Krass, man!

Fürwahr, es ist ein dünnes Büchlein, das Tamara Bach als ihr erstes beim Carlsen Verlag vorlegt, nachdem sie schon drei andere Kinder- und Jugendbücher bei anderen Verlagen veröffentlicht hat. Es ist ein dünnes Büchlein mit dicken Themen: Freundschaft, Verlust, Ängste, Trauer, Erwachsenwerden, Verzweiflung, erste Liebe. Zu viel für 140 Seiten? Nein, das alles darf sein und rein in so einen Text – wenn er so ungewöhnlich daherkommt, wie die preisgekrönte Tamara Bach ihre Bücher schreibt. Weil sie anders sind. Aber vielleicht hat sich Tamara Bach auch ein wenig verzettelt in ihrer Andersheit. Ihr Verlag indes weiß sie trotzdem zu rühmen.

„Was vom Sommer übrig ist“ ist keine leichte Sommerlektüre für den Strandkorb, sondern harte Lesearbeit. Es erzählt von der 17-jährigen Louise und der 12-jährigen Jana, die sich an einem heißen Sommertag begegnen. Louise ist im Ferienjob-Dauerstress, weil sie nicht nur einen Job beim Bäcker angenommen hat, sondern auch noch den Hund ihrer Oma hütet und für einen Freund dessen Job übernommen hat, die Zeitungen auszutragen. Mit den vielen Jobs will sie möglichst schnell ihren Führerschein finanzieren, bietet der doch einiges an Unabhängigkeit. Jana dagegen sucht und flüchtet. Sie sucht Aufmerksamkeit und flüchtet vor der atemlosen Stille zu Hause, seit ihr Bruder Tom von einer Brücke sprang. Ihre Eltern sind pausenlos bei ihm im Krankenhaus und vergessen sogar Janas 13. Geburtstag. Und just an diesem Tag trifft sie auf Louise.

Erzählt wird die Geschichte aus beiderlei Sicht, wobei dem Perspektivwechsel manchmal schwer zu folgen ist. Leicht hat es auch derjenige Leser nicht, der sich gegen Jugendsprache sperrt, denn Tamara Bach lässt ihre beiden Charaktere oft in einem Bewusstseinstrom einfach drauflos erzählen, ohne Punkt und Komma, gerne auch in unvollständigen Sätzen. Das macht das Buch nicht unbedingt einfacher, aber auch nicht weniger lesenswert. Fast kunstvoll, nur an wenigen Stellen unangenehm gekünstelt, lässt Tamara Bach die beiden Mädchen zu Wort kommen. Trotzdem bleibt die Sprache stets grammatisch korrekt und einwandfrei, wenn sich Bach der typischen Auslassungszeichen wie des Apostrophs bedient.

„Gerade die Verwendung des Dativs ist absichtlich“

In zwei Fällen aber, nur in zwei Fällen, stimmt die Grammatik unangenehm nicht. Der Verlag, vom Rezensenten darauf hingewiesen, dass es sich möglicherweise um zwei Fehler handeln könnte, weil ansonsten die Grammatik eingehalten werde, und ob der Verlag die Fehler in der nächsten Auflage berichtige, antwortete – und hier wird die Antwort gerne in ihrer Gänze zitiert: „Tamara Bach hat einen eigenen, absichtlich ungewöhnlichen Sprachstil gewählt. Sie schreibt immer abwechselnd aus der Sicht der beiden Hauptfiguren und hält den Erzählstil deshalb absichtlich „jugendlich“ oder umgangssprachlich. Man könnte den Stil auch assoziativ nennen. Sätze sind absichtlich unvollständig, es fehlen Artikel oder es kommen Gedankensprünge vor. Oftmals werden so Rechtschreib- und Satzbaukonventionen ignoriert. Deshalb sind die von Ihnen gemeinten Stellen keine versehentlichen Fehler. Gerade die Verwendung des Dativs im Zusammenhang mit „wegen“ ist absichtlich. Es ist korrekter, sauberer den Genetiv zu verwenden, dies würde jedoch zu dem umgangssprachlichen Ton der jugendlichen Figuren nicht passen.“

Jugendsprache hin oder her – aber das geht nicht. Lassen wir in Zukunft aus Jugendbüchern den Genetiv fort, weil die Jugendsprache ihn auch nicht kennt? Wird „brauchen“ ohne „zu“ gebraucht, weil nicht nur die Jugendsprache es nicht mehr kennt, sondern weil selbst gestandene Wortverwender die Regel missachten? Ist es denn nicht viel mehr eine Kunst des Bücherschreibens, wenn man die Jugendsprache einzufangen, sie aber dennoch in den grammatischen Regeln zu halten vermag?

Ansonsten aber legt Tamara Bach hier ein berührendes Buch vor, das nicht nur ein Jugendroman ist. Und ganz sicher keine leichte Sommerlektüre, sondern ein dünnes Büchlein mit dicken Themen. Oder sollte man besser schreiben: „Krass, man“?

Tamara Bach: Was vom Sommer übrig ist, Carlsen Verlag, Hamburg, 2012, 140 Seiten, mit Lesebändchen, gebunden, 12,90 Euro, ISBN 978-3551582423

Oh, schaurig ist’s…

Arthur Kipps ist noch ein junger Anwalt, als er von seiner Kanzlei in eine gottverlassene Gegend Englands geschickt wird, um den Nachlass der verstorbenen Mrs. Drablow zu regeln. Ihr Anwesen ist nur bei Ebbe über den Nine Lives Causeway zu erreichen. Wer den Damm verlässt, droht jämmerlich im nebligen Sumpfgebiet zu versinken. Doch was den Advokaten in Eel Marsh House erwartet, hätte er sich in seinen dunkelsten Träumen nicht ausgemalt.

Es ist Angang November, und der frisch verlobte Arthur Kipps freut sich, dem Londoner Nebel zu entkommen. Dankbar nimmt er den Auftrag an, der Beerdigung beizuwohnen und im Anwesen der Verstorbenen nach dem Rechten zu sehen. Crythin Gifford heißt der kleine schmucke Ort, in dem er absteigt, um die Beerdigung abzuwickeln. Doch die Dorfbewohner sind seltsam verschlossen, und auch der Immobilienmakler, der Kipps in die Sachlage einweisen soll, gibt nur ganz und gar verhalten Auskunft. Und so verwundert es Kipps kaum, dass niemand außer ihm und dem Immobilienmakler an der Trauerfeier für die alte Dame teilnimmt.

Am Ende der Messe vernimmt Kipps jedoch ein Rascheln in der Kirche – er dreht sich um und entdeckt mehrere Bankreihen hinter sich eine offensichtlich trauernde Frau. „Allerdings sah ihre Kleidung aus, als wäre sie aus einer alten Truhe oder einem Schrank gekramt worden, denn das Schwarz war ein wenig verschossen.“ Bleich, ausgemergelt und mit tief eingesunkenen Augen hockt die Frau in Schwarz auf der Kirchenbank. Auch später auf dem Friedhof entdeckt er die mysteriöse Frau wieder. Der Immobilienmakler jedoch behauptet, niemanden gesehen zu haben.

Guter englischer Gruselstoff

Als er schließlich Eel Marsh House betritt, nimmt der Spuk volle Fahrt auf. Ein unsichtbares Kind wimmert und schreit, aus einem Zimmer ohne Klinke und Riegel dringen Klopfgeräusche, und immer wieder erscheint aus dem typisch englischen Nebel rund um Eel Marsh House die rätselhafte Frau in Schwarz. Susan Hills Schauerroman versprüht den feinen Grusel, der in diesem Genre vom Leser verlangt wird. Das ist kein Horror, kein Schocker, sondern guter englischer Gruselstoff, angelegt im viktorianischen Zeitalter.

Der Roman jedoch ist bereits 1983 in England erschienen, im Jahr 1993 erstmals auf Deutsch. Stephen Mallatratt hat den Roman für sein Theaterstück adaptiert, das seit mehreren Jahren erfolgreich am Londoner West End gespielt wird. Aber erst jetzt, fast 30 Jahre nachdem das Buch geschrieben worden ist, wird es für das Kino entdeckt. Und niemand Geringeres als „Harry Potter“-Darsteller Daniel Radcliffe spielt die Rolle des jungen Anwalts Arthur Kipps. Gefilmt wurde in den legendären britischen Hammer Studios, die in den 50er und 60er Jahren mit Horrorproduktionen wie „Dracula“ oder „Frankensteins Rache“ bekannt wurden, später aber Konkurs anmelden mussten. Die Hammer Studios wurden wiederbelebt und beleben nun ihrerseits einen Gruselstoff, der wie für sie geschrieben scheint.

Dies ist jedoch lediglich die Kritik des Buches, und da muss der Rezensent mit ein wenig Unverständnis bemerken, wie der Verlag versucht, die Popularität des Hauptdarstellers auszunutzen, um den „Roman zum Film“ besser zu vermarkten. Es hätte genügt, den Roman erneut auf den Markt zu bringen – mit einem passenden Umschlagbild selbstverständlich. Nun aber prangt auf der Vorderseite das Bild des Filmplakats und somit auch Daniel Radcliffe. Doch damit nicht genug: Im Innenteil erwarten den Leser acht Seiten mit Filmfotos. Für Radcliffe-Fans sicherlich ein Augenschmaus, für Freunde der viktorianischen Schauergeschichten jedoch unnötig.

Aus Sicht des Lesers wären zwei unterschiedliche Editionen sinnvoller gewesen: Das „Buch zum Film“, wie es vorliegt, für die Potter- und Radcliffe-Fans, und ein bibliophil gestaltetes für die Genießer von Schauergeschichten und Gruselromanen. Das allerdings hätte wohl auch eine gebundene Ausgabe erforderlich gemacht. Schade, dass solche Chancen zur doppelten Vermarktung nicht genutzt worden sind, denn Susan Hills Geschichte hätte diese Huldigung durchaus verdient.

Susan Hill: Die Frau in Schwarz, Knaur Taschenbuch Verlag, München, 2012, 202 Seiten, acht Seiten Filmfotos, Taschenbuch, 9,99 Euro, ISBN 978-3426502204

Es gibt Schlimmeres im Leben als Drachen

Der zwölfjährige Gustave hat’s nun wirklich nicht leicht: Erst zerstört ein Siamesischer Zwillingstornado sein Schiff und saugt seine Mannschaft in den Himmel, da trifft er auch schon auf den Tod und dessen etwas anstrengende Schwester Dementia. Der Tod ist nicht zimperlich und stellt dem lebenswilligen Gustave sechs Aufgaben. Verliert er, gehört seine Seele dem Tod. Es beginnt eine wilde Reise durch die Nacht.

Der gleichnamige Roman des „Käpt’n Blaubär“-Schöpfers Walter Moers ist ein Ausbund an Phantasie, Humor und Andeutungen an die Weltliteratur. Es ist ein Kinderbuch und ein Buch für den belesenen erwachsenen Leser. Dem Kind wird es herzlich egal sein, wie das sprechende Pferd heißt, auf dem Gustave manche Abenteuer erlebt – es hat genug Witz für das eine oder andere Kinderkichern. Der erwachsene und belesene Leser aber freut sich, dass das Pferd Pancho Sansa heißt und erkennt eine Anspielung auf Don Quijote. Doch der besondere Kniff des Buches ist: Es ist nicht von Moers selbst illustriert worden, sondern von Gustave Doré, ohne dass der davon je erfahren hätte.

Gustave Doré war ein bekannter Maler und Grafiker des 19. Jahrhunderts, der sich vor allem durch seine Illustrationen zu Cervantes‘ Don Quijote, Dantes Göttlicher Komödie und der Bibel einen Namen gemacht hat. Schon als Schüler wurde seinen große Begabung offenbar – mit neun Jahren begann er seine Zeichnungen an Dantes Göttlicher Komödie, mit 15 Jahren verdiente er sein erstes Geld mit seinen Illustrationen. Fast 120 Jahre nach seinem Tod zieren seine Xylografien nun das Werk „Wilde Reise durch die Nacht“ von Walter Moers. Der hat die Holzschnitte aus verschiedenen Werken entliehen und daran entlang seine skurrile Geschichte erzählt.

Sechs Aufgaben muss der junge Held in einer Nacht bestehen. Dabei klingt eine schlimmer als die andere: Eine Jungfrau aus den Klauen eines Drachen befreien, möglichst auffällig durch einen Gespensterwald reiten oder gar dem schrecklichsten aller Ungeheuer einen Zahn ziehen. Das scheint gar furchtbar zu sein, aber Moers ist bekannt dafür, dass er die Erwartungen seiner Leser auf den Kopf stellt. Und so muss Gustave schon im ersten Abenteuer erkennen, dass es weitaus Schlimmeres im Leben gibt, als einem Drachen zu begegnen. Der Liebe etwa.

Es weht eine Luft von alten Abenteuerbüchern durch den Roman. Das fühlt sich ganz und gar großartig an, würdigt aber als Taschenbuchausgabe fast zu wenig die schaurigen Zeichnungen des Gustave Doré. Die gebundene Ausgabe jedoch ist vergriffen und derzeit nur antiquarisch erhältlich. Das ist schade, hätte dieser Roman von Walter Moers doch eine stets im Buchhandel verfügbare Prachtausgabe verdient.

Walter Moers: Wilde Reise durch die Nacht, Goldmann Verlag, München, 2003, 224 Seiten, Taschenbuch, 9 Euro, ISBN 978-3442452910;
gebunden (derzeit vergriffen): Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 2001, 208 Seiten, ISBN 978-3821808901

Veronikas Mann beschließt zu sterben

Schon seit Jahren steht das Foto seines verstorbenen Vaters im Bücherregal seines Zimmers, aber erst an einem Mittwoch in den Herbstferien wird der 17-Jährige neugierig, wer sein Vater war und warum er Selbstmord beging. Der Anfang einer Spurensuche zur Zeit einer verbohrten Gesellschaft.

Kurz nach seiner Geburt begeht der Vater Selbstmord. Das einzige, was ihm von seinem Vater bleibt, ist eine gerahmte Fotografie, die in seinem Bücherregal steht. Als der Junge sie an jenem Tag in den Herbstferien genauer betrachtet, entdeckt er nicht nur, das sein Vater am Handgelenk eine Uhr trägt, die er noch nie gesehen hat, sondern dass die Zeiger der Uhr auf Viertel nach sieben stehen – für einen Fototermin eine unübliche Zeit, sowohl am Morgen als auch am Abend. Der Junge löst den Rahmen und entdeckt auf dem Rücken der Fotografie einen Namen: André Gros aus Paris – sein eigener Patenonkel, den er ebenfalls noch nie gesehen hat.

„André Gros war der Mann, den wir aus den Augen verloren hatten, von dem ich nur drei Dinge wußte, daß er seine Kindheit und Jugend in der Schweiz verbracht hatte, daß er ein Schulfreund meines Vaters gewesen war und daß er sich nach dessen Beerdigung nicht mehr gemeldet hatte.“ Als der Junge mit seiner Mutter Veronika über den Verbleib der Armbanduhr spricht, erfährt er noch ein viertes Detail über seinen Patenonkel: Er besitzt die Uhr seines Vaters. Seine Mutter hatte sie ihm nach dem Tod ihres Mannes geschickt, weil sie für sie keine Bedeutung hatte.

Der Junge ist fassungslos. Er hebt all sein Geld ab, das er auf Sparbüchern und Bankkonten hat, und reist nach Paris, um seinen Patenonkel zu treffen. Der ist nicht wenig überrascht und dennoch bereit, dem Jungen Hinweise darauf zu geben, warum dessen Vater sich das Leben nahm: „Man kann sich über vieles hinwegsetzen, vor allem über die Blicke der anderen. Man muß es nur verstehen, sich nicht aus der Bahn werfen zu lassen. Mir ist es gelungen. Ich glaube, es ist mir gelungen. Deinem Vater nicht.“

Lange Zeit ist das Buch ein Roman der Andeutungen. Man muss schon zwischen den Zeilen lesen, um zu erahnen, was wirklich schiefgelaufen ist im Leben des Emil Ott, als er sich kurz nach der Geburt seines ersten Kindes das Leben nimmt. Der Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer hat sich eines Themas angenommen, über das schon so vieles geschrieben worden ist, auch über die Suche der Nachkriegsgeneration, die zu wenig über ihre Eltern weiß. Und trotzdem ist „Zur falschen Zeit“ kein weiteres dieser schon so oft geschriebenen Bücher.

Sulzer schreibt feinsinnig und stilsicher, mit einer Sprache und Wortgewandtheit, die an Max Frisch erinnert. Man legt es nicht aus der Hand, dieses Buch. Hier wird nicht rasant geschrieben, sondern die Geschichte tickt langsam, aber stetig voran wie das Räderwerk einer Uhr. Schon bald greift Sulzer zu verschiedenen Erzählebenen, die dem Leser eine Vorausschau ermöglichen. Es ist ein gekonntes Hin und Her zwischen Vor- und Rückblenden und den Erlebnissen aus der Sicht des Jungen. Und es entsteht das Portät eines Mannes, der „zur falschen Zeit“ und in einer kleinbürgerlichen Welt lebte und liebte. Ein Buch, das man gelesen haben sollte.

Alain Claude Sulzer: Zur falschen Zeit, Galiani Verlag, Berlin, 2010, 231 Seiten, gebunden, 18,95 Euro, ISBN 978-3869710198

Der britische Sündenbock

Der Kalte Krieg war gerade auf einem seiner Höhepunkte, als in London der britische Kriegsminister John Profumo über eine Affäre mit dem Fotomodel Christine Keeler stürzte, die gleichzeitig eine Liebelei mit dem sowjetischen Marineattaché Jewgenij Iwanow hatte. Als Gewährsmann galt der High-Society-Osteopath Dr. Stephen Ward, der nicht nur mit Profumo, sondern auch mit Iwanow, Keeler und allerlei anderen britischen Stars und Sternchen verkehrte und einen Ruf als schillernder Lebemann hatte.

Als Profumo von seinen Ämtern zurückgetreten war, wurde urplötzlich Dr. Ward wegen Zuhälterei angeklagt und in einen Sensationsprozess gezerrt, in dem britische Prüderie auf den Beginn der „Swinging Sixties“ prallte. Den Prozess beobachtet hat damals die deutsch-britische Schriftstellerin und Journalistin Sybille Bedford. Jetzt ist ihre Gerichtsreportage erstmalig auf Deutsch erschienen und beeindruckt nachhaltig.

Es ist der 22. Juli 1963, als im Londoner Gericht Old Bailey die Anklageschrift gegen Dr. Ward verlesen wird. Dr. Ward, dessen Praxis einst Patienten wie Mahatma Gandhi, Winston Churchill oder Ava Gardner besuchten, war im Vorfeld des Prozesses „vorsichtig ausgedrückt, verfemt und in Ungnade gefallen“, wie Bedford schreibt. Vertreter der Anklage ist derselbe, der schon im „Lady-Chatterley“-Prozess mit seiner Prüderie für Aufsehen gesorgt hatte: der konservative Mervyn Griffith-Jones. So vermerkt Bedford, dass Griffith-Jones während des ganzen Prozesses nur das Wort „Geschlechtsverkehr“ verwendete, und es klingt in den Zeilen mit, wie angewidert der Ankläger das Wort ausgesprochen haben muss.

Was folgt, skizziert Bedford mit feiner Beobachtungsgabe. Sie ist empört, schlägt sich auf die Seite der Verteidigung, wirft Fragen auf, die im Prozess entweder nicht gestellt oder gar vom Richter und Staatsanwalt abgebügelt werden. Sie ist weit entfernt von jeglicher Vorverurteilung und predigt keine Moral. Mit Neugier verfolgt sie, wie unterschiedliche Gesellschaftsschichten aufeinanderstoßen und erkennt schon bald, wie wenig Chance besteht, die tatsächliche Wahrheit zu finden, wenn sich Politik, Justiz und Presse zusammentun, um einem Mann das Leben schwer zu machen. Man liest von Prostituierten als Zeuginnen, die Eide schwören, nur um die Aussagen später zu widerrufen. Von polizeilichem Druck ist die Rede, von Belastungszeuginnen, die hanebüchene Geschichten zum Besten geben, wenig hinterfragt von Staatsanwaltschaft und Gericht.

Das wirklich Tragische jedoch an diesem Fall ist, dass Dr. Ward seine Fürsprecherin nur ein einziges Mal kennengelernt hat – auf einer gemeinsamen Taxifahrt am Abend des letzten Gerichtstags. Dr. Ward und Sybille Bedford sollten sich nie wiedersehen, denn Dr. Ward nahm noch in derselben Nacht eine Überdosis Schlaftabletten.

„Wie dieses Urteil ausgefallen wäre, werden wir nie erfahren“, schreibt Bedford am Ende ihrer Gerichtsreportage. „Das ist nicht die einzige offene Frage nach diesem Prozess. Was war der Grund für die gnadenlose Verfolgung von Dr. Ward, und warum verfing sie? War es das Ergebnis einer bewussten Entscheidung, hat irgendjemand, irgendwo, bestimmte Dinge angedeutet, ausgesprochen, angeordnet? Oder war es die Summe von Zufällen, von fast unbewussten Manipulationen von Trends und Meinungen, von etwas Atmosphärischem? Wenn wir hartnäckig genug fragen, werden wir die eine oder andere Antwort bekommen. Der Rest darf nicht Schweigen sein.“

Der Fall des Dr. Ward ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Da hilft nur, sich hartnäckig dafür einzusetzen, dass dieses Buch gelesen und die Erinnerung wach gehalten wird. Lesen, unbedingt! „Der Rest darf nicht Schweigen sein.“

Sybille Bedford: Jagd auf einen Lebemann – Der Prozess Dr. Ward, Schirmer/Mosel Verlag, München, 2011, 101 Seiten, 15 Abbildungen in Duotone, gebunden, 12,80 Euro, ISBN 978-3829605434