Hercule Poirot wäre lieber tot geblieben

Die Monogramm-MordeIhre Autoren liegen unter der Erde, aber die einst erfundenen Helden sind einfach nicht totzukriegen: Sherlock Holmes ermittelt noch immer, obwohl Arthur Conan Doyle längst das Zeitliche gesegnet hat. James Bond ist weiter im Dienste Ihrer Majestät unterwegs, Ian Fleming aber hat das Schreiben todesbedingt aufgeben müssen. Und jetzt ist auch noch Hercule Poirot, der wohl berühmteste belgische Privatdetektiv, wiederbelebt worden – eine Exhumierung, die man besser sein gelassen hätte.

Auch Agatha Christie ist tot, aber sie hat – wenn man ihren Erben glauben soll – eine würdige Nachfolgerin in der britischen Thrillerautorin Sophie Hannah gefunden. Der 43-Jährigen, die in England auch wegen ihrer preisgekrönten Lyrik bekannt ist, erlaubte man deshalb, Poirots 34. Fall zu schreiben. Was ist es geworden? Ein possierliches Krimistück, dem man die Ehrfurcht vor dem großen Vorbild anmerkt und das nicht richtig in Gang kommt.

Die Arroganz in Person sitzt in den 1920er Jahren in einem Londoner Kaffeehaus, als eine junge Frau in den kleinen Laden hastet. Augenscheinlich wird sie verfolgt, denn sie blickt sich ständig nach der Tür um. Poirot wird auf das Schauspiel aufmerksam und bietet selbstverständlich seine Hilfe an – wer sonst könnte der Dame helfen, wenn nicht der Meister selbst? Doch Mademoiselle Jennie ist sich gewiss: Sie wird schon bald das Opfer eines Mordes, der sogar gerechtfertigt sei. Poirot aber möge auf keinen Fall nach dem Mörder suchen.

Prädestinierter Sidekick

Der hat bald auch ganz andere Sorgen, denn im Hotel Bloxham sind drei Leichen gefunden worden, zwei Frauen und ein Mann, jeweils in einem anderen Zimmer. Jede Leiche hat einen Manschettenknopf mit dem Monogramm PIJ im Mund, und das ist noch längst nicht das letzte Rätsel, dem sich Poirot gegenübersieht. Begleitet wird er von seinem Freund von Scotland Yard, Edward Catchpool, einem nicht besonders hellen Burschen und deshalb prädestinierten Sidekick.

Wie Catchpool selbst gerät der Leser aber immer mehr in gründliche Verwirrung, während Poirot fortlaufend erklärt, er habe schon Lunte gerochen und man würde schon bald verstehen, was er selbst längst durchschaut habe. Der Fall ist nicht nur kompliziert, sondern wird immer unübersichtlicher. Hannah scheint es zusätzliche Freude zu bereiten, ihren Helden selbstbeweihräuchernd über die Strenge schlagen zu lassen. Er ist auch bei Christie immer ein eitler Geck gewesen, aber Hannah versucht offenbar zu zeigen, wie gut sie Christies Poirot imitieren kann. Das nervt und trägt nicht zum Lesegenuss bei.

Stattdessen hätte dem Roman etwas mehr Spannung gut getan. Aber leider zieht die Geschichte dahin wie ein vergessener Teebeutel im lauwarmen Wasser. Es mag Leser geben, die dem Plot aus Eifersüchteleien auf dem Land und einer späten Rache dennoch etwas abgewinnen können. Die Mimi, die ohne Krimi nie ins Bett geht, hat „Die Monogramm-Morde“ aber gewiss nicht unterm Arm.

Sophie Hannah: Die Monogramm-Morde – Ein neuer Fall für Hercule Poirot, Atlantik Verlag, Hamburg, 2014, 338 Seiten, gebunden, 19,99 Euro, ISBN 978-3455600162, Leseprobe

Eine Holmes-Studie in triefend rot

Der Fall MoriartyWer im Herbst 2014 in London war, sah Lesende in den U-Bahnen und Cafés fast nur in ein einziges Buch vertieft: „Der Fall Moriarty“ von Anthony Horowitz. Nach dessen erfolgreichem Sherlock-Holmes-Roman „Das Geheimnis des weißen Bandes“ ist dem britischen Autor eine zweite faszinierende und spannende Version des klassischen Detektivromans gelungen.

Sherlock-Holmes-Fans wissen Bescheid: Der große Meisterdetektiv und sein Widersacher, Professor James Moriarty, haben sich einst an den Schweizer Reichenbachfällen getroffen und sind dort auch gestorben. Sherlock Holmes jedoch nur vorübergehend, denn die Fans waren geradezu empört, dass Arthur Conan Doyle Holmes so plötzlich und unrühmlich aus dem Leben scheiden ließ. Was jedoch in der Zeit zwischen der Reichenbach-Geschichte „Das letzte Problem“ und der Wiederauferstehung in „Das leere Haus“ geschah, dazu gibt es einige Interpretationen.

Horowitz hat sich eine weitere ausgedacht, denn „Der Fall Moriarty“ beginnt genau dort: An den Reichenbachfällen und mit der Leiche des Verbrechers Moriarty auf dem Tisch. Dort begegnen sich Inspektor Athelney Jones von Scotland Yard und der amerikanische Privatermittler Frederick Chase. Im Futter der Brusttasche entdecken die beiden einen Brief mit einem Code. Als der schließlich entschlüsselt ist, offenbart sich die tatsächliche Geschichte, denn Moriarty sollte sich in London mit dem berüchtigten amerikanischen Gangster Clarence Devereux treffen, der seine Geschäfte nach England ausdehnen will.

Die Londoner Unterwelt rümpft die Nase

Dass das viktorianische London bereits die neue Heimat für Devereaux geworden ist, zeigt sich an den wenig zimperlichen Morden, die sich quer durch die Stadt ziehen und nicht gerade nach feiner, englischer Machart sind. Da wird des nächtens ein ganzer Haushalt vergiftet und grausam niedergemetzelt, auf Scotland Yard ein Bombenanschlag übelster Sorte verübt und ohne viele Fragen das Feuer eröffnet. Die Londoner Unterwelt rümpft die Nase, weiß sich aber nicht so recht der dominanten amerikanischen Gewaltspirale zu entziehen. Denn jegliche Kritik wird sogleich mundtot gemacht – mitsamt demjenigen, der es gewagt hat, die amerikanischen Methoden infrage zu stellen.

Doch in Chase und Jones, der dem großen Vorbild Sherlock Holmes in seiner detektivischen Brillanz nacheifert, haben die amerikanischen Gangster würdige Gegner gefunden. Im Licht der Gaslaternen sind sie dem größten Verbrecher der Vereinigten Staaten auf der Spur, die sie zu Fuß und per Kutsche quer durch die Stadt und bis in die Katakomben des Smithfield Meat Markets führt.

Horowitz‘ neuer Roman ist kein zelebrierter Fünf-Uhr-Tee, sondern eine erneut gelungene Mixtur aus Sherlock-Holmes-Anleihen und modernen Thriller-Elementen. Die drastische Gewaltdarstellung erinnert in ihrer Blutigkeit an schwedische Krimis und ist für Fans des klassischen Sherlock Holmes womöglich nur mit Zahnschmerzen zu ertragen. Manchen von ihnen wird es Horowitz aber ohnehin nicht recht machen können.

Allen anderen aber sei dieser neue Wurf ans Herz oder vielmehr ans Bett gelegt, denn „Der Fall Moriarty“ ist beste Bettlektüre, gerade wenn es draußen rau und unwirtlich ist. Und er wartet mit einem verblüffenden Dreh und einer raffinierten Lösung auf, von der man mehr verraten möchte und doch nicht darf. Deshalb: Lesen, lesen, lesen!

Anthony Horowitz: Der Fall Moriarty, Insel Verlag, Berlin, 2014, 343 Seiten, gebunden, 19,95 Euro, ISBN 978-3458176121, Leseprobe, Video zum Buch

Der Untergang des Hauses Compson

Schall und WahnEs ist eines der großen Werke der Weltliteratur, aber auch eines der sperrigsten überhaupt: William Faulkners erstmals 1929 erschienener Roman „Schall und Wahn“ („The Sound and the Fury“). Frank Heibert hat das Buch jetzt neu ins Deutsche übersetzt, und das ist ihm kongenial gelungen. Durch seine umsichtige Übertragung in eine modernere Sprache lässt sich der faszinierend erzählte Roman jetzt vollkommen neu entdecken.

„Schall und Wahn“ erzählt von der tragischen Geschichte der Südstaatenfamilie Compson, die unaufhaltsam in den Untergang rauscht. Die einst einflussreiche Familie musste ihr letztes Stück Land verkaufen, damit sie ihrem ältesten Sohn Quentin ein Studium in Harvard finanzieren konnte. Schon das aber nimmt kein gutes Ende, denn der intelligente Sprössling wählt den Freitod, weil er gegenüber seiner Schwester Candice, genannt Caddy, Inzestgedanken hegt, die ihn nicht loslassen.

Caddy wiederum bringt ein uneheliches Kind zur Welt und wird kurzerhand zwangsverheiratet, bald aber wieder geschieden. Letzteres bringt Jason, den zweitältesten Sohn der Familie, regelmäßig zur Weißglut, hatte Caddys Ehemann ihm doch einen Job ihn Aussicht gestellt, der ihm einiges Barvermögen gebracht hätte. Stattdessen muss Jason sich mit einem schlecht bezahlten Job über Wasser halten. Er veruntreut Geld, das für Caddys Tochter gedacht ist, und verzockt weiteres Familienvermögen an der Börse.

Eine Ansammlung von ungefilterten Wahrnehmungen

Und dann ist da noch Benjamin, der Jüngste der Familie. Er ist geistig behindert und erlebt jeden Tag wie eine Ansammlung von ungefilterten Wahrnehmungen, Erinnerungen und Versatzstücken. Der Familie ist er eine Last, nur Caddy kümmert sich um ihren Bruder. Währenddessen trinkt sich der Vater zu Tode, und die Mutter dämmert in ihrem abgedunkelten Schlafgemach vor sich hin.

Erzählt wird das alles in vier Kapiteln, die sich im Grunde an drei aufeinanderfolgenden Tagen des Aprils 1928 ereignen, nur unterbrochen von einem Rückblick auf das Jahr 1910. Innerhalb der Kapitel aber fehlt oft die Chronologie. Die ersten drei Kapitel werden aus Sicht je eines Bruders beschrieben, erst das vierte übernimmt ein allwissender Erzähler. Das schwierigste Kapitel des Buches ist gleich das erste, das den Leser ohne Vorwarnung in den Gedanken-Dschungel von Benjamin „Benjy“ Compson katapultiert.

Hier zeigt sich schon, welche enormen Anforderungen an den Leser gestellt werden, um dieses Dickicht zu durchdringen. Denn Benjy ist nicht in der Lage, Vergangenheit und Gegenwart, Erlebtes und Gedachtes auseinanderzuhalten. Die Folge ist ein Bewusstseinsstrom aus unterschiedlichen Zeitebenen, Orten, Personen und Gedanken. Dem Leser verlangt das gleich zu Beginn einiges an Aufmerksamkeit und Geduld ab. Aber wer sich müht und bereit ist, sich auf diese ungewöhnliche Art der Erzählstruktur einzulassen, wird mit einem wortgewaltigen und intensiven Lese-Erlebnis belohnt. Faulkner-Fans nennen das Buch übrigens nicht von ungefähr das „Monster“.

Wahrlich faszinierend

Nach dem sperrigen ersten Kapitel wechselt Faulkner im Quentin-Kapitel in eine literarisch gehobenere Sprache, gefolgt von einem derben Abgesang im dritten Kapitel, in dem der Misanthrop Jason seine antisemitischen und rassistischen Reden schwingt. Dabei ist es wahrlich faszinierend, mit welchem Geschick Faulkner multiperspektivisch aber auch experimentell erzählen kann. Manche Leser mögen vielleicht aber auch daran verzweifeln. Faulkner hat Lesern, die meinten, sie hätten den Roman auch nach der dritten Lektüre nicht verstanden, trocken empfohlen: „Read it four times!“ („Lesen Sie ihn vier Mal!“) Möglicherweise ist das die Lösung.

Ebenso faszinierend aber ist auch die Arbeit des Übersetzers Frank Heibert, der dieses sprachmächtige Werk in ein modernes Deutsch übertragen hat. Dabei ist hervorhebenswert, dass er den schwierigen Jargon der Schwarzen nicht mit Anleihen aus deutschen Dialekten versieht. Im aufschlussreichen Nachwort erklärt Heibert: „In meiner Übersetzung habe ich versucht, das Faulkner’sche Black American English mit sprachlichen Mitteln nachzubilden, die auf heutige deutsche Leser eine möglichst analoge Wirkung haben. Die Sprache der Schwarzen in meiner Übersetzung soll, ganz in Faulkners Sinne, ihre klare Einfachheit, Würde und Kraft ausdrücken.“ Diese Einfachheit, Würde und Kraft hätte die Sprache verloren, wenn die Schwarzen der Südstaaten mit deutschen Dialekten gesprochen hätten. Vielmehr hätte sie das der Lächerlichkeit ausgesetzt, ganz anders als Faulkner, der die Sprache als Teil und Ausdruck der Verwurzelung und Identität verstand.

Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ beschrieb Faulkner im Jahr 1956 als „notorischen Whisky-Trinker und genialen Chronisten der Legende und Verdammnis des amerikanischen Südens; ein homerischer Provinzler, dem der Sezessionskrieg und sein Problem, die Sklavenbefreiung, noch heute als Bühne und Horizont der Welt gilt, als das zentrale und tragischgleichnishafte Ereignis der amerikanischen, wenn nicht der Weltgeschichte.“ Was für ein Glück für uns deutschsprachige Leser, dass Frank Heibert sich an die Aufgabe herangewagt hat, „Schall und Wahn“ neu zu übersetzen und den großen amerikanischen Schriftsteller und Romancier William Faulkner wieder ins verdiente, strahlende Licht zu ziehen.

William Faulkner: Schall und Wahn, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2014, 381 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 24,95 Euro, ISBN 978-3498021351, Leseprobe

Ein Manifest zur Sexarbeit

Hure spielenMelissa Gira Grant ist in den USA eine der bekanntesten Stimmen in der Debatte um Sexarbeit. Jetzt ist ihr Sachbuch „Hure spielen – Die Arbeit der Sexarbeit“ auch auf Deutsch erschienen. Es beleuchtet vor allem die Diskussion in den USA, wo das Kaufen und Verkaufen von Sex illegal ist. Die Analyse der Journalistin, die früher selbst Sexarbeiterin war, stellt überzeugend die Vielfalt der Sexarbeit dar, aber auch wie einfältig wir immer noch das Thema betrachten. Dabei finden sich auch nachdenklich stimmende Parallelen zur deutschen Debatte um ein Verbot der Prostitution. Wer sich zu diesem Thema eine Meinung erlaubt, sollte „Hure spielen“ gelesen haben.

Das Buch der US-Autorin in der Öffentlichkeit zu lesen, könnte zur Folge haben, dass Sie skeptische, prüfende Blicke ernten. Zunächst auf den Buchumschlag, dann ins Gesicht. Abschätzend, nicht unbedingt abschätzig. „Hure spielen. Die Arbeit der Sexarbeit“ steht in großen Lettern auf der Vorderseite des Buchdeckels. „Hure“ funktioniert als Reizwort und ist immer noch zutiefst negativ besetzt.

Grant, die dem Hurenstigma ein eigenes Kapitel widmet, erklärt, dass auch viele Menschen, die gar nicht der Sexarbeit nachgehen, mit dem Wort „Hure“ gebrandmarkt werden: „Sie werden mit diesem Stigma behaftet, weil sie gegen bestimmte ‚Zwangstugenden‘ verstoßen haben, oder weil ihnen das unterstellt wird.“ Die Äußerung des Hurenstigmas als Folge der feministischen Tradition der Hurenbewegung könne aber einen Ausweg aus der Situation bieten, indem sich Frauen innerhalb und außerhalb der Sexbranche mehr miteinander solidarisieren.

Das Wort von dem Hass befreien

In einem späteren Kapitel erklärt Grant jedoch, dass es womöglich schwierig sei, genug aktive und ehemalige Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter zusammenzubekommen, die „sich darauf einigen können, die Bezeichnung ‚Hure‘ für sich positiv zu besetzen, so wie das mit dem Adjektiv ’schwul‘ gelungen ist.“ Dabei sei es doch erstrebenswert, das Wort von dem Hass zu befreien, den es mit sich trage, und den Mechanismen etwas entgegensetzen zu können, mit denen Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter definiert oder in Kategorien eingeteilt werden.

„Ich glaube nicht, dass wir irgendjemanden und schon gar nicht uns selbst abwerten, wenn wir uns selbst als ‚Huren‘ bezeichnen. Allein schon um zu zeigen, dass niemand durch das abgewertet wird, was zwischen meinen Beinen passiert, und auch nicht durch das, was ich darüber zu sagen habe, sollten wir den Begriff ‚Hure‘ für uns besetzen.“

Grant ist selbst ehemalige Sexarbeiterin, hat aber in ihrem Buch ausdrücklich nicht von ihren Erfahrungen geschrieben, sondern andere zu Wort kommen lassen. Trotzdem ist es eine sehr persönliche Streitschrift geworden, auch weil sie nicht immer journalistisch korrekt objektiv berichtet und analysiert und auch mit Humor und Polemik nicht spart. Aber sie stellt die Fragen, auf die es oft nur unbequeme Antworten gibt. Und in vielen Bereichen ist dieses Buch vor allem eins: ein Manifest der Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter.

Stereotyper Irrglaube

Kommen wir zum Lesen in der Öffentlichkeit zurück: Wird Frauen womöglich eine andere Motivation zur Lektüre unterstellt als Männern? Das könnte eine Folge des stereotypen Irrglaubens sein, Männer seien die Freier, Frauen die Prostituierten. Doch es gibt Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter. Dankenswerterweise beschränkt sich Grant in ihrem klugen Buch nicht nur auf die Frauen in der Sexarbeit, sondern bezieht auch die Männer und Transsexuellen ein.

Die „Prostituierten-Rettungsindustrie“ aber, wie die Ethnologin Laura Augustín das Phänomen nennt, sieht nur die Frauen – und die sind stets die Opfer. Nach Ansicht der „Retter“ muss deshalb zum einen den Sexarbeiterinnen geholfen werden, weil sie von den Freiern ausgenutzt werden, zum anderen aber auch den Frauen, die sich gegen die professionellen Reize der Sexarbeiter nicht wehren können. Diesen Irrglauben beleuchtet die deutsche Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal in ihrem lesenswerten Vorwort auch in einem Exkurs zum Thema Geschlechtsehre.

Grant streitet für viele Aspekte der Sexarbeit. Aber am wichtigsten ist ihr, dass Sexarbeit tatsächlich als Arbeit anerkannt wird, als Option, Geld zu verdienen und der Armut zu entkommen. Die „Rettungsindustrie“ aber erkenne die Sexarbeit nicht nur nicht als Arbeit an, sondern glaube darüberhinaus zu wissen, dass keine Prostituierte ihrer Arbeit freiwillig nachgeht. So werde die Kritik der Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter an den Bedingungen der Sexarbeit oft „schlicht als Beweis für deren eigentlichen Wunsch gelesen (…), eine andere Arbeit zu finden.“ Dabei gehörten Beschwerden über Arbeitsbedingungen zu jeglicher Art von Arbeit und sollten nicht anders gesehen werden, nur weil sie Prostituierte äußern. Grant zitiert als Beispiel zu diesem häufigen Missverhältnis die Journalistin Sarah Jaffe, die als Kellerin gearbeitet hat: „Niemand wollte mich je aus dem Gastronomiesektor retten.“

Warnung vor einseitigen Darstellungen

Dass Sexarbeit nicht immer nur Arbeit ist, sondern auch mit Gewalterfahrungen zusammenhängen kann, verschweigt Grant indes nicht. Aber sie warnt davor, die Arbeit einseitig und stets als Gewalterfahrung darzustellen und sie für die „Rettungsindustrie“ zu instrumentalisieren. So gebe es auch andere Arbeitsfelder, in denen Frauen ausgebeutet oder an der Gesundheit geschädigt werden, und trotzdem nenne man deren Beschäftigungsfeld Arbeit. Im Bereich der Sexarbeit aber scheine die Distanz zu fehlen.

Grants Buch handelt selbstverständlich auch viel von der Sexarbeit in den USA. Dort kommt es immer wieder zu demütigenden Polizeieinsätzen gegenüber Menschen, die verdächtigt werden, der Prostitution nachzugehen, und Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter werden gesellschaftlich ausgegrenzt. Grant zeigt detailliert, wie die Sexarbeit systematisch kriminalisiert wird.

Einen weiteren unglaublichen Teil besorgt dann noch ein Teil des Feminismus‘, der fordert, man müsse die Prostitution zum Wohle der Frauen verbieten, ohne je zuvor mit einer Prostituierten gesprochen zu haben. Auch dafür kämpft Grant mit ihrem Buch: Dass die Öffentlichkeit den Sexarbeitern zuhört. Dass sie gehört und vor allem ernst genommen werden. Dass sie über die Gefahren in ihrem Leben sprechen können. Und dass sie nicht gleich in eine Opferrolle gedrängt werden.

Das lässt sich auch auf Deutschland beziehen, wenngleich sich hier die Situation für Prostituierte verbessert hat. Aber auch hier sollten Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter am Gesetzgebungsverfahren beteiligt werden. Es sei denn, sie gelten auch bei uns nur als Opfer. Oder als Unmündige. Die öffentliche Debatte zu den angestrebten Änderungen der Bundesregierung am Prostitutionsgesetz ist weitestgehend verstummt. Es ist den Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern, aber auch unserer Gesellschaft zu wünschen, dass Grants Manifest die Debatte wieder anheizt.

Melissa Gira Grant: Hure spielen – Die Arbeit der Sexarbeit, Edition Nautilus, Hamburg, 2014, 191 Seiten, Taschenbuch, 14,90 Euro, ISBN 978-3894017996, Leseprobe

Mach’s noch einmal, Burkhard

Tand, Tand ist das Gebilde von MenschenhandEr hat es wieder getan: Zum zweiten Mal hat der Berliner Zeichner Burkhard Neie eine Balladensammlung des Insel Verlags veredelt. Und wie schon in dem Band „Und noch fünfzehn Minuten bis Buffalo“ hat er erneut mit seinen kongenialen Illustrationen ein Gesamtkunstwerk geschaffen, das die Balladen-Leselust neu entfacht.

„Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand“, heißt es auf dem vorderen Buchdeckel, auf dem Neie bereits seine Kunstfertigkeit unter Beweis stellt. Schwarz, Grau, Blau und Gelb, mehr Farben braucht er nicht, um das erste eindrucksvolle Bild zu schaffen. Im Blauschwarz der Nacht fährt ein Dampfzug über eine Eisenbahnbrücke, die Lichter der Abteile sind erleuchtet und strahlen blassgelb in die Dunkelheit. Der Balladenneuling mag sich wundern, wie Text und Bild zusammenhängen, doch Balladenkenner und Fontane-Fans wissen längst Bescheid: Diese Fahrt nimmt ein böses Ende.

Es sind die drei Macbeth-Hexen, die in Theodor Fontanes Ballade „Die Brück am Tay“ beschließen, das Bauwerk zum Einsturz zu bringen und den Zug verunglücken zu lassen. Als historische Stoffgrundlage diente Fontane der Zusammenbruch einer Eisenbahnbrücke in Schottland, bei dem ein Zug ins Meer stürzte und 75 Menschen ihr Leben ließen. Seine Ballade war die deutliche Kritik an der Technik- und Fortschrittsgläubigkeit der damaligen Zeit. Bis heute haben die Verse nichts von ihrem Eindruck verloren.

Ein Könner, dieser Mann!

Das Zusammenspiel aus Ballade und Neies linolschnittartigen Illustrationen fesselt ungemein. Heines „Nixen“, Schillers „Taucher“, Wedekinds „Brigitte B.“, manche sind in der Lese-Erinnerung schon verblasst. Neie sorgt in dieser Sammlung für die farbenstarke und doch düstere Erinnerung an die Werke einstiger Dichterköniginnen und -könige. Wie schon im ersten Band führt der Berliner Illustrator auch hier seine Technik fort: Die Grundfarbe der Zeichnung fließt stets auf die Textseite über und vereinnahmt so den Text. Liegen sich zwei Textseiten gegenüber, läuft die Farbe aus dem Buchfalz und sucht auch so die Verbindung zum Text. Ein Könner, dieser Mann!

Der Insel Verlag hat bis jetzt zwei Balladen-Sammlungen veröffentlicht, beide von Burkhard Neie illustriert, beide eine absolute Wucht. Die erste war rot, die zweite ist blau – kündigt sich da eine Reihe an? Auf Lesungen nannte der Popliterat Benjamin von Stuckrad-Barre seine Bücher „Soloalbum“, „Livealbum“ und „Remix“ wegen der Farben auf den Buchcovern stets „das gelbe Album“, „das rote Album“, „das blaue Album“. Folgt im Insel Verlag also nach der roten und blauen Balladen-Sammlung auch bald eine gelbe? Es bleibt zu hoffen, dass die Zusammenarbeit zwischen Burkhard Neie und dem Insel Verlag noch nicht beendet ist. Mach’s noch einmal, Burkhard!

Matthias Reiner (Hg.): „Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand“ – Deutsche Balladen, Insel Verlag, Berlin, 2014, 109 Seiten, mit farbigen Illustrationen von Burkhard Neie, gebunden, 16 Euro, ISBN 978-3458200116, Leseprobe