Die Wiederentdeckung der Ricarda Huch

Der Fall DerugaVor 150 Jahren kam in Braunschweig die spätere Historikerin und Schriftstellerin Ricarda Huch zur Welt. Inzwischen sind ihre bedeutenden Werke ein wenig in Vergessenheit geraten. Der Insel Verlag hat jetzt ihren bekanntesten Kriminalroman wieder neu aufgelegt, den Huch selbst als „Schundgeschichte“ bezeichnet hatte. Sie habe ihn nur geschrieben, um Geld zu verdienen. Heute, mit rund 100 Jahren Abstand, liest sich der Roman jedoch als historisch feinsinniges Gesellschaftsbild mit thematisch aktueller Brisanz.

Der Arzt Sigismondo Enea Deruga reist von Prag nach München, um einem ihm zu Ohren gekommenen Verdacht nachzugehen, er selbst solle seine geschiedene Frau umgebracht haben. Dort erfährt er, dass das Gericht schon beschlossen hat, gegen ihn Mordanklage zu erheben, so dass es geradezu vorbildlich sei, dass er sich selbst stelle.

Seine Frau, Mingo Swieter, war Anfang Oktober verstorben und hatte ihn in ihrem Testament zum Alleinerben ihres Vermögens gemacht. Das rief die Baronin Truschkowitz, die schon mit der Finanzspritze fest gerechnet hatte, auf den Plan. Sie brachte das Gericht dazu, eine Exhumierung anzuordnen, nach der unglücklicherweise festgestellt wurde, dass Mingo Swieter nicht an ihrer Krebserkrankung gestorben war, sondern an einem furchtbaren Gift namens Curare.

Ein Alibi kann Deruga nicht vorweisen

Von Deruga weiß man, dass er in argen finanziellen Nöten steckt, am Vorabend des Todes seiner Exfrau eine Fahrkarte nach München gelöst hat und erst am übernächsten Tag nach Prag zurückgekehrt ist. Ein Alibi kann er nicht vorweisen. Hat er in der Zeit also seine ehemalige Frau umgebracht, damit er weiterhin seinem verschwenderischen Leben nachgehen kann?

Der Verdacht wiegt schwer, und Deruga macht es weder dem Gericht noch dem Leser leicht, Ansatzpunkte zu finden, die für ihn sprechen. Im Gegenteil: Er ist mürrisch, provozierend, spottet über das Gericht und wird oft ungeduldig und aufbrausend. Der Gerichtsverhandlung scheint er nur mit einem Ohr zu folgen, und auch sonst zeigt er kein besonderes Interesse daran, dass der Verdacht gegen ihn entkräftet wird. Spricht das am Ende dafür, dass der Richtige auf der Anklagebank sitzt?

Ricarda Huch beschreibt ihre Figuren mit vornehmer Zurückhaltung und erzählt mit dem feinsinnigen Gespür für Dialoge und Ironie. „Der Fall Deruga“ gerät so zu mehr als nur einem Kriminalstück, das überwiegend vor Gericht spielt. Es ist vor allem ein scharfsinniger Gesellschaftsroman aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Hier sind die hierarchischen Strukturen noch klar getrennt: Es gibt den Gerichtspräsidenten und den Angeklagten, die Baronesse und das Dienstmädchen, den Arzt und den Bettler. Aber das ist nur der gesellschaftliche Ausgangspunkt.

„Schwarzes Haar und Feueraugen“

Mit ungutem Gefühl vernimmt der Leser gleich zu Beginn die Stimmen des Publikums, die dem Angeklagten einen „italienischen Typus“ bescheinigen, und zwar den der „verschlagenen, heimtückischen, rachsüchtigen Welschen“. Eine andere Stimme raunt: „Ich dachte, er hätte schwarzes Haar und Feueraugen.“ Und dass es doch unmöglich sei, dass ein Mordverdächtiger auf freiem Fuße sei, „noch dazu einer, der so aussehe, als ob er zu jedem Verbrechen fähig wäre“. Das ist fein beobachtet und heutzutage bei Mordprozessen leider kaum anders.

Der Gerichtssaal ist die kleine Bühne dieses Falls. Der Leser sitzt nah am Geschehen. Fast ist der Luftzug beim Schließen der Aktendeckel zu spüren, so dicht schildert Huch den Prozess, das Auf und Ab der Zeugen, die vielen kleinen Begegnungen vor Gericht und die manchmal sogar philosophischen Betrachtungen danach. Der Leser ist nicht nur Zuschauer, er wird zum Geschworenen, dem die schillernde Persönlichkeit des Doktors von allen Seiten präsentiert wird. Fürsprecher allerdings gibt es nur wenige.

„Der Fall Deruga“ ist aber auch der Roman einer Scheidung und trägt dabei autobiographische Züge. Die Person des Deruga gilt als deutliches Porträt von Huchs erstem Ehemann, Ermanno Ceconi, mit dem sie seit 1898 acht Jahre verheiratet und bis an dessen Lebensende im Jahr 1927 verbunden war. Auch das beschreibt „Der Fall Deruga“ eindrucksvoll: Jene seltene und die Zeit überdauernde Harmonie zwischen zwei schon geschiedenen Ehepartnern.

Was ist die moralische Pflicht?

Damit verknüpft ist es letztlich auch die stets aktuelle Brisanz der Sterbehilfe, die das Buch selbst nach fast 100 Jahren immer noch lesenswert macht. Obgleich es damals ein wenig erwähntes Thema ist, macht Huch es zum zentralen Sujet ihres Romans und bietet dem Leser die rechtliche und moralische Betrachtung. Wie ist jemand zu bestrafen, der auf Verlangen tötet, dem aber keine eigennützige Motivation nachzuweisen ist? Was ist die moralische Pflicht, was bedeuten Begriffe wie Nächstenliebe und Menschlichkeit?

Es steckt also viel drin in diesem kleinen Büchlein, das nun glücklicherweise vom Insel Verlag wieder aufgelegt worden ist. Endlich!, möchte man rufen. Der Ruhm der Schriftstellerin Ricarda Huch ist ein wenig vergangen, ihre Schriften über die Geschichte des alten Deutschlands vergessen und vergriffen. Möge „Der Fall Deruga“ der Anfang eines umfassenden Wiederlesens sein.

Ricarda Huch: Der Fall Deruga, Insel Verlag, Berlin, 2014, 213 Seiten, Taschenbuch, 7,99 Euro, ISBN 978-3458360131, Leseprobe

Die Zukunft hat schon begonnen

Der CircleDave Eggers Buch „Der Circle“ wird als das „1984“ des Digitalzeitalters beworben. Seitdem der Roman im August auch in Deutschland erschienen ist, wird er vielfach gelobt und gefeiert. Sogar renommierte Literaturkritiker wie Iris Radisch und der eigentlich so kluge Denis Scheck überschlagen sich förmlich und finden kaum Worte der Kritik. Doch um es deutlich zu sagen: „Der Circle“ ist alles andere als visionär. Und sterbenslangweilig ist er auch.

Der „Circle“ ist ein fiktiver Onlinedienst mit Sitz in Kalifornien. Nicht irgendeiner, sondern der größte und beliebteste. Er bietet die Online-Identität, mit der schlichtweg alles abgewickelt werden kann. Ein bisschen wie Google. Und ein bisschen wie Google versucht auch der „Circle“, den Weg zum Monopol zu beschreiten. Mit allen Mitteln.

Natürlich ist der „Circle“ auch ein begehrter Arbeitgeber. Und so ist vielleicht auch die Dankbarkeit und Überglücklichkeit der 24-jährigen Mae Holland zunächst zu verstehen, als sie einen Job beim „Circle“ ergattert. Der Roman steigt mit ihrem ersten Arbeitstag ein und begleitet Mae danach ganz linear bei ihren Erfahrungen.

Architektonische Wunderwerke aus Stahl und Glas

Mit ihr entdeckt der Leser auch den „Circle“-Campus, der das Nonplusultra von Arbeit und Freizeit vereint: Architektonische Wunderwerke aus Stahl und Glas bieten nicht nur helle Arbeitsräume und Büros, sondern auch Wohneinheiten für die Mitarbeiter, Fitnessräume, ein Schwimmbad, ein medizinisches Zentrum, eine Kindertagesstätte, ein Kino. Grünflächen laden zum Verweilen ein, und auf einer Bühne treten internationale Stars auf und geben kostenlose Konzerte, weil es eine Ehre ist, auf dem „Circle“-Gelände spielen zu dürfen. Das alles geht mit dem Wunsch des „Circles“ einher, dass sich das Leben seiner Mitarbeiter nur noch auf dem Campus abspielen sollte.

Doch der „Circle“ will noch mehr: Anfangs hat Mae nur zwei Bildschirme auf ihrem Schreibtisch stehen. Dann drei. Bald fünf. Immer mehr Aufgaben werden der jungen Mitarbeiterin zugeteilt. Und noch ein weiterer Bildschirm. Über die sozialen Netzwerke soll sie die Community stets über ihre Lieblingsprodukte auf dem Laufenden halten und immer mehr neue Freundschaften schließen. Als sie schließlich noch eine Kamera um den Hals trägt, die rund um die Uhr ihr Leben aufzeichnet und live ins Internet sendet, bleibt ihre Privatsphäre gänzlich auf der Strecke. Der „Circle“ nennt das „transparent werden“.

Doch ist das alles so visionär wie einst George Orwells „1984“ und Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“? Beide Bücher wurden im Zusammenhang mit „Der Circle“ immer wieder genannt. Viele der „Circle“-Visionen haben wir jedoch längst erreicht. Die Daten-Armbänder zum Beispiel, die Informationen zu Maes Gesundheit anzeigen, gibt es schon. Die Firma Apple hat gerade erst die iWatch präsentiert, die Ähnliches vermag. Bei Facebook oder Foursquare verbreiten wir, was wir mögen und wo wir uns gerade aufhalten, und Webcams weben ein immer dichteres Netz digitaler Scheinwerfer in die dunkelsten Ecken unserer Welt. Ohnehin sind wir über unsere Smartphones inzwischen fast überall und immer erreichbar. Schalten wir die Geräte ab, fehlt uns etwas. Wir haben gelernt, nicht privat sein zu müssen. Um es also mit dem Titel des lesenswerten ersten Buchs des Zukunftsforschers Robert Jungk zu sagen: „Die Zukunft hat schon begonnen!“ Der Roman „Der Circle“ aber bringt uns nichts, was wir nicht ohnehin schon wissen.

Geradezu überschwenglich gelobt

Vielleicht darf man das nicht als Makel dieses Buches sehen. Vielleicht genügt es schon, „mit einem Roman eine wichtige gesellschaftliche Debatte neu zu befeuern“. Das nämlich bescheinigt die Wochenzeitung Der Freitag dem Autor. Soviel ist sicher: Das Buch wird geradezu überschwenglich gelobt. Doch wird damit eine Debatte losgetreten oder gar befeuert? Vornehmlich werden damit die Verkaufszahlen befeuert, aber eine Debatte rund um die Auswirkungen des Internets auf die Menschheit und die Privatsphäre? Eher nein.

Man dächte sicherlich auch gnädiger über einen solchen Roman, wenn er wenigstens gut geschrieben wäre, oder zumindest so spannend und facettenreich, wie ihn manche Rezensenten offensichtlich gesehen haben:

„Eggers hat […] einen wahnsinnig fesselnden Roman [geschrieben], der Schauder hervorruft, den man […] keine Minute mehr aus der Hand legen möchte.“ (Hamburger Abendblatt)

„Aufregende Lektüre bis zur letzten Seite.“ (NDR Kultur)

„Dave Eggers hat sehr viel Ahnung von den katastrophischen Nachtseiten unserer Zeit. [Eine] grandiose Dystopie […].“ (Matthias Mattusek)

„Der Circle […], voller Dialogwitz und Rasanz, ist schon jetzt das meistdiskutierte Buch der Saison hierzulande – und das mit vollem Recht.“ (Bayrischer Rundfunk)

Doch „Der Circle“ ist leider auch stilistisch nicht gelungen: flache Figurenzeichnungen und schiefe Bilder gibt es hier eine Menge. Das fängt bei der Protagonistin Mae Holland an, die unglaublich naiv zu Werke geht. Möglicherweise ist das Absicht, aber so unreflektiert kann man doch nun wirklich nicht sein. Am Abend ihres ersten Arbeitstages ist Mae auf einer Party auf dem Campus eingeladen und trifft einen unbekannten Mann. Sie geht mit ihm mit. Denn: „Sie empfand in diesem Moment so viel Liebe für alle innerhalb dieser Mauern, wo alles neu und alles erlaubt war.“

Ähnlich gelingen Eggers auch Personenbeschreibungen: „Er hatte die Haut eines Kindes, die Augen eines deutlich älteren Mannes und eine markante Nase, schief und krumm, aber irgendwie verlieh sie dem Rest des Gesichts Stabilität, wie der Kiel einer Jacht.“ Ja. Das ist selten schöner ausgedrückt worden. Wie auch die Sexszene, an der sich Eggers versucht: „‚Mae‘, sagte er, als sie sich gegen ihn presste, ihre Hüften von seinen Händen gehalten, ihn so tief aufnahm, dass sie seine geschwollene Spitze irgendwo nah an ihrem Herzen spüren konnte.“ Und das soll Spaß machen? Kaum vorstellbar. Das kann nur wehtun!

Darüber hinaus ist die Welt, die Eggers in seinem Roman entwirft, sehr schlicht gehalten. Ist es wirklich vorstellbar, dass ein Konzern wie der „Circle“ so schnell an die Macht kommt und bestehende demokratische Strukturen ändern kann, ohne dass nennenswerte Gegenwehr aufkommt? Wohl kaum. Auch im „Circle“-Konzern ist Kritik praktisch nicht vorhanden. Die Angestellten finden alles dufte und jubeln ihrem Management bei jeder Präsentation frenetisch zu. Es gibt zwar einen geheimnisvollen Gegenspieler, der aber bleibt ziemlich blass im Hintergrund.

Mit seinen Vorgängerwerken sehr aufgefallen

Im Vorfeld durfte man sehr gespannt sein auf das Buch. Der Verlag rührte ordentlich die Werbetrommel und sorgte für die entsprechende Neugier. All die positiven Besprechungen taten das Übrige. Doch Dave Eggers ist in der Literaturszene auch kein Unbekannter mehr. Mit seinen Vorgängerwerken „Weit gegangen“ und „Zeitoun“ ist der US-Amerikaner bereits einem breiten Publikum aufgefallen.

In „Weit gegangen“ beschrieb er die Flucht eines sudanesischen Jungen ins rettende Äthiopien, ein sehr an die Nieren gehendes Stück Literatur, das auf einer wahren Lebensgeschichte beruhte. Auch „Zeitoun“, mehrfach ausgezeichnet, schildert einen wahren Fall: Nach dem Hurrikan Katrina gerät die syrisch-amerikanische Familie Zeitoun ins Visier der amerikanischen Terrorismusfahnder.

Die Vermischung von Fiktion und Realität mit den Stilmitteln der Literatur – das ist Eggers‘ Markenzeichen und seine große Kunst. In „Der Circle“ gelingt das alles leider nicht. Die Erwartungen an einen neuen großen Wurf sind enttäuscht worden. Lesen Sie nicht „Der Circle“. Lesen Sie lieber „Die Zukunft hat schon begonnen“.

Dave Eggers: Der Circle, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2014, 560 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 22,99 Euro, ISBN 978-3462046755, Leseprobe

Der Schmerz der Doppelgänger

Im ersten AugenblickDer neue Roman von Grégoire Delacourt, Autor des Bestsellers „Alle meine Wünsche“, wird von den Medien fälschlicherweise nur als Liebesroman gefeiert. Die französische Tageszeitung Le Figaro etwa schreibt: „Grégoire Delacourt hat den Liebesroman neu erfunden.“ Der Atlantik Verlag druckt das Lob gleich auf den Umschlag. Doch „Im ersten Augenblick“ ist auch der bedrückende Roman einer Identitätssuche und gerade deshalb so lesenswert.

Arthur Dreyfuss ist 20 Jahre alt, macht sich als Automechaniker die Hände dreckig und wohnt allein in einem kleinen freistehenden Häuschen am Rand eines französischen Örtchens mit 687 Einwohnern. Während er eines Abends eine Folge der TV-Serie „Die Sopranos“ sieht, klopft es plötzlich an der Haustür. Als er öffnet, steht vor ihm die amerikanische Schauspielerin Scarlett Johansson.

Obwohl ihm schlagartig bewusst wird, dass er nur seinen Lieblingsfernsehaufzug, weißes Unterhemd und Schlumpf-Boxershort, anhat, bittet er sie herein. „Und welcher Mann auf der Welt, selbst in Unterhemd und Schlumpf-Boxershorts, hätte zu der phänomenalen Schauspielerin aus „Lost in Translation“ nicht „Kommen Sie herein“ gesagt?“

Müde vom Licht der Scheinwerfer

Sie gesteht dem völlig verdatterten Arthur, dass sie vom Filmfestival in Deauville geflohen sei, um ein paar Tage zu verschwinden, müde vom Licht der Scheinwerfer. Arthur entscheidet sich, die erschöpfte Schauspielerin bei sich unterzubringen. Während er sich schlaflos auf dem Ikea-Sofa im Wohnzimmer herumwälzt, schlummert Scarlett selig zwei Etagen höher in seinem Jugendzimmer unter den Postern von Michael Schumacher und der nackten Megan Fox.

Am Abend ihres dritten gemeinsamen Tages gesteht die Schönheit in Arthurs Haus schließlich, dass sie nicht Scarlett Johansson, sondern Jeanine Foucamprez heißt. Sie sieht bloß aus wie Scarlett Johansson, haargenau wie Scarlett Johansson. Und sie leidet fürchterlich unter dieser Last, denn für die Öffentlichkeit ist die Person Jeanine Foucamprez eine unsichtbare Frau. Wahrnehmbar ist nur die äußere Hülle, die Scarlett Johansson gleicht wie das eine sprichwörtliche Ei dem anderen.

Wie geht ein Mensch damit um, dass die Öffentlichkeit das eigene Ich verleugnet und es in eine andere Rolle presst? Wie verhält sich ein möglicher Partner? Liebt er den Menschen oder den äußeren Schein? Und welche Auswirkungen hat beides auf ein Liebespaar? Das sind die Fragen, die – ja, mit einer anmutigen Liebesgeschichte verwoben – in diesem sprachlich außergewöhnlichen Roman gestellt werden.

Die Zweifel bleiben

Die echte Scarlett Johansson hat ihre Rolle in der Öffentlichkeit gefunden, Jeanine Foucamprez nicht. Unfreiwilliger Doppelgänger zu sein, macht nicht nur unglücklich, sondern vor allem einsam, denn die Zweifel bleiben, ob das Gegenüber wirklich den Menschen liebt und nicht doch nur das „Sieht aus wie…“.

Die Angst vor dem Verlust der eigenen Identität und das Doppelgängermotiv finden sich immer wieder in der Literatur („Das Bildnis des Dorian Gray“, „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“). Grégoire Delacourt fügt jetzt noch ein weiteres gelungenes Beispiel hinzu, wenngleich man ihn gewiss nicht mit Oscar Wilde oder Robert Louis Stevenson gleichsetzen kann. Literarisch kann Delacourt da nicht mithalten. Eindringlich aber sind all jene Leser davor zu warnen, die aufgrund des Klappentextes und des kitschigen Umschlags nur von einer schönen, unterhaltsamen Liebesgeschichte ausgehen. Dieses Buch vermag viel mehr!

Umso unverständlicher ist es, dass Scarlett Johansson gegen dieses Buch vor Gericht gezogen ist. Der Roman verletzte und nutze betrügerisch ihre Persönlichkeitsrechte aus. Johansson verlangte nicht nur 50.000 Euro Schadensersatz, sondern wollte auch erreichen, dass keine weiteren Rechte an dem Buch verkauft werden, es also zum Beispiel nicht verfilmt werden könnte. Johanssons Anwälte vertraten die Auffassung, Delacourt habe die Person Scarlett Johansson dafür missbraucht, seinen Roman aufzuwerten und zu einer Sensation zu machen.

„Archetyp der heutigen weiblichen Schönheit“

Delacourt war sprachlos, als er davon erfuhr. Er erklärte laut der britischen Tageszeitung The Guardian, er habe Scarlett Johansson ausgewählt, weil sie der „Archetyp der heutigen weiblichen Schönheit“ sei. Seine Hauptperson aber sei Jeanine Foucamprez, nicht Johansson. Es ist also mehr eine Hommage an die amerikanische Schauspielerin – die aber in Übersee nicht verstanden wurde. Vielleicht auch deshalb nicht, weil der Roman zum Zeitpunkt des Prozesses noch nicht ins Englische übersetzt worden war und Johansson ihn deshalb noch nicht gelesen habe, wie Delacourt in einem kurzen Interview mit der franzözischen Tageszeitung Le Figaro erklärte.

„Wenn ein Autor nicht mehr die Dinge erwähnen kann, die uns umgeben, eine Biermarke, ein Denkmal, einen Schauspieler … dann wird es kompliziert, Romane zu schreiben“, sagte Delacourt weiter. Das Problem daran ist: Marken haben einen Marktwert, und Hollywoodschauspieler haben den auch. Bei dem Prozess in Paris ging es also auch darum, welchen Wert die Marke Johansson hat. Den Gefallen tat das Gericht der Schauspielerin allerdings nicht: Delacourt und sein Verlag müssen 2.500 Euro Schadensersatz bezahlen und 2.500 Euro Anwaltskosten übernehmen. Die Rechte blieben unerwähnt.

Ironischerweise wäre es in Johanssons Heimatland gar nicht zum Prozess gekommen, erklärte der New Yorker Anwalt Lloyd Jassin gegenüber dem amerikanischen Nachrichtenmagazin „Time“. Dort ist die Garantie der Meinungsfreiheit im 1. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten („First Amendment“) unantastbar. In Europa aber, sagte Jassin, würden Persönlichkeitsrechte „sehr viel ernster“ genommen – für Johansson die beste Gelegenheit, sich darauf zu berufen und ein wenig Geld einzuheimsen.

Im Interview mit dem Figaro scherzte Delacourt: „Ich dachte, sie könnte mir Blumen schicken, weil es eine Liebeserklärung für sie war, aber sie wollte es nicht verstehen.“ Und weiter: „Sie beschwert sich über das, was ich sage, das ist ein wenig paradox, aber der Prozess ist schließlich sehr amerikanisch.“

Grégoire Delacourt: Im ersten Augenblick, Atlantik Verlag, Hamburg, 2014, 206 Seiten, gebunden, 17,99 Euro, ISBN 978-3455600018, Leseprobe

12 Frauen

AnnaliederWelche Entdeckung ist diese Autorin! Ein gutes Dreivierteljahr, nachdem Nadine Kegele bei der Lesefestwoche Wien aus ihrem Debütwerk „Annalieder“ vorgelesen hat, stellt sich das Gefühl der Hochachtung schnell wieder ein. Der Erstling, endlich vollständig vom Rezensenten gelesen, ist so tief beeindruckend wie schwierige Kost, aber nicht für jedermann geeignet.

„Annalieder“, das sind zwölf Erzählungen über zwölf Frauen, von denen Anna nur eine ist. Diese Geschichten sind allesamt keine Lieder, die man vergnügt trällern würde, obgleich sie Momente der Komik haben. Es sind vielmehr Melodien, die zu nachdenklichen Chansons taugen, viel Moll, einige Misstöne, scheinbar Unpassendes dazwischen, wie ein Klavierspieler, der zu viele Tasten auf einmal trifft.

Die Frauen in Kegeles Geschichten stecken mitten drin. Im Leben, im Schlamassel, im Auf- oder Ausbruch. Die eine schneidet sich versehentlich die Brustwarze auf, als sie mit dem Rasierer in der Hand nach dem Duschgel greift. Die andere kämpft mit den erzkonservativen Vorstellungen ihres Mannes, der eine Schlagbohrmaschine nicht in der Hand einer Frau sehen möchte und meint, Schwangere dürfen nicht verreisen.

Vaterfiguren zum Partner

Eine sucht sich Vaterfiguren zum Partner („Warum keinen Vater suchen, wenn man einen Vater vermisst, hatte sie geantwortet und mit dem Arm über ihren Mund gewischt.“), eine andere ist Prostituierte und mag nicht mehr.

Kegeles Frauen sind verwundet, ob nun tatsächlich blutend wie eine aufgeschnittene Brustwarze oder seelisch. Es geht um den alltäglichen Kampf der Geschlechter, das ewige „Mann und Frau“, das noch immer nicht gleichberechtigt ist. Es geht aber auch um Scham und existenzielle Fragen.

Schwangerschaft ist ebenso ein großes Thema bei Kegele. „Mir tut es immer leid, wenn sichtlich schwangere Frauen im Publikum sitzen und ich diese Geschichten vortrage“, sagte sie bei ihrer Lesung in Wien. Aber eine Mutterschaft sei etwas Schwieriges, wo Frauen viel abverlangt werde.

Man muss sich mit den Erzählungen beschäftigen

Auch dem Leser wird einiges abverlangt, vor allem Konzentration. Manch einer mag sagen, dieses Büchlein zu lesen, sei Arbeit. Ja, das ist es vielleicht, aber mehr im Sinne von Beschäftigung. Man muss sich mit diesen Erzählungen beschäftigen, denn so lapidar Kegele auf den ersten Blick schreibt – wer die Wörter nur überfliegt, könnte die Landebahn für den Sinn verpassen.

Kegele schreibt nicht nur, sie richtet an. Da finden Sätze plötzlich kein Ende, sodass man meint, man habe Unfertiges vor sich. Die Sprache ist so beschädigt wie die Heldinnen der Erzählungen. Das muss man nicht mögen, aber man kann es. Es sind Kunst-Erzählungen. Nicht über Kunst, sondern mit Kunst. Gekonnt.

Das haben auch andere schon erkannt: Die junge Vorarlberger Autorin, die mit 18 nach Wien kam und dort nach dem Zweiten Bildungsweg Germanistik, Theaterwissenschaften und Gender Studies studierte, ist bereits mehrfach ausgezeichnet worden. Unter anderem ist sie die Publikumspreisträgerin des Bachmann-Preis-Wettbewerbs 2013.

Kegele schreibt wie Kegele

Neue Autoren werden gerne mit großen Namen verglichen. „Schreibt wie Proust.“ „Denkt wie Aristoteles.“ „Erinnert an Hemingway.“ Hier mal was Neues: Kegele schreibt wie Kegele. Sie braucht keine großen Namen und Vergleiche.

Wer sich ihr und ihrem Werk erst mal vorsichtig und mit Bedacht nähern möchte, dem sei ihre Homepage empfohlen. Auch bei Twitter kann man ihr folgen. Außerdem hat sie für die Literaturseite zehnSeiten.de aus „Annalieder“ vorgelesen. Das Video ist noch bei YouTube abrufbar.

Am 25. August erscheint im Wiener Czernin Verlag der erste Roman von Nadine Kegele („Bei Schlechtwetter bleiben Eidechsen zu Hause“). Für eine Passage aus diesem Buch hatte Kegele im vergangenen Jahr den Publikumspreis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs gewonnen.

Der Textauszug war innerhalb der Jury höchst umstritten, wie auf der Internetseite des Bachmann-Preises nachzulesen und zu sehen ist. Dem Publikum aber scheint er gefallen zu haben. Ob Kegele auch einen ganzen Roman so kunstfertig schreiben kann, und ob dem Leser auch das zusagt, bleibt indes abzuwarten.

Nadine Kegele: Annalieder, Czernin Verlag, Wien, 2013, 112 Seiten, gebunden, 17,90 Euro, ISBN 978-3707604467, Leseprobe

Du hast Angst vorm Hermannplatz

RequiemBerliner Hipster haben längst den Jutebeutel wiederentdeckt. Über der Schulter tragen sie jetzt Aufschriften wie „Bitte nicht schubsen, ich hab einen Joghurt im Beutel“ oder „Mir reicht’s! Ich geh schaukeln!“ durch die Hauptstadt. Das Modelabel „Muschi Kreuzberg“ hat den Beutel „Du hast Angst vorm Hermannplatz“ unters Volk gebracht – er ist mittlerweile ausverkauft. Für Peter Huths Horrorroman „Berlin Requiem“ müsste der Beutel neu aufgelegt werden, denn dort schlurfen am Hermannplatz Zombies durch die Gegend und verbreiten Angst und Schrecken.

Der Hermannplatz. Nüchtern betrachtet ist er nur ein hässlicher, lauter Platz im Norden von Neukölln, Grenze zu Kreuzberg und Knotenpunkt für allerlei Straßen. Graffiti, Karstadt und Multikulti zeichnen ein vielfältiges Bild. Der Hermannplatz wird aber auch seinen negativen Ruf nicht los, ist er doch nicht nur ein Austragungsort für die jährlichen Maikrawalle, sondern auch noch Ausläufer der Hasenheide, Berlins Drogenumschlagsplatz Nummer eins. Und jetzt lässt Peter Huth dort auch noch eine Zombie-Seuche los. Aber Benjamin von Stuckrad-Barre frohlockt: „Berlin ist voller Zombies – endlich schreibt es mal jemand auf.“

Ganz so ist es leider nicht. „Berlin Requiem“ ist keine Bereicherung der Buchlandschaft, sondern allenfalls eine nette Idee. In der Hauptstadt grassiert eine seltsame Seuche, die die Infizierten zunächst sterben und dann zu Zombies werden lässt. Wer von einem dieser Untoten gebissen wird, kann sich eigenlich nur noch die Kugel geben, denn ein Kopfschuss ist das einzige Mittel dagegen.

Mauerbau rund um die Bezirke Kreuzberg und Neukölln

Der Populist Olaf Sentheim nutzt die Gunst der Stunde und verbreitet über ein Fernsehinterview, dass angeblich nur Menschen mit Migrationshintergrund infiziert werden können. Der Berliner Senat entscheidet, rund um die Bezirke Kreuzberg und Neukölln eine Mauer zu ziehen. Polizisten auf den Wachtürmen kontrollieren, dass niemand rausgelangt. Rein will sowieso keiner. Die verbliebenen Migranten aus den anderen Stadtteilen flüchten, Bürgerwehren bewaffnen sich, rechtes Gedankengut schlägt durch. Die Stadt steht vor dem Ausnahmezustand.

Ein Journalist mit dem sehr sinnigen Namen Robert Truhs recherchiert die Hintergründe, bekommt aber eher zufällig den entscheidenden Hinweis, was dieser Virus tatsächlich alles anrichten kann. Am Ende ist es aber dann doch die Liebe, die zur Entscheidung drängt, denn Truhs erfährt, dass seine Geliebte Sarah in die Kontrollierte Zone innerhalb der Mauer eingedrungen ist.

Peter Huths Freund Kai Meyer, selbst Autor, schreibt im Nachwort eine kurze Geschichte der Horrorfilme, die „schon früh das politische Geschehen gespiegelt“ haben, begonnen mit George A. Romeros „Night of the Living Dead“ (1968), der wirklich sehenswert ist. Für Meyer kommt „Berlin Requiem“ „genau zum richtigen Zeitpunkt“, und er hält das Buch für einen wichtigen Roman. Leider kann man allenfalls ersteres behaupten: Zombies sind nach den Vampiren jetzt gerade noch angesagt, und Huths Roman hat damit noch Chancen, im genreliebenden Publikum seichte Gesellschaftskritik unterzubringen. Wichtig ist der Roman nur für all diejenigen, die unmittelbar oder mittelbar daran verdienen.

Meinungsmacher wie Thilo Sarrazin

Mit „Berlin Requiem“ greift Huth vor allem Meinungsmacher wie Thilo Sarrazin auf. Wie schon in dessen Erstlingswerk verbreitet Sarrazin auch in seinem im Februar 2014 erschienenen Buch „Der neue Tugendterror“ anti-islamische und -muslimische Thesen und klassischen Rassismus. Welche Folgen das haben kann, zeigt Huth am Beispiel des Populisten Olaf Sentheim. Bis der seltsamerweise seine Meinung ändert. Die Beweggründe dafür aber bleiben leider im Dunkeln.

In einem Interview mit dem Online-Medienportal meedia.de erklärt Huth, warum er Zombies nach Berlin geschafft hat: „Weil die Grundthematik die gleiche wie die der Integrationsdebatte ist: Die Angst vor einer rasant wachsenden Masse, die Furcht, dass Quantität eine vermeintliche Qualität schlägt, dass wir überrollt werden von etwas, was uns fremd ist. So kamen die Zombies nach Berlin. Und am Ende, wie in jedem guten Horrorfilm, müssen wir uns am meisten vor denen gruseln, die uns am nächsten sind: unseren Mitmenschen.“

Das stimmt soweit. Das schafft dieses Buch. Das funktioniert aber gerade deshalb so gut, weil Peter Huth ein Boulevard-Mann ist: Volontär beim Express, dann Bild-Journalist in Hamburg und seit 2008 Chefredakteur der Berliner Boulevardzeitung B.Z. – dieser Mann hat den Boulevardjournalismus von der Pike auf gelernt.

Boulevardeske Trivialliteratur

Und genauso schreibt Huth auch seinen Roman: Einfachste Sprache, kurze Sätze, stark emotionalisierend, klassische Schwarz-Weiß-Zeichnung. Das ist ihm nicht vorzuwerfen, weil er es nicht anders kann, aber das macht den Schreibstil leider auch genauso billig, wie die Trash-Zombiefilme monitär in ihren besten Zeiten immer gewesen sind. „Berlin Requiem“ ist boulevardeske Trivialliteratur. Kostprobe gefällig? „Roberts Kopf zuckt, er träumt. Wer schläft, verarbeitet die Wirklichkeit. Kein Wunder, dass Roberts Kopf zuckt.“

Der Roman krankt aber nicht nur am Schreibstil, sondern auch am Erzählgerüst. Immer wieder wird etwa eine völlig unwichtige Dreiecksbeziehung zwischen Robert Truhs, seinem Freund Christian und seiner Geliebten Sarah als Grundlage für ohnehin unlogische Entscheidungen der drei Charaktere herangezogen. Die Hintergründe der Seuche bleiben im Dunkeln, Mechanismen des Katastrophenschutzes fehlen in diesem Zombie-Berlin offensichtlich auch, die Regierung flüchtet nach Bonn und eine nicht besonders intelligente Meute von Berlinern greift zur Waffe. Andere Bürger scheint es nicht zu geben. Das ist nicht wirklich nachvollziehbar. Ein wichtiges Buch? Nein.

Haben Sie keine Angst vorm Hermannplatz! Haben Sie Angst, dass Ihnen jemand dieses Buch empfiehlt!

Peter Huth: Berlin Requiem, Heyne Verlag, München, 2014, 333 Seiten, broschiert, 12,99 Euro, ISBN 978-3453676664, Leseprobe, Trailer zum Buch