Die Frau mit dem goldenen Tweet

Black BoxDie US-Amerikanerin Jennifer Egan ist eine Autorin mit ungewöhnlichen Ideen. Ihr Erfindungsreichtum und ihre oft raffinierte Erzähltechnik begeisterten zuletzt in ihrem Roman „Der größere Teil der Welt“, der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet worden ist. Jetzt hat sie einen neuen Coup gelandet: „Black Box“, ein Twitter-Roman, bei dem jeder Absatz nicht länger ist als 140 Zeichen. Unbedingt lesen!

„Ich habe mich gefragt, wie man einen literarischen Text schreiben könnte, der sich für die Verbreitung über Twitter eignen würde. Das ist natürlich keine ganz neue Idee, aber sie lässt sich vielfältig ausschöpfen – denn es hat etwas sehr Intimes, Menschen über ihre Handys zu erreichen, und mit 140 Zeichen kann erstaunliche Poesie entstehen“, schreibt die Autorin selbst über ihr neustes Werk.

„Erstaunliche Poesie“ ist noch untertrieben, denn „Black Box“ lässt sich auch als Sammlung von Aphorismen lesen: „Sonne auf nackter Haut kann ebenso sättigen wie eine Mahlzeit.“ Oder: „Ein hellstrahlender Mond kann einen in Erstaunen versetzen, egal wie oft man ihn schon gesehen hat.“ Oder: „Der Schrank einer Schönheit ist unverwechselbar. Er ähnelt einem Köcher voller bunter Pfeile.“ Noch dazu ist das kleine Büchlein vom Verlag Schöffling & Co. mit Liebe gestaltet: Der Umschlag schwarz glänzend mit weißen Lettern, der Buchschnitt schwarz, eine „Black Box“, die geborgen werden will.

Eine Datenschnittstelle im Fuß

Darin finden wir die Aufzeichnungen einer Agentin aus der Zukunft: Die 33-jährige Lulu stellt ihren Körper einem nicht näher benannten Geheimdienst als Aufzeichnungsmedium, als „Black box“ zur Verfügung. Ihr Körper, der kaum noch ihr eigener ist, dient zugleich als Eintrittskarte in die Welt der Reichen und Mächtigen.

Ihr neuster Auftrag führt sie ans Mittelmeer, wo sie auf die Beschattung eines Verbrechers angesetzt, der gefährlicher nicht sein könnte. Ihr Körper jedoch ist für den Auftrag bestens gerüstet: Im linken Auge ist eine Kamera mit Blitzlicht implantiert, im Ohr hat sie ein hochsensibles Aufnahmegerät und im Fuß eine Datenschnittstelle. Darüber hinaus beherrscht Lulu den Umgang mit den erotisierenden Waffen einer Frau.

Ihre Tweets sind eine Mixtur aus innerem Gedankenstrom und kurzen Nachrichten an ihre Auftraggeber. Dass dieser Kurznachrichtenroman auf knapp 90 Seiten aber auch eine ungeheuerliche Spannung erzeugt, liegt nicht nur an dem rasanten Stakkato der Tweets, sondern vor allem an der sprachlichen Raffinesse, gepaart mit einem grandiosen Feinsinn für Humor. Lulu könnte die Protagonistin für den nächsten Tarantino-Film sein, eine Superheldin, fernab von der Austauschbarkeit eines Bond-Girls.

Erst getwittert, dann als Buch veröffentlicht

Noch bevor „Black Box“ in Amerika als Buch veröffentlicht wurde, brachte das US-Magazin „New Yorker“ den Roman bei Twitter unter die Leser, Tweet für Tweet, Absatz für Absatz. Als der Roman am 7. August 2013 in Deutschland auf den Markt kam, taten es die Online-Redakteure des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ ihren amerikanischen Kollegen gleich und versendeten „Black Box“ an zehn aufeinanderfolgenden Abenden über den Rezensions-Kanal. Die Reaktionen waren gemischt: manche begeistert, andere verwirrt, verhalten lobend oder auch Unverständnis äußernd.

Fürwahr, dieser Twitter-Roman ist ein Experiment, über das sich trefflich streiten lässt. Aber wagen Sie es und lassen Sie sich darauf ein!

Jennifer Egan: Black Box, Schöffling & Co., 2013, 89 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 9,95 Euro, ISBN 978-3895612510

50 Cent für Mutti

PlaygroundDer US-amerikanische Rapper 50 Cent steht in Amerika derzeit vor Gericht, weil er seine Ex-Freundin verprügelt haben soll. Vor rund einem Jahr veröffentlichte er einen Jugendroman über einen jungen Schläger und die Spirale der Gewalt. Dazu ist von Bette Midler das Zitat überliefert, sie verneige sich vor 50 Cent, „weil er dieses Buch geschrieben hat“. Nachvollziehbar ist das nur zu einem kleinen Teil.

50 Cent ist bekannt dafür, dass es mit seinem Frauenbild nicht zum Besten bestellt ist. Umso verwunderlicher ist es, dass sich die Frauenfiguren seines Jugendromans „Playground“ überwiegend durch eine starke Persönlichkeit auszeichnen. Manche Passagen wirken sogar erstaunlich feministisch für den Mann, der sich einst als Porno-Rapper einen Namen machte.

Erste Sympathiepunkte sammelt 50 Cent schon in der Einleitung zu seinem autobiographischen Roman: „Ich bin der Erste, der zugibt, dass nicht alles, was ich in meinem Leben getan habe, vorbildlich war.“ Er habe „auf der falschen Seite des Gesetzes“ gestanden, sei „in Gewaltsituationen gewesen“ und wisse, „wie man zum Schläger wird“. Auch Burton, der 13-jährige Protagonist des Romans, wird zum Schläger. Und er erzählt in Rückblenden, wie es dazu kam, dass er Maurice auf dem Schulhof die Zähne ausschlug.

Butterball – der Name der Straße

Burton wird in der Schule nicht Burton genannt. Dort heißt er Butterball, weil er dick und rund ist. Doch er trägt den Namen mit Stolz, wie einen Brustpanzer. Als er nach der Prügelattacke auf seinen Mitschüler zum regelmäßigen Besuch bei der Psychotherapeutin Liz verdonnert wird, erklärt er auch ihr – fast herrisch -, er höre nur auf Butterball. Sie solle ihn ja nicht bei seinem richtigen Namen nennen. Butterball, das sei sein Name. Der Name der Straße, der Begriff, unter dem er bekannt ist und eine Persönlichkeit hat.

Burtons Eltern leben getrennt. Seine Mutter ist mit ihm in den schicken New Yorker Vorort Garden City gezogen, der für Burton nichts an Coolness zu bieten hat: „Kein Leben auf der Straße, keine Action, nirgends.“ Seine Mutter schuftet als angehende Krankenschwester Nachtschicht um Nachtschicht, um die Familie zu ernähren und ihrem Sohn etwas bieten zu können. Der aber verkennt ihren Einsatz, honoriert ihn nur mit Verachtung. Er fühlt sich einsam, glaubt sich allein im Kampf gegen seine Probleme in der Schule und auf der Straße.

Seinen Vater jedoch, ein Frauenheld und Lebenskünstler, vergöttert er. Jedes Wochenende bei ihm in New York City ist eine verheißungsvolle Flucht in die einstige Heimat. Doch anders als seine Mutter will ihm der Vater kein Zuhause bieten. Es dauert, bis Burton das herausfindet. Diese Erfahrung ist nur eine von vielen auf dem Weg zu einer Erkenntnis, die Burtons Leben ändern wird.

Mama ist doch die Beste?

Die Geschichte ist ganz nett erzählt, bietet aber keine neuen Einblicke. Das Gewaltpotential, das sich aus dem Milieu der sozial benachteiligten Heranwachsenden ergibt, ist schon aus anderen Büchern bekannt. Neu ist nur, dass 50 Cent mit einem Mal sehr viel Verständnis für Frauen aufbringt, sie fast auf einen Sockel stellt. Mama ist doch die Beste? Da mag sich Bette Midler zu Recht verneigen. Man sollte jedoch skeptisch bleiben, wie ernst es dem Rapper mit der Reue ist.

Vielleicht sorgt das Buch aber auch dafür, dass sich mancher 50-Cent-Fan von der Läuterung seines Idols anstecken und mal die Fäuste stecken lässt. Dann ist eine Verbeugung vor dem Autor angebracht. Auch wenn man nicht Bette Midler heißt. Letztlich bleibt der Erfolg einer solchen Intention aber äußerst vage. Was dann bleibt, ist nur noch ein Buch, das nicht verlegt worden wäre, wenn nicht 50 Cent es geschrieben hätte. Dafür muss sich niemand verneigen.

50 Cent: Playground, Rowohlt Verlag, 2012, 191 Seiten, broschiert, 13,95 Euro, ISBN 978-3862520329

Totgesagte leben länger

The Beat Goes OnIhr Rocker, Ihr Popper! Ihr Musikfetischisten da draußen! Aufgemerkt – dies ist Euer Buch, Euer Kalender und täglicher Begleiter im Jahr 2014: „The Beat Goes On“. Ihr meint, Sonny & Cher können Euch gestohlen bleiben? Aber niemals dieses Buch: Das „Kalendarium toter Musiker“ erinnert kongenial an 1.962 verstorbene Musiker. Und das Ganze ist auch noch herrlich anzuschauen.

Heutzutage notieren viele Menschen ihre Termine in ihrem Smartphone oder Internet-Kalender, damit sie weltweit darauf Zugriff haben und gar elektronisch an Omas Geburtstag oder den Hochzeitstag erinnert werden können. All jene, die noch Taschenkalender führen, werden dagegen jedes Jahr ab Juli mit einer Fülle von neuen Schrecklichkeiten zum Kauf angeregt, damit Tägliches vermerkt werden kann.

Zum siebten Mal aber gibt die Berliner Edition Observatör das „Kalendarium toter Musiker“ heraus und schafft damit erneut einen Kontrapunkt auf dem Markt der Taschenkalender. Bislang gelang ihr das jedoch nur für absolute Kenner. Doch jetzt konnte erstmalig Suhrkamp als Verleger für das Projekt gewonnen werden. Den Herausgebern ist zu wünschen, dass sie damit auch einem breiteren Publikum von Musikliebhabern und Vinylhörern bekannt werden.

Mit Liebe und Bedacht gefertigt

Äußerlich erinnert das Kalendarium mit seinem Leineneinband, dem Lesebändchen und den goldgeprägten Kreuzen auf dem Vorderdeckel eher an ein kirchliches Gesangbuch, wäre da nicht der kleine Grabstein auf der Rückseite. Das ist mit Liebe und Bedacht gefertigt. Im Vorwort erklären die Herausgeber die Spielregeln: Der Kalender solle als solcher benutzt werden, darüber hinaus sei er aber auch ein Nachschlagewerk. Aufgenommen werden nur Künstler, die nach 1945 gestorben sind. „Alles ist streng subjektiv, Kritik daher nutzlos.“ Wer will auch dieses Kleinod kritisieren? Und dann sehr deutlich: „Elvis ist der KING.“

Dass dem King of Rock’n’Roll derart und sogar in Versalien gehuldigt wird, wurde bereits in der ersten Ausgabe (2007) erklärt. Damals schrieb Stefan Hauser im Vorwort: „Nachdem wir zum dritten Mal in Folge den Todestag des KING vergessen hatten, reichte es meinem Freund Milan.“ Er machte sich mit den übrigen Herausgebern der Edition Observatör daran, all jene gestorbenen Musiker mitsamt ihren Todesursachen zu sammeln. Daraus entstand „The Beat Goes On“ (2008).

Und auch in der aktuellen Ausgabe sind wieder bekannte und weniger bekannte Musiker versammelt, die der Tod schon dahingerafft hat. Ihre Namen stehen als Fußnoten unter den freien Linien der Kalendertage. Isaak Hayes etwa, der am 10. August 2008 an einem Schlaganfall starb. Tot aufgefunden wurde er neben seinem Laufband. Oder aber der eher unbekanntere Monti Lüftner, der Whitney Houston entdeckte. Ihn erwischte es am 7. Mai 2009: Als er auf einem Recyclinghof Müll wegbrachte, wurde er von einem 18-Tonner überrollt. Oder auch Joseph Brooks, der „den meistverkauften Song der Siebziger geschrieben hatte“ („You light up my life“): Er wurde am 22. Mai 2011 mit einer Plastiktüte über dem Kopf tot aufgefunden. Zuvor war bekannt geworden, dass er jahrelang Frauen vergewaltigt hatte.

Sehr persönliche Rühmung

Die Herausgeber und Autoren sind eifrige Chronisten. Doch sie betätigen sich auch als Schreiber von Hommagen. Jeder Woche ist der „Death of the Week“ vorangestellt. Das mag zynisch klingen, ist aber in den meisten Fällen eine sehr persönliche Rühmung eines vom jeweiligen Autor sehr geschätzten Musikers. Jefferson Chase zum Beispiel widmet sich in der 18. Kalenderwoche sehr eindrucksvoll dem englischen Lead-Gitarristen Mick Ronson, den er „Archetyp eines Lead-Gitarristen“ nennt. Abschließend verweist er auf ein YouTube-Video, das Ronson mit der „Ian Hunter Band“ im Rockpalast zeigt. Dazu die Empfehlung: „Unbedingt ansehen bzw. anhören bzw. anbeten.“ Ja, es ist anbetungswürdig, in der Tat. Danke für diesen bereichernden Hinweis! *)

Dass manch einer recht unfreiwillig und teilweise kurios aus dem Leben geschieden ist, zeigt dieses Werk auch. Die große Stärke dieses Buches ist, dass die Autoren stets respektvoll bleiben, so hanebüchen die Todesursache auch ist. Im Anhang gibt es nicht nur eine famos-morbide Statistik (an Krebs sterben die meisten, aber auch 34 werden erschossen, zwei überleben das Russische Roulette nicht, einer fällt von einer Brücke und wird vom Verkehr überrollt), sondern auch eine Aufzählung der musikalischen Lieblingsmordszenen der Redaktion und eine Auflistung der redaktionellen Inspirations- und Arbeitsquellen.

Das „The Beat Goes On“-Jahr 2014 beginnt schon am 30. Dezember. Lassen Sie sich darauf ein und folgen Sie den Empfehlungen der Redakteure. Dieses Buch lässt Sie nicht nur in Erinnerungen an Ihre eigenen musikalische Helden schwelgen, sondern auch neue entdecken. Sonny & Cher können Ihnen trotzdem gestohlen bleiben. Sonny ist ohnehin schon tot. Woran er starb? Lesen Sie das „Kalendarium toter Musiker“.

Edition Observatör (Hg.): The Beat Goes On – Kalendarium toter Musiker für das Jahr 2014, Suhrkamp Verlag, 2013, 496 Seiten, gebunden, Leinenband mit Goldprägung, abgerundeten Ecken und Lesebändchen, 14,95 Euro, ISBN 978-3518464564 (Einblicke ins Buch)

*) Diese Rezension wäre so nicht geschrieben worden, hätte Jefferson Chase nicht auf das YouTube-Video „Ian Hunter Band feat. Mick Ronson“ hingewiesen. Vielen Dank!

Im Riesenrad der Siebziger

JoylandWer bei dem neuen Roman von Stephen King eine mystische Horrorgeschichte erwartet, wird enttäuscht sein. „Joyland“ ist kein Horror, sondern ein lesenswertes Märchen, ein zu Herzen gehendes Drama und eine bewegende Coming-of-Age-Story.

Erzählt wird die Geschichte des 21-jährigen Collegestudenten Devin Jones, der in den Semesterferien des Sommers 1973 im Vergnügungspark Joyland an der Küste von North Carolina anheuert. Dort haben die Fahrgeschäfte schon bessere Zeiten gesehen: Joyland ist ein maroder Massenvergnügungshort mit antikem Charme. Fortan ist Devin mal Karussellbremser, mal Zuckerwatteverkäufer oder Schießbudenbestücker und zeigt herausragendes Talent, als er zur Kinderbelustigung in das Fell des Park-Maskottchens „Howie the Happy Hound“ schlüpfen muss.

Als seine wenig sympathische Freundin Wendy mit ihm Schluss macht, ist er am Boden zerstört, denkt an Selbstmord und hört Pink Floyds „Dark Side of the Moon“ rauf und runter. Um einen klaren Kopf zu bekommen, verlängert er sein Engagement im Joyland. Auf seinen täglichen Wegen am Strand entlang, wo die Reichen mit ihren Villen protzen, lernt er einen Jungen im Rollstuhl, dessen Mutter und die Glückseligkeit kennen, die jemand versprühen kann, obwohl er zu jung sterben wird.

Eigenwillige Typen aus dem Schaustellermilieu

Tod und Vergänglichkeit, Loslassen und Gehenkönnen sind Themen, die in „Joyland“ stark zur Sprache kommen. Dass es in der Geisterbahn spuken soll, weil einst eine junge Frau ihrem Mörder nicht entgehen konnte, tritt dagegen fast gänzlich in den Hintergrund. Beherrschender sind die eigenwilligen Typen aus dem Schaustellermilieu, die King eindringlich und vorurteilsfrei beschreibt.

In King’schen Dimensionen gedacht, ist „Joyland“ mit rund 350 Seiten eher eine Kurzgeschichte und sein voriges Werk „Der Anschlag“ ein Roman. Aber King hat schon mit „Das Mädchen“ gezeigt, dass ihm auch kurze Abrisse gelingen. Und King kann sich erstaunlich zurückziehen, zurückhalten vor allem, fein beobachten. Seine Beschreibungen erzeugen Sehnsucht und Reiselust. Wie ein Bild von Edward Hopper.

Der Roman ist eine Eintrittskarte in eine schwüle Spätsommerphantasie, die glitzert, blinkt und Lärm macht wie ein Vergnügungspark. Selbst wenn es still wird und die Lichter ausgehen, dann ist die Erinnerung an die letzte Fahrt mit dem Riesenrad, das flaue Gefühl im Magen, der weite Blick über die Miniaturen am Erdboden eine nostalgische Flucht, die man wagen sollte. „Joyland“ lohnt sich. Es ist das weise Werk eines alten Meisters.

Die deutsche Übersetzung allerdings ist zeitweise befremdlich. Beharrlich wird im Zusammenhang mit „wegen“ der Dativ statt des Genitivs verwendet. Ebenso zieht sich das eher in Süddeutschland umgangssprachlich bekannte „es hat“ für „es gibt“ durch den Roman. Nachvollziehbare Gründe fehlen. Das ist ausgesprochen schade für ein so empfehlenswertes Buch, aber möglicherweise dem Verlagsort München geschuldet. Leser sollte es dennoch nicht davon abhalten, ihr Ticket für „Joyland“ zu lösen.

Stephen King: Joyland, Heyne Verlag, München, 2013, 352 Seiten, gebunden, 19,99 Euro, ISBN 978-3453268722

Hinweis: Diese Rezension ist auch in gekürzter Fassung erschienen in der Neuen Westfälischen Zeitung von Samstag/Sonntag, 10./11. August 2013, Nr. 184, 203. Jahrgang, hier: Magazin, S. 5

Die Welt ist eine Google

Silicon JungleWenn der Chefentwickler bei Google einen Roman schreibt, der auch von den Geschäftsgebahren eines fiktiven Suchmaschinenkonzerns handelt, muss man hellhörig werden. Die Enthüllungen von Edward Snowden haben eine Ahnung davon gegeben, wie mit persönlichen Daten umgegangen wird. Seitdem ist Shumeet Balujas Roman „Silicon Jungle“ aktueller denn je. Die Handlung selbst ist lau erzählt, die Sache an sich jedoch geradezu beklemmend.

Der junge Informatiker Stephen Thorpe hat sein erstes Startup-Unternehmen schon vor die Wand gesetzt, da wird er unter Tausenden von Bewerbern für ein Praktikum bei Ubatoo ausgewählt. Ubatoo ist die bekannteste Suchmaschine der Welt. Daneben bietet das Unternehmen viele weitere Produkte an: E-Mail-Adresse, Kalender, Kreditkarte, Mobiltelefon. Server, die auf der ganzen Welt verteilt stehen, speichern die Daten und erzeugen so eine riesige Datenwolke. Und genau auf diese Datenwolke bekommen die Praktikanten nun Zugriff.

„In diesem gewaltigen Archiv waren mehr personenbezogene Informationen gespeichert, als je zuvor in der Geschichte der Menschheit gesammelt worden war. (…) Ubatoo war über alles informiert, über deine Kaufgewohnheiten, deine E-Mails, von denen dein Boss nichts wissen sollte, die Fotos, nach denen du hinter verschlossenen Türen gesucht hattest. Und warum wurden diese Informationen gesammelt? Aus dem einfachen Grund: damit Ubatoo dir optimierte Werbung schicken konnte.“

Terror-Liste der Regierung

Stephen will sich beweisen. Er wird in einem sogenannten Data-Mining-Team untergebracht und erstellt aus den Benutzerdaten Algorithmen, um Produktwünsche voraussagen zu können, bevor der Nutzer selbst davon weiß. Doch eine solche Datenwolke birgt auch die Gefahr, dass sie missbraucht wird. Für den Mitarbeiter einer Bürgerrechtsorganisation, offensichtlich auch Geschäftspartner von Ubatoo, ermittelt Stephen eine Liste von 5.000 Menschen, die angeblich auf eine Terror-Liste der Regierung geraten sind. Fast zu spät merkt Stephen, dass seine Datenliste ganz woanders landet.

Balujas Roman funktioniert weder als Krimi noch als Roman, wie der Suhrkamp Verlag ihn eingestuft hat. Richtig warm wird man mit den Charakteren ohnehin nicht, dafür sind sie zu blass gezeichnet. Es fehlt an Tiefe und nachvollziehbarer Emotionalität.

Wäre es ein Sachbuch, hätte es bei seinem Erscheinen im Jahr 2012 die Verschwörungstheoretiker auf den Plan gerufen. Und wahrscheinlich hätte Shumeet Baluja unter Pseudonym schreiben müssen. So aber eröffnet er sein Buch mit den Worten: „Die Figuren, Unternehmen und Zahlen sind nicht real. Keine Sorge.“

Internetnutzer produzieren immense Datenmengen über sich

Das klingt beschwichtigend angesichts der Tatsache, dass Internetnutzer tagtäglich online unterwegs sind und immense Datenmengen über sich produzieren, die von Unternehmen wie Google und Facebook ausgewertet und wirtschaftlich genutzt werden. Wie groß diese Datenmengen sind, die auch geheimdienstlich gespeichert werden, ist erst bekannt, seitdem Snowden die Weltöffentlichkeit über das Überwachungsprogramm der USA informiert hat.

Balujas „Keine Sorge“-Empfehlung wirkt deshalb nur noch zynisch. Und es bleibt unklar, warum er sich in seinem ersten Roman ausgerechnet dem Thema Datenmissbrauch und Datenschutz widmet. Womöglich nur, weil er sich damit auskennt. Denn auch Google bietet fast allumfassende nützliche Dienste an, sammelt Daten noch und nöcher. Was damit tatsächlich geschieht, ist genauso ungewiss wie bei Ubatoo. Und niemand weiß das besser als Google-Chefentwickler Shumeet Baluja.

Shumeet Baluja: Silicon Jungle, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2012, 375 Seiten, Taschenbuch, 14,99 Euro, ISBN 978-3518463017