Wäldern außerhalb der Stadt bauen sie ein Outsider-Camp auf. Doch auch dort treibt der Horror sein böses Spiel mit den Ausgestoßenen.

„Black Hole“ erschien 1995 in den USA nach mehr als zehnjähriger Arbeit in einer Serie von 12 Ausgaben. Im Jahr 2011 veröffentlichte der deutsche Reprodukt-Verlag das Werk in einer übersetzten Gesamtausgabe. Es ist Burns‘ Opus Magnum, rund 400 Seiten stark. Inzwischen gilt der US-amerikanische Zeichner als einer der einflussreichsten Comic-Macher der neuen Generation, die Tiefgründigkeit und Ästhetik vereinen. Schon deshalb ist „Black Hole“ kein bloßer Sex-, Drogen- und Horror-Comic. „Black Hole“ ist anspruchsvolle Kunst, die betrachtet und gelesen werden sollte.

Burns schafft mit seinen Schwarz-Weiß-Bildern eine kontrastreiche und ganz eigentümliche Atmosphäre, einen Film Noir in Comic-Form. Dem titelgebenden schwarzen Loch meint man deshalb in jeder Zeichnung zu begegnen. Gleich zu Beginn drängt sich ein Loch-Quartett auf: ein sezierter Frosch, ein Schnitt in einer Fußsohle, die Rückenansicht eines sich häutenden Menschen und eine mit einer Hand bedeckte Vulva. Die sexuellen Anspielungen sind nicht immer unbedingt subtil, aber in der Adoleszenz erwacht das sexuelle Interesse oft auch nicht besonders rücksichtsvoll. Die Idee, die Zeit des Erwachsenwerdens und Heranreifens mit all seinen physischen und psychischen Entwicklungen als Krankheit darzustellen, ist schlichtweg grandios gelungen.

Eine Metapher für Aids?

Ist die Geschlechtskrankheit in „Black Hole“ auch eine Metapher für Aids? Charles Burns verneint diese Frage jedes Mal, wenn sie ihm gestellt wird. Die Mutationen sollen die Veränderung des Körpers beim Heranwachsen und die Ängste beim Finden der eigenen Identität versinnbildlichen, nicht aber auf Aids anspielen. Das wird beim Lesen dieser grausigen und doch bestechend berührenden Geschichte auch schnell deutlich.

Vielleicht verhilft die Verfilmung durch David Fincher dem Buch zu einer größeren Aufmerksamkeit. Das ist Charles Burns zu wünschen. Eine erste sehenswerte Kurz-Verfilmung hat der britische Regisseur Rupert Sanders auf seiner Webseite veröffentlicht. Und das Buch? Da gibt es nur eine Antwort: Lesen!

Charles Burns: Black Hole, Reprodukt Verlag, Berlin, 2011, 368 Seiten, schwarzweiß, Klappenbroschur, 24 Euro, ISBN 978-3941099753, Leseprobe (vergriffen)

Charles Burns: Black Hole, Reprodukt Verlag, Berlin, 2016, 368 Seiten, schwarzweiß, Klappenbroschur, 29 Euro, ISBN 978-3941099753 (Neuauflage im Februar 2016)

Die düstere Bibliothek des Herrn Murakami

Die unheimliche BibliothekAch, würde es doch mehr Jugendliche geben wie diesen Jungen aus Haruki Murakamis Erzählung „Die unheimliche Bibliothek“, die endlich auf Deutsch erschienen ist, kunstfertig von Kat Menschik illustriert. Eifrig leiht der kleine Mann Buch um Buch aus der Stadtbibliothek aus und findet seine Antworten abseits der Internetsuchmaschinen. Nur die fürchterliche Erfahrung im Keller der Bibliothek wünscht man sich für keinen Heranwachsenden. „Die unheimliche Bibliothek“ ist eine lesenswerte Erzählung, in der die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmen.

Der kleine Junge ist sicherlich nicht der typische Jugendliche der heutigen Generation. Von Google scheint er glücklicherweise noch nichts gehört zu haben. Stattdessen stillt er seinen Wissenshunger in den Büchern einer Bibliothek, die mit den wundersamsten Werken bestückt ist. Weiß er etwas nicht, besucht er stets die Stadtbücherei, um es herauszufinden. Das war schon immer so. „Schon von klein auf“, erzählt er. Als er sich eines Tages auf dem Weg nach Hause fragt, wie man damals im Osmanischen Reich eigentlich die Steuern eintrieb, muss er auch diese ungewöhnliche Frage gleich beantwortet wissen, findet er.

In den Untiefen der Bücherei trifft er schließlich auf einen Bibliothekar, der dem perfiden Horror einer Gebrüder-Grimm-Hexe in nichts nachsteht. Er gaukelt dem Jungen vor, ihn zum Lesesaal zu bringen. Tatsächlich aber führt er ihn durch ein unterirdisches Labyrinth in ein Kellerverlies, wo er den Jungen einen Monat lang eingesperrt lassen will, bis dessen Gehirn vor lauter angelesenem Wissen groß und schmackhaft geworden ist.

Die Ängste eines Heranwachsenden

Doch ein freundlicher Schafsmann und ein wunderschönes, aber stummes Mädchen verhelfen dem Jungen zur Flucht. Dabei bleibt stets die Frage: Wo hört der Traum auf und wo beginnt die Realität? Oder beruht alles auf einem Albtraum? Murakamis Erzählung jedenfalls gruselt den Leser mächtig, sofern er sich darauf einlässt, weil er das Kindsein noch nicht verlernt und die Ängste eines Heranwachsenden noch nicht vergessen hat.

Dass ein Hort des Wissens mit solchen Schrecken aufwarten kann, zeigt sehr malerisch die Angst, sich auch in einer vertrauten Umgebung letztlich nicht hundertprozentig sicher fühlen zu können. Doch so schrecklich die Erfahrung für den Jungen ist – hätte er eine Internetsuchmaschine benutzt, wäre er um sein wohl größtes Abenteuer gebracht worden. Und er hätte niemals das wunderschöne Mädchen kennengelernt. Das Ende jedoch, soviel sei verraten, ist ausgesprochen rätselhaft. Wer mit offen bleibenden Fragen am Ende eines Buches nicht umgehen kann, sollte deshalb besser die Finger von diesem Büchlein lassen.

Das Wort „Büchlein“ meint in diesem Fall die Lesemenge, denn „Die unheimliche Bibliothek“ ist ein gutes Beispiel für den Wert von Büchern. Nur 64 Seiten umfasst die Erzählung, 20 davon zeigen die ganzseitigen und düsteren Illustrationen der Berliner Zeichnerin Kat Menschik. Das gebundene Buch kostet 14,99 Euro – wer da Geld durch Seitenzahl teilt, hat keinen Sinn für bibliophile Ausgaben. Denn der Verlag DuMont legt hier eine wirklich herrliche Edition vor: Die Illustrationen, das hochfeine Papier, das Lesebändchen, der würdige Umschlag – das alles macht die Erzählung zu einem wahren Leseerlebnis.

Mit aktuellem Wälzer in aller Munde

Dass Murakami, der derzeit mit seinem aktuellen Wälzer „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ in aller Munde ist, auch solch kurze Geschichten famos erzählen kann, hat er schon in zwei vorangegangenen Erzählungen bewiesen. Auch „Die Bäckereiüberfälle“ und „Schlaf“ sind beide in ähnlich opulenter Aufmachung und ebenfalls von Kat Menschik illustriert im DuMont-Buchverlag erschienen.

Murakami ist nach wie vor ein Anwärter auf den Literaturnobelpreis. Auch sein neuestes Werk wird schon wieder als meisterhaft gefeiert. „Die unheimliche Bibliothek“ wirkt da fast wie eine Schreibspielerei. Die ist jedoch nicht minder faszinierend.

Haruki Murakami: Die unheimliche Bibliothek, DuMont Buchverlag, Köln, 2013, 64 Seiten, 20 farbige Abbildungen, Lesebändchen, gebunden, 14,99 Euro, ISBN 978-3832197179, Leseprobe

Das perfide Verbrechen

Gone GirlEs gibt Bücher, über die ein Leser zuvor nicht zu viel wissen sollte. So können sie ihn unvorbereitet und mit voller Wucht treffen. Der Roman „Gone Girl“ ist ein solches Buch. Wer es nicht gelesen hat, hat eines der aufregendsten Bücher des Jahres 2013 verpasst. Das perfekte Verbrechen ist überholt. Es lebe das perfide Verbrechen!

Ausgerechnet an ihrem fünften Hochzeitstag verschwindet Nicks Frau Amy. Die Haustür steht sperrangelweit offen, im Wohnzimmer liegt der Couchtisch in Scherben, Möbelstücke sind umgeworfen, alles sieht nach einem Kampf aus. Und Amy ist nicht da. Sie ist weg, verschwunden.

Die Polizei entdeckt in der Küche Reste von Blutspuren. Sie sind fortgewischt worden, nachdem dort jemand viel Blut verloren haben muss. Schnell konzentrieren sich die Ermittlungen auf Nick, der teilweise erschreckend dümmlich reagiert. Amys Eltern, die einst Millionen mit einer Kinderbuchserie über ihre Tochter verdient haben, fangen an, ihrem Schwiegersohn zu misstrauen. Und auch der Leser hat es schwer mit Nick.

Eine der Größen dieses Romans

Gerade das aber ist eine der Größen dieses Romans, der weniger Thriller oder Krimi, als vielmehr die erschreckende psychologische Studie einer Ehe ist. Die Autorin Gillian Flynn lässt Nick und Amy abwechselnd erzählen. Von Nick erfährt der Leser den aktuellen Fortgang der Geschichte, angefangen mit Amys Verschwinden.

Amy aber lässt den Leser ihre Tagebucheinträge vom Beginn ihrer Beziehung lesen. Anfangs sprüht aus ihren Zeilen die unbedingte Verliebtheit, die Schwärmerei, das Glück. Nick und Amy leben und arbeiten in New York und genießen den angenehmen Mittelklassen-„way of life“.

Doch dann geraten Leben und Liebe in Schieflage. Beide verlieren ihre Jobs als Journalisten, und Nicks Mutter liegt im Sterben. Der beschließt für Amy gleich mit, dass sie in seine Heimatstadt ziehen. Nach North Carthage, Missouri, in ein Haus direkt am Mississippi River.

Weder Glück noch Freunde

Dort findet Amy weder Glück noch Freunde. Das geht auch nicht spurlos an der Beziehung vorbei. Beide reiben sich aneinander und gegenseitig auf. Und plötzlich ist Amy weg. Nachbarn berichten der Polizei von lauten Streitereien. Der Verdacht fällt unweigerlich auf Nick.

Doch das Verschwinden Amys ist nicht das einzige Mysterium des Romans. Rätselhaft ist auch, wie sich ein auf den ersten Blick so perfektes Paar nach nur wenigen Jahren derart voneinander entfernen kann. Die Bezeichnung „Entfremdung“ wäre noch euphemistisch. Der Roman berührt damit auch die ureigenen Ängste, die jeder romantischen Beziehung zugrundeliegen, ohne dass man sie offen zu Tage treten lässt: Können wir das anfängliche Glück, die Liebe, das unbedingte Vertrauen über Jahre hinweg erhalten? Oder sind die Geheimnisse, die wir voreinander haben, wie ein schwarzes Loch, das uns unaufhaltsam ins Nichts zieht?

In den USA war Flynns Roman ein Bestseller. Die Rezensenten der großen Zeitungen überboten sich in ihren begeisterten Lobeshymnen. Regisseur David Fincher verfilmt das Buch derzeit mit Ben Affleck und Rosamunde Pike. Schon 2014 soll es in die Kinos kommen.

Auch in Deutschland wurde das Buch bereits sehr hofiert. Der Fischer Verlag begleitete das Erscheinen mit einer großen Werbekampagne. In den meisten Fällen mutet ein solcher Aufwand seltsam an. Der Verdacht liegt nahe, dass es dieses Buch ohne Werbung niemals in die Hände deutscher Leser schaffen würde. Doch in diesem Fall ist das Brimborium berechtigt. „Gone Girl“ ist eine Wucht.

Gillian Flynn: Gone Girl – Das perfekte Opfer, Fischer Scherz Verlag, Frankfurt, 2013, 576 Seiten, broschiert, 16,99 Euro, ISBN 978-3502102229, Leseprobe

Vom Vögeln statt Lieben

Maria RosenblattSex spielt in dem neuen Roman von Corinna T. Sievers eine wichtige Rolle. Maria Rosenblatt, die herrische Chefin in einem männerdominierten Kommissariat der Stadtpolizei in Zürich, ermittelt in mehreren Fällen von Kinderpornografie, die sie an ihre Belastungsgrenze bringen. Sie selbst ist süchtig nach Sex und Liebe, ihr Ehemann aber hat zum letzten Mal mit ihr geschlafen, als sie vor fünf Jahren die zweite Tochter zeugten. Was also tun? Der Roman ist offen und direkt: Es wird gefickt und gelitten in diesem wirklich lesenswerten, harten Psychogramm einer starken Frauengestalt. Männer sind hier nur Kretins.

Maria Rosenblatt ist 45 Jahre alt und steckt in einer Ehe, bei der Mann und Frau mehr Lebenspartner als Sexualpartner sind. Auch die Kommunikation ist auf der Strecke geblieben. Geäußert wird nur noch ein verwässertes Etwas der Essenz. Maria rackert sich ab, beruflich wie privat, sendet hoffnungsvoll Signale eines noch nicht erkalteten Interesses an ihrem Mann und ihrer Ehe und erntet doch nur Vorwürfe, sie kümmere sich nicht ausreichend um die Kinder.

Auch in ihrem aktuellen Fall geht es um Kinder. Unbekannte Täter fotografieren tote Kinder in pornografischer Art und Weise. Durch Zufall wird ein Handy mit entsprechenden Bildern gefunden, die offenbar per MMS verschickt worden sind, von Prepaidhandy zu Prepaidhandy, nicht nachzuverfolgen. Die Bilder in der Akte, vor Augen und im Kopf belasten nicht nur Maria, sondern gehen auch dem Leser an die Nieren.

Als Frau männlich sein

Die Ermittlungen sind zäh. Dabei ist es nicht hilfreich, dass Maria auch im Kommissariat an verschiedenen Fronten kämpfen muss. Im Grunde muss sie als Frau männlich sein, schroff, herrisch, streng. Um für die Männer nicht nur eine Frau, sondern die Vorgesetzte zu sein.

Sie ist genervt von einem Kollegen, der sich in ihrer Gegenwart ungeniert zwischen die Beine fasst. Ein anderer, Detlef, war einst ihr Liebhaber. Er behauptet, seitdem nur noch blonde Frauen vögeln zu können. Zu vögeln, nicht zu lieben. Sie hatte ihn damals verlassen, weil er nicht fähig war, ihr beim Sex schmutzige Worte ins Gesicht zu sagen. Darauf steht sie: Dirty Talk. Stattdessen war er ihr hörig.

In den Armen des neuen, ihr vorgesetzten Staatsanwalts findet sie einen Zufluchtsort, zwischen seinen Beinen einen Zu-Ficken-Ort. Es ist die Flucht vor der totalen Erschöpfung. Beim Steinmetz am See bestellt sie ihren eigenen Grabstein. Sie zahlt ihn an, doch am nächsten Tag storniert sie den Auftrag. „Abends im Bett hatte sie Hannes gefragt, ob es ihm auch so ginge, dass er die Toten um ihre Ruhe beneide.“ Ruhe. Mitunter findet sie die, wenn sie am See steht, ein wenig abseits der Autostraße in die Stadt. Ansonsten betäubt sie sich mit Alkohol.

Klare, sehr nüchterne Wortwahl

Die Figur der Maria Rosenblatt ist keine Sympathieträgerin. Doch gerade das ist einer der wichtigsten Aspekte des neuen Romans der Ärztin und Autorin Corinna T. Sievers. Einer netten, zuvorkommenden Frau nähme man die Geschichte nicht ab. Sie muss also eine harte, toughe Frau sein, wild und schamlos. Das Buch steht ihr in nichts nach. Es ist ein kurzer, nur rund 140 Seiten umfassender Kanten, der sich mit Wucht ins Gehirn hämmert. Hier wird nichts beschönigt. In klarer, sehr nüchterner Wortwahl beschreibt Sievers den atemlosen Kampf dieser Frau.

In einem Interview mit der in Bielefeld erscheinenden Tageszeitung Neue Westfälische erklärte Sievers eine der Intentionen ihres Buches: „Ich verstehe mein Buch (…) auch als Hilfeschrei einer Ärztin, die in ihrer Profession fast immer nur von Männern umgeben ist, die oftmals nicht trennen können zwischen dem Erotischen und dem Intellektuellen, wenn sie einer Frau begegnen.“

Der Roman ist wahrlich kein freudiges Leseerlebnis. Und dennoch ist es ganz und gar lesenswert. Ein ernsthaftes, wichtiges Buch.

Corinna T. Sievers: Maria Rosenblatt, Verlag Lutz Schulenburg (Edition Nautilus), Hamburg, 2013, 143 Seiten, gebunden, 16 Euro, ISBN 978-3894017798, Leseprobe