Bis es zu Ende ist

Vor zehn Jahren erschütterte der grässliche Mord an einer jungen Studentin die altehrwürdigen Mauern des fiktiven Pelham-Colleges in Oxford. Ausgerechnet ihre Mitbewohnerin und Freundin Hannah fand damals die Leiche und hatte zuvor den Mörder wegrennen sehen. Ihre Aussage brachte den Mann ins Gefängnis, wo er nun durch einen Herzinfarkt gestorben ist. Geschichte zu Ende?

Nein, denn genau jetzt will ein Journalist Hinweise darauf haben, dass der vermeintliche Mörder unschuldig im Gefängnis saß. Er meldet sich bei der labilen und schwangeren Hannah, die seit Jahren versucht, dem Thema aus dem Weg zu gehen und mit der Vergangenheit abzuschließen. Nichts ist zu Ende, bis es zu Ende ist. Das zeigt die britische Bestseller-Autorin Ruth Ware in ihrem neuen Thriller mit dem sinnigen deutschen Titel „Das College“.

Als Hannah Jones das erste Mal ihr College in Oxford betritt, ist sie überwältigt, dass ihr diese Ehre zuteil wird, hier lernen und studieren zu dürfen. Sie bestaunt den grünen Rasen, den niemand betreten darf, die hohen Hallen des Wissens, in denen schon einige berühmt gewordene Menschen wandelten, und die mittelalterlichen Studentenunterkünfte.

So schön, dass … autsch!

Die bodenständige Hannah hat das Glück, in einer dieser Suiten aus der alten Zeit zu wohnen. Nicht allein, sondern mit der unnatürlich schönen und reichen April Clarke-Cliveden, die ihren Kühlschrank gern mit Champagner gefüllt sieht und nicht wegen ihrer guten Noten in Oxford ist, sondern weil ihr Vater dem College finanziell zugewandt ist. Die zu dieser Zeit reichlich naive Hannah beschreibt April so: „Sie besaß jene Art von Schönheit, die andere in den Bann zog und zugleich wehtat.“ Ähnliche Beschreibungen von naiven Charakteren über reiche, schöne Menschen haben wir auch in Erfolgsromanen wie „Shades of Grey“ lesen dürfen. April kann man getrost als doppelgesichtig bezeichnen, denn sie spielt unter dem Deckmäntelchen ihrer Freundschaft und optischen Perfektion ihrer eigenen Clique gleichzeitig manchmal ganz schön übel mit.

Hannah hat dennoch eine gute Zeit in Oxford, wenn man mal davon absieht, dass sie sich in Will de Chastaigne verliebt, der leider Aprils Freund ist. Zwischen Will und Hannah herrscht stets eine besondere Anziehungskraft, die sich Hannah bald auf Rücksicht auf April verbietet. Hannah studiert, genießt das Partyleben, macht aber auch unangenehme Erfahrungen mit dem übergriffigen Pförtner John Neville, der ihr nachzustellen scheint.

Und eines Abends, ja, sieht sie plötzlich, wie Neville die Treppe von ihrer Wohnung hinunterkommt. Nur Minuten später entdeckt sie die tote April, hingestreckt vor dem Kamin. Es besteht kein Zweifel: Nur der unheimliche Neville kommt als Täter in Frage, und es ist letztendlich Hannahs Zeugenaussage, die den jungen Pförtner hinter Gitter bringt.

Erzählung in „Vorher“- und „Nachher“-Kapiteln

Ruth Ware erzählt den Roman in sich abwechselnden „Vorher“- und „Nachher“-Kapiteln. Die „Vorher“-Kapitel berichten von der Vorgeschichte bis zum Mord, soweit sich Hannah erinnert, in den „Nachher“-Kapitel recherchiert Hannah, ausgehend von der Todesnachricht des Verurteilten, ob Neville wirklich der Täter war oder ob sie damals einem Trugschluss aufgesessen ist. Was ist in dieser Nacht wirklich geschehen?

Leider braucht es rund 150 Seiten, bis der Roman ansatzweise in Gang kommt, und auch dann ist es nur gemächliche Thriller-Kost. Das ist verwunderlich, ist Ware doch sonst eine Pageturner-Expertin. Dem Sujet fehlt es auch an einer nachvollziehbaren Motivation, warum Hannah sich nun nach zehn Jahren diesem Thema stellt, nachdem sie es bisher so vehement verdrängt hat.

Mails von Journalisten, die sie regelmäßig zu erreichen versuchen, verschiebt sie bis dato ungelesen in einen Ordner, und sie hat weitere Mechanismen gefunden, wie sie den Mord zehn Jahre von ihrem Leben fernhält, obwohl sie inzwischen mit dem damaligen Freund des Opfers verheiratet ist (ja, ja!) und ein Kind bekommt. Die bedrohliche Notwendigkeit für die Recherche wird überhaupt nicht klar.

Wenig überraschend sind dagegen manche Wendungen in diesem Thriller – die Auflösung jedoch ist zwar nicht so vorhersehbar, wie zwischendurch befürchtet, aber auch nicht der Oberknaller. Was man Ware lassen muss: Sprachlich und vom Setting her kann ihr Thriller gut unterhalten. Mehr aber leider nicht.

Ruth Ware: Das College, dtv-Verlag, München, 2023, 463 Seiten, broschiert, 16,95 Euro, ISBN 978-3423262279, Leseprobe

Das Einzige, was hier leuchtet, ist eine Taschenlampe

Simon Beckett, britischer Journalist und Autor der spannenden und international erfolgreichen Thriller-Reihe um den forensischen Anthropologen David Hunter, (bisher sechs Bände: „Die Chemie des Todes“ u.a.) hat einen neuen Ermittler auf den Markt geworfen: Jonah Colley. Er taucht im neuen Beckett-Roman auf, der im Juli im zu Rowohlt gehörenden Wunderlich-Verlag erschienen ist. In „Die Verlorenen“ ermittelt der Sergeant einer bewaffneten Sondereinheit der Londoner Metropolitan Police in einem mysteriösen Fall. Colley erwartet sich davon auch neue Hinweise auf seinen vor zehn Jahren verschwundenen Sohn.

Sie meinen, das müsse doch ein Knaller sein? Ein Pageturner? Ein hervorragender Schmöker für die Sommermonate? Weil einfach immer David-Hunter-Klasse drinsteckt, wo Simon Beckett draufsteht?

Nun.

„Die Verlorenen“ ist all das nicht, sondern ein Werk, bei dem man sich fragen muss: Aus welcher Schublade hat Beckett das denn noch gezogen?

Und für Jonah beginnt ein Albtraum

Zuallererst – die Geschichte, wie der Klappentext sie erzählt: Seit Jonah Colleys Sohn Theo vor zehn Jahren spurlos verschwand, liegt das Leben des Polizisten in Scherben. Damals brach auch der Kontakt zu seinem besten Freund Gavin ab. Nun meldet dieser sich überraschend bei Colley und bittet um ein Treffen. Doch in dem verlassenen Lagerhaus findet Jonah seinen Freund von einst nur noch tot, daneben drei weitere Leichen. Fest in Plastikplane eingewickelt, sehen sie aus wie Kokons. Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus: Eines der Opfer ist noch am Leben. Und für Jonah beginnt ein Albtraum.

Dieses Buch könnte wahrscheinlich gut sein, wenn Beckett nicht wie ein junger Debütant schreiben würde, dem noch die Erfahrung aus den Hunter-Büchern fehlt. Die Story ist hanebüchen, langatmig und unglaubwürdig erzählt; teilweise zwar detailreich angedacht, aber nicht zu Ende geführt.

Kommen wir zurück zu den drei Leichen, die in Plastikfolie eingewickelt sind. Warum erinnern sie an Kokons? Man erfährt weder das, noch warum sie so verpackt worden sind oder zuvor mit Branntkalk bestäubt wurden. Das sind grausige Details der ersten 21 Seiten, die später keine Rolle mehr spielen.

Die Figuren sind allesamt keine Sympathieträger

Die Figuren, die Beckett erfindet, sind allesamt keine Sympathieträger. Da wären zum Beispiel der immer mürrische Detective Inspector Jack Fletcher und seine Kollegin, Detective Sergeant Bennet. Beide ermitteln gegen Colley, weil sie glauben, er könnte auch Täter sein. Während Bennet oft nur Beweismitteltütchen oder Kaffeebecher reichen darf, beschreibt Beckett den DI als einen ausgezehrt wirkenden Mann mit vernarbtem Gesicht, dem Lächeln eines zähnefletschenden Raubtiers und stechendem Blick.

Fletcher höhnt, schnauzt, wütet und marschiert. Kollegin Bennet, die eine starke Frauenfigur sein könnte – dann vielleicht auch mit einem Vornamen – verblasst neben ihm völlig.

Auch Colleys Ex-Frau Chrissie kann nicht überzeugen. Die Darstellung der Wiederverheirateten, die mit ihrem neuen Mann – einem Anwalt – in die gehobene Mittelschicht aufgestiegen ist, ganz klischeehaft wohnt und Range Rover fährt, gelingt anfangs noch nachvollziehbar. Sie hat ihrem Mann nie verziehen, dass der auf einer Bank erschöpft einschlief, während der Sohnemann unbeobachtet verschwand. Mit dem Verlauf der Geschichte dringt Chrissie weiter ins Geschehen ein, verliert dabei aber ihre selbstbewusste Stärke, für die man sie zuvor noch geschätzt hat.

Colley selbst erzeugt allerhöchstens Mitleid, oft aber nur bloßes Kopfschütteln. Um das nochmal deutlich zu machen: Wir sprechen bei ihm von einem erfahrenen Polizisten einer bewaffneten Sondereinheit. Wenn nicht bereits während des Lesens, dann fragt man sich zumindest am Ende des Buches, wie dieser Mann die Aufnahme in eine Sondereinheit geschafft hat.

An Naivität kaum zu überbieten

An Naivität ist Jonah Colley jedenfalls kaum zu überbieten, vielleicht nur noch von der 21-jährigen Literaturstudentin Ana aus dem furchtbaren Roman „Shades of Grey“, die nach Meinung dieses Blogs eigentlich auf ewig auf Platz 1 der naivsten Romanfiguren stehen müsste.

Doch zurück zu Jonah Colley. Da fährt also dieser erfahrene Spezialist um Mitternacht allein zu einem verlassenen Kai im Hafen von London, nachdem er von seinem ehemals besten Freund Gavin angerufen und mit einem geheimnisvollen Versprechen dorthin bestellt worden ist. Dass die Gegend Schlachter-Kai heißt, ist noch der Hohn obendrauf.

Er fährt da also hin, aber Gavin ist nicht dort. Höchst professionell leuchtet er mit einer Taschenlampe ins Lagerhaus und findet Gavins Handy. Colley ruft keine Verstärkung, sondern leuchtet weiter. Er findet Gavins Polizeiausweis. Colley ruft wieder keine Verstärkung, sondern leuchtet weiter. Er findet eine Blutspur. Colley ruft weder Verstärkung noch einen Notarzt. Er tut was?

Richtig: Er leuchtet weiter.

Beckett lässt seinen Protagonisten wie Gottes zweite Garnitur ins Unglück rennen. Weder er, noch sein Autor machen dabei eine gute Figur. „Die Verlorenen“, das sind auch Becketts Leser.

„Hätte ich bloß Wasser dabei“

Und das bleibt leider so. Als Colley im Lagerhaus das vierte und einzige noch lebende Opfer zu retten versucht, das gerade gierige Atemzüge nimmt, denkt er so bei sich: „Hätte ich bloß Wasser dabei.“ Nun, der Gedanke darf einem natürlich kommen, weil Wasser dem Opfer auf jeden Fall etwas weitergeholfen hätte. Aber dass der Polizist einer Sondereinheit darüber nachdenkt, nachdem er weder Verstärkung noch Rettungsdienst gerufen hat, als es zeitlich noch sinnvoll gewesen wäre, ist schon etwas befremdlich. Ganz davon abgesehen, dass bewaffnete Sondereinheiten bei Einsätzen in der Regel wohl kaum Wasser mit sich führen, also, warum jetzt darüber nachdenken?

Nach dem Leichenfund erholt sich Colley von einer schweren Verletzung im Krankenhaus. Als er gerade von der Physio kommt, wartet in seinem Zimmer schon eine junge Frau auf ihn – könnte die Psychotherapeutin sein, die man ihm angeboten hatte. Er fragt sie also: „Sind Sie die Therapeutin?“ Die Frau zögert und sagt: „Ich würde mich nicht als Therapeutin bezeichnen…“

Bei Thriller- und Krimifans schrillen die Alarmglocken. Nicht so bei erfahrenen Sonderermittlern, die sonst mit Waffen hantieren und nur bei den besonders kniffligen Fällen gerufen werden. Jonah Colley ist müde und will einfach nur schnell das Gespräch hinter sich bringen. Und plaudert muntert drauf los. Bis ihm irgendwann aufgeht: Dumm gelaufen, das ist eine Boulevard-Journalistin.

Situationsbeschreibungen sind hier Becketts Stärke

Sprachlich ist das alles noch ganz nett geschrieben. Besonders Situationsbeschreibungen sind hier Becketts Stärke, gerade wenn es schnell, brutal und blutig zugeht. In seiner Wortwahl ist er da wie gewohnt wenig zimperlich. Anders als in der Hunter-Reihe sind leider auch die wenigen augenzwinkernden Momente nicht wirklich überzeugend, etwa als Colley ein altes Wespennest für einen Totenschädel hält. Nun ja. Lustig auf dem Niveau eines Flachwitzes.

Gegen Ende, etwa die letzten 100 Seiten, nimmt das Buch dann doch noch Fahrt auf und wird tatsächlich ein wenig spannend. Das täuscht aber nicht darüber hinweg, dass die 300 Seiten zuvor eine ziemliche Qual gewesen sind. „Die Verlorenen“ gerät zum schwachen Auftakt der zunächst vor der Lektüre noch vielversprechend angenommenen, neuen Reihe. Wie viele Bände der 61-jährige Brite am Ende davon schreiben wird, weiß er selbst noch nicht, sagt er. Und was ist mit David Hunter? „Er kommt zurück“, verspricht Beckett. Wenigstens eine Hoffnung.

Simon Beckett: Die Verlorenen, Wunderlich Verlag, Hamburg, 2021, 416 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 24 Euro, ISBN 978-3805200523, Leseprobe

Die Rädchen im System

Rund sechs Jahre ist es her, dass Dave Eggers‘ Roman „Der Circle“ auf Deutsch erschien. Im Mittelpunkt des Romans stand die Internetfirma „The Circle“, deren Ziel es ist, die Anonymität im Netz zu beseitigen und umfassende Transparenz, Überwachung und soziale Kontrolle zu schaffen. Jetzt hat der US-Amerikaner Rob Hart mit „Der Store“ einen dystopischen Roman geschrieben, der erneut einen großen Online-Riesen zum Vorbild hat. Bei Eggers war es Google, beim „Store“ dürfte es Amazon sein. Der Unterschied: Das Medienecho in Deutschland ist bei Hart ungleich kleiner, dabei ist „Der Store“ wesentlich nachvollziehbarer, aktueller und vor allem stilistisch besser gelungen.

Im Roman von Rob Hart heißt der weltgrößte Onlinehändler nicht Amazon, sondern Cloud. Bestellen kann man aber auch dort wirklich alles: Bratensaftspritzen, Bücher, Katzenfutter, Kunstfellpantoffeln, Filzstifte, Selfie-Sticks, Baumscheren, Kokosnussöl, Fernseher, Eiweißpulver oder Knopfbatterien. Geliefert wird die Ware überallhin. Hinter dem knallhart kalkulierenden Wirtschaftsunternehmen Cloud steht Firmengründer Gibson Wells, mit einem Vermögen von 304,9 Milliarden Dollar der reichste Mensch in Amerika und der viertreichste der Welt. By the way: Amazon-Chef Jeff Bezos besitzt „nur“ 100 Milliarden Dollar (Stand: November 2019).

Doch Gibson Wells ist an Krebs erkrankt und hat nicht mehr lange zu leben. Während er mit seiner Frau die von der Außenwelt hermetisch abgeriegelten, MotherCloud genannten Standorte des Konzerns abklappert, lernen sich in einem von ihnen Paxton und Zinnia kennen. Beide wollen einen der begehrten Jobs bei Cloud, jedoch aus unterschiedlichen Motiven.

Harter Boden des Ruins

Paxton ist ein Opfer von Cloud. Das Unternehmen hat das von ihm  entwickelte Produkt in den Warenbestand aufgenommen, dann aber immer mehr Rabatt gefordert. Der wurde schließlich so immens, dass Paxton keinen Gewinn mehr erzielen konnte. Als er sich weigerte, auf die Forderung einzugehen, kappte Cloud die Geschäftsverbindung, und Paxton krachte auf den harten Boden des Ruins. Welche Motive die undurchsichtige Zinnia antreiben, erfährt der Leser erst später. Doch auch wenn Zinnia die Revoluzzerin von beiden ist, hat auch sie nicht damit gerechnet, wie weit Cloud gehen würde, um das Unternehmen zu schützen.

An die Nieren gehen vor allem die Szenen, in denen man ihren Arbeitsalltag im Warendepot verfolgt. Zinnia ist dafür verantwortlich, durch eine Halle zu laufen — die so groß ist, dass sie sogar eine Horizontlinie hat —, die angeforderte Ware durch Klettern aus mehrstöckigen Regalen zu holen und auf die Förderbänder zu legen. Im Akkord. Neun Stunden lang. Jede Sekunde zählt, denn der Kunde draußen im Land wartet am nächsten Tag auf seine Lieferung.

Ein Stern bedeutet die sofortige Kündigung

Das CloudBand, das jeder Mitarbeiter am Handgelenk trägt, misst nicht nur die Herzfrequenz, öffnet Türen und dient als mobile Kreditkarte, sondern weist auch den Weg und — registriert die Arbeitsleistung. „Grün heißt, dass du das Soll erfüllst. Wenn du hinterherhinkst, wird die Linie gelb, und sobald sie rot wird, stürzt dein Ranking ab. Pass also auf, dass es gar nicht erst dazu kommt“, lautet der Rat eines Kollegen. Das Ranking wird in fünf Sterne unterteilt. Fünf ist das Optimum, einer bedeutet die sofortige Kündigung. „Und wollen wir nicht alle jemand mit fünf Sternen sein?“

Im Kapitel „Alltagstrott“ sind Zinnia und Paxton zu den indoktrinierten Rädchen im System geworden, die Cloud am Laufen halten. Entsprechend kurz sind die Unterkapitel: „Zinnia wachte auf. Arbeitete. Schlief ein.“ Nächstes Kapitel: „Paxton wachte auf. Arbeitete. Schlief ein.“ Sie stecken fest im Hamsterrad, auch wenn Cloud ihnen vorgaukelt, es sei eine Karriereleiter.

Jeder Mitarbeiter wohnt und arbeitet auf dem Cloud-Gelände. Die Wohnungen sind kleine, mehr oder minder praktisch eingerichtete „Zellen“. Wer viel leistet, kann sich größere Unterkünfte verdienen, aufsteigen, Manager werden. Alles ist streng hierarchisch geregelt. Gewerkschaften gibt es nicht, und man sollte das Wort nicht mal laut aussprechen.

Unternehmen nutzen ihre Machtstellung aus

„Der Store“ ist kein modernes „1984“, kein utopischer Roman über eine übermächtige Regierung, sondern eine ziemlich wirklichkeitsnahe Dystopie über ein übermächtiges Wirtschaftsunternehmen. Unternehmen wie Google, Amazon, Facebook, Apple oder auch Ikea machen Milliarden-Gewinne, zahlen darauf aber kaum Steuern. Sie nutzen ihre Machtstellung aus, auch gegenüber Staaten und Regierungen, während auf der anderen Seite der Einzelhandel den Bach runtergeht. Wie es in Amazon-Logistiklagern zugeht, darüber hat etwa Nina Scholz für das Online-Magazin Vice berichtet. Die Unterzeile des Artikels lautet: „Kollegen werden abgemahnt, weil sie 16 Sekunden zu früh in die Mittagspause gegangen sind. Solche Dinge passieren täglich.“ Dasselbe würde Zinnia wohl auch über Cloud sagen.

Rob Hart, der früher als politischer Journalist und Kommunikationsmanager für Politiker und im öffentlichen Dienst der Stadt New York gearbeitet hat, sagt selbst: „Ich glaube, wir müssen alle gründlich überdenken, wie wir konsumieren. Vielleicht muss nicht immer alles erhältlich sein, vielleicht brauchen wir keine Zustellung in zwei Tagen, vielleicht brauchen wir keine Handys für 1.000 Dollar. Aber vielleicht ist dieses System auch einfach so unglaublich groß, vielleicht sind wir so tief darin verwurzelt, vielleicht gibt es kein Entkommen.“ Hart, so viel darf man verraten, gibt auch in und mit seinem Roman keine Antwort darauf.

Regisseur hat sich die Filmrechte gesichert

Dass „Der Store“ hervorragender Stoff fürs Kino ist, ist kaum von der Hand zu weisen. „Der Circle“ ist mit Emma Watson und Tom Hanks verfilmt worden. Und auch den „Store“ werden wir wohl bald im Kino sehen können, denn Star-Wars-Regisseur Ron Howard hat sich bereits die Filmrechte gesichert.

„Der Circle“, „Der Store“: Dass der deutsche Titel den englischen Begriff verwendet, ist folgerichtig. Im Original heißt Harts Roman „The Warehouse“ („Das Warenhaus“), aber niemand in Deutschland würde sagen: „Ich habe das im Warenhaus gekauft.“ Wir gehen shoppen, bevorzugt im Sale oder im Outlet, wir haben Meetings, trinken Coffee to go, und unsere Eltern hatten schon zu Studentenzeiten Sit-ins. Moderne, trendbewusste Menschen würden also auch im „Store“ einkaufen. Was sie damit anrichten, können sie in diesem spannenden, hochaktuellen und intelligenten Roman lesen. Wir alle sind Rädchen in diesem System, das die Cloud am Laufen hält. Wir alle.

Rob Hart: Der Store, Heyne Verlag, München, 2019, 592 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN 978-3453272309, Leseprobe

Terror-Thriller auf Verlangen

Deutschland, Griechenland, Zypern, Großbritannien, USA, Afghanistan und Pakistan – das sind die Schauplätze des vielschichtigen und sorgfältig recherchierten Terrorismus-Thrillers „Talib – der Schüler“. Er führt direkt in die Welt eines Mannes, der die Angst des Terrors in Europa verbreiten soll – und in die eines anderen, der den Terror stoppen will. Frank Hartmann hat mit seinem Debütroman eine kluge Analyse der Strukturen und Rekrutierungsmechanismen von Organisationen wie Al-Kaida und dem IS geschrieben, die den Leser packt und teilweise raffiniert in die Zwiespältigkeit führt. Ganz nebenbei hat Hartmann mit Vangélis Tsakátos einen griechischen Geheimdienstler erfunden, mit dem man zu gern mal die Kneipen von Athen unsicher machen würde.

Tsakátos (nicht etwa Tsakatós, darauf legt der Mann wert) ist Analyst des US-Geheimdienstes National Security Worldwide (NSW) und gerade nach Athen versetzt worden. Dort soll er die griechischen Behörden bei der Bekämpfung der nationalen Terrorgruppe „Widerstand Hellas“ unterstützen. Die treibt seit Jahrzehnten ihr Unwesen in Griechenland und hat dabei Unterstützer aus allen Bereichen der Gesellschaft.

Schmutzige Bombe bei den Olympischen Spielen

Gleichzeitig gerät rund 6.000 Kilometer entfernt ein junger Mann namens Basim Atwa in Afghanistan in das ausgeklügelte Rekrutierungssystem von Al-Kaida. Wir befinden uns im Jahr 2002, rund ein Jahr nach den verheerenden Terroranschlägen von 9/11 in den USA. Der 23-jährige Basim soll der Welt der Ungläubigen den nächsten Schock verpassen und bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen eine schmutzige Bombe zünden.

Mit welchen zum Teil perfiden und manipulativen Methoden Menschen zu Gotteskriegern gemacht werden, welche persönlichen Erfahrungen einen jungen Menschen aber auch in die Fänge von Terrororganisationen treiben, das schildert Hartmann besonders eindrücklich auf den ersten rund 100 Seiten. Basim verliert mit neun Jahren nicht nur seinen geliebten Vater, sondern auch seine Beine und muss fortan im Rollstuhl sitzen.

Über verschlungene Wege und verschiedenste Orte kommen sich beide Protagonisten immer näher, begegnen und verpassen einander, jeder unterwegs in eigener Mission. Diese unterschiedlichen Lebenslinien, die sich unaufhaltsam aufeinander zubewegen, sind spannend konstruiert, obgleich sie nie konstruiert wirken.

Jahrzehntelange journalistische Erfahrung

Auch sprachlich bewegt sich der Roman auf einem hohen Niveau. Nicht nur hier merkt man dem Werk die jahrzehntelange journalistische Erfahrung des Autors an. Hartmann, dessen halbe Familie aus Griechen besteht und der selbst fünf Jahre in der Nähe von Athen gelebt hat, ist seit 35 Jahren Journalist. Seine Reportagen für große deutschsprachige Tageszeitungen und Magazine führten ihn nach Alaska, Afrika, Indien, Indonesien – und auch Afghanistan. Dort, in der Hauptstadt Kabul, ist vor Jahren die Grund-Idee zu „Talib“ entstanden.

„Talib – der Schüler“ ist derzeit nur als „Book on demand“ erhältlich – einen Verlag für seinen Erstling hat Hartmann bislang nicht gefunden. Viele bekannte Autorinnen und Autoren haben in ihren Anfängen ähnlich gearbeitet, nur für die Schublade oder Freunde geschrieben.

Die Bestsellerautorin Nele Neuhaus zum Beispiel hat 500 Exemplare ihres Erstlings „Unter Haien“ auf eigene Kosten drucken lassen, in der Garage gelagert und dann nach und nach im Kofferraum in die Buchhandlungen gefahren und unter die Leser gebracht. Durch Zufall wurde nach zwei weiteren Büchern „on demand“ eine Vertreterin des Ullstein-Verlags auf ein Buch von ihr aufmerksam. Heute haben die Bücher von Nele Neuhaus allein in Deutschland eine Gesamtauflage von rund fünf Millionen verkauften Exemplaren. Ähnlich ging es E.L. James, der Autorin von „50 Shades of Grey“ (Rezension) oder Lena Späth mit „Beyond Curtains“ (Rezension).

Auch Hartmann hat seine Erfahrungen gemacht. 20 Literaturagenten hat er kontaktiert, nur vier haben sich überhaupt zurückgemeldet. Interesse von Verlagen? Fehlanzeige. Hartmann lässt sich davon nicht beirren. Er sitzt mittlerweile an der Fortsetzung von „Talib“ und macht sich nebenbei im Land mit Lesungen bekannt. Möge an irgendeinem Ort, in irgendeiner Lesung zufällig eine Verlagsvertreterin sitzen und spitze Ohren kriegen. Vangélis Tsakátos muss weiterleben!

Frank Hartmann: Talib – der Schüler, Books on Demand, Norderstedt, 2019, 384 Seiten, gebunden, 22,99 Euro, ISBN 978-3748110354, Leseprobe

Buch Wien: Terézia Mora vergleicht Migration von Menschen und Literatur

Terézia Mora bei der Eröffnungsrede - © LCM Fotostudio Richard Schuster
Terézia Mora bei der Eröffnungsrede – © LCM Fotostudio Richard Schuster

Die neunte internationale Buchmesse „Buch Wien“ ist eröffnet. Am Mittwochabend sprach die gebürtige Ungarin Terézia Mora eine, wie sie ankündigte, 19 Minuten lange Festrede zum Thema „Sätze und Menschen“. Die Autorin solcher Romane wie „Alle Tage“, „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ und „Das Ungeheuer“ verglich darin die Migration von Menschen und literarischen Texten: „Tatsache ist: Sobald ein Satz in der Welt ist, wird er migrieren.“ Hauptsächlich sprach Mora über Sätze und Zitate, die hinausgehen in die Welt, das Für und Wider der neuen digitalen Buchwelt sowie über das Urheberrecht. Sie machte jedoch auch keinen Hehl daraus, dass sie gleichzeitig über Migration sprach: „Einen öffentlich gemachten Satz am Migrieren zu hindern ist unmöglich, noch viel unmöglicher, als einen lebendigen Menschen daran zu hindern.“ Immer wieder streute sie Hinweise auf die Parallele ein, etwa als sie über die „Qualität des Aufnahmetextes“ sprach („Ich habe diesen Ausdruck aus dem Wort Aufnahmeland abgeleitet, um auch ‚die aktuellen Entwicklungen in Europa‘ nie lange aus den Augen zu verlieren“). Beim Urheberrecht sprach sie sich für weniger Angst und mehr Pragmatismus aus, und auch das durfte man wohl als Parallele verstehen.

Mora, das machte sie deutlich, gehört zu denjenigen, die in der Digitalisierung einer Erweiterung der Möglichkeiten sehen. Der Technologiewechsel bringe neue spannende Formen mit sich, etwa die erwartbaren Versuche einer SMS-Dichtung wie der Twitter-Roman von Jennifer Egan (zur Seitengang-Rezension) oder die Sammlung von bisher unveröffentlichten Gedichten auf Lyrikline. Längere Texte dagegen hätten es online bislang eher schwer. „Am ertragreichsten auf dem Feld der digitalen Literatur scheinen mir die Blogger.“ Es sei allerdings auch leichter, ein digitales Werk zu verändern als ein physisches wie ein Buch. Sie empfehle Autoren daher, immer das Werk auch drucken zu lassen, „wenn du ein integres Kunstwerk in den Händen halten willst“. Sie selbst gehe inzwischen auch immer mehr dazu über, Zeitungen aus Papier zu lesen, weil es dort unter den Artikeln keine Kommentarmöglichkeit gebe. Bei Büchern sei das ähnlich – da werde der Leser ebenfalls nicht von anderen mit ihren Kommentaren belästigt. „Es sei denn, du willst das, aber dafür musst du dann das Medium wechseln.“ (Lesen Sie hier die vollständige Rede von Terézia Mora.)

Zuvor hatte Benedikt Föger, Präsident des Hauptverbandes des Österreichischen Buchhandels, darauf hingewiesen, dass die deutschsprachigen Buchmessen immer politischer würden. Er erinnerte an die „Buch Wien“ des vergangenen Jahres, als Paris zur Zeit der Wiener Buchmessenparty von terroristischen Anschlägen erschüttert wurde. Auch der 9. November 2016 sei mit der Wahl des neuen US-Präsidenten Donald Trump ein historischer Tag, den Föger, keinesfalls beifällig, nur mit den Worten von Carolin Emcke kommentieren wolle, die diese bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gesagt habe: „Wow.“

Die feierliche Eröffnung der „Buch Wien“ begann indes mit einer kurzen Gedenkminute für die im August nach kurzer schwerer Krankheit verstorbene Inge Kralupper. Sie war langjährige Geschäftsführerin des Hauptverbands, hat die österreichische Buchbranche und Literaturszene geprägt und „ohne sie hätte es die ‚Buch Wien‘ nie gegeben“, erklärte Föger.

Liedermacher "Der Nino aus Wien" mit seiner Band - © LCM Fotostudio Richard Schuster
Liedermacher „Der Nino aus Wien“ mit seiner Band – © LCM Fotostudio Richard Schuster
Die darauffolgende „Lange Nacht der Bücher war ein voller Erfolg für die Veranstalter. Selten waren in den vergangenen Jahren die Bühnen der Messehalle so dicht umringt von Zuschauern wie in diesem Jahr. Den Anfang machte der Liedermacher Nino Mandl, besser bekannt als „Der Nino aus Wien“, mit seiner Band und zeigte die enorme Bandbreite seiner Kunst zwischen Folk, Wienerlied und Indierock. Sobald auf der kleinen Bühne der Poetry Slam begonnen hatte, moderiert von den österreichischen Poerty Slam-Ikonen Mieze Medusa und Markus Köhle, und umjubelt von den zumeist jungen Zuschauern, waren auf der großen ORF-Bühne manchmal die Autoren nicht zu verstehen, weil ihre Stimmen im Poetry-Jubel untergingen.

Leider musste der Auftritt der am Dienstagabend mit dem ersten Österreichischen Buchpreis bedachten Friederike Mayröcker abgesagt werden. Stattdessen schoben die Veranstalter eine Diskussion der Journalisten Franz Kössler (ehemaliger ORF-Korrespondent in Washington) und Eric Frey (Der Standard) über „Donald Trump und die Folgen“ ins Programm. Das Zuschauerinteresse hier war nur mäßig. Ganz anders noch sah das beim Auftritt des schwedischen Krimimeisters Arne Dahl aus, der seine neue Thriller-Serie vorstellte. Auch Dahl äußerte sich erschüttert über den Wahlausgang in den USA. Die ganze Welt verändere sich, und die Schweden haben bislang immer gedacht, sie seien eine Ausnahme. „Aber das stimmt nicht.“ Denn auch in Schweden seien populistische Parteien auf dem Vormarsch.

Arne Dahl (l.) im Gespräch mit Moderator Florian Scheuba - © LCM Fotostudio Richard Schuster
Arne Dahl (l.) im Gespräch mit Moderator Florian Scheuba – © LCM Fotostudio Richard Schuster
Dass der Name Arne Dahl nur ein Pseudonym von Jan Lennart Arnald ist, ist mittlerweile lange bekannt. Im Gespräch mit Moderator Florian Scheuba erklärte Dahl, er habe sich das Pseudonym ausgedacht, als er seine Erzähllust verloren habe. „Ich habe an den Spaßfaktor gedacht – Krimis zu schreiben macht viel mehr Spaß.“ Sein richtiger Name sollte geheim bleiben, aber nach fünf Jahren wurde er von einem Journalisten enttarnt. Das weckt natürlich Erinnerungen den sehr aktuellen Fall der Elena Ferrante („Meine geniale Freundin“), die in diesem Sommer enttarnt worden ist. Dahl dazu: „Das ist eine Privatsache, wenn man sich ein Pseudonym aussucht.“ Er könne es nicht verstehen, wenn ein Autor so gegen den Willen ins Licht gezerrt werde. Aber es ginge da ja auch wohl um viel Geld. Er selbst habe fünf Bücher unter Pseudonym schreiben können, erst dann habe man seinen echten Namen herausgefunden. Das erzürne ihn jedoch nicht mehr: „Es war Zeit für mich, ein Gesicht zu haben.“

Dann endlich las der Wiener Volkstheater-Schauspieler Stefan Suskse das zweite Kapitel aus Dahls neuem Thriller „Sieben minus eins“ vor. Um einen Killer zu schnappen, ist der soziopathische Kommissar Sam Berger auf die Hilfe seiner nicht minder soziopathischen Kollegin angewiesen. Bald erkennt der Ermittler, dass es tief verborgen in seiner Vergangenheit etwas gibt, das ihn mit den brutalen Verbrechen verbindet. Dahl: „Ich denke immer filmisch. Diesmal habe ich versucht, eine dichte Art von Spannung zu schaffen – und es wird filmisch, das verspreche ich Ihnen, es ist ein bildlich filmisches Buch.“ Passenderweise sind fast alle seiner Bücher inzwischen verfilmt worden. Ob auch dieser Roman dazu gehören wird, sei aber noch nicht sicher, sagte Dahl.

Dass dem ersten Band weitere folgen werden, ist indes klar. „Am Ende des Buches gibt’s einen Cliffhanger – es muss also mehr geben“, beantwortete Dahl die Frage des Moderators. „Als ich 80 oder 90 Seiten geschrieben hatte, merkte ich, dass die Chemie und Dynamik zwischen den beiden so gut war, dass es auf jeden Fall mehr Bücher geben muss.“

Bewundernswert: Arne Dahl brauchte keinen Übersetzer für das Gespräch, denn er sprach selbst sehr gut Deutsch. Darauf angesprochen sagte er, er habe sein altes Schuldeutsch wieder herausgeholt und versucht, es zu verbessern, denn er habe das Gefühl, bei Lesereisen durch Deutschland werde es so dynamischer auf der Bühne, als wenn man sich immer übersetzen lasse.

Arne Dahl: Sieben minus eins, Piper Verlag, München, 2016, 416 Seiten, broschiert, 16,99 Euro, ISBN 978-3492057707, Leseprobe

Noch bis Sonntagabend werden bei der Buch Wien auf rund 8.800 Quadratmetern die Neuerscheinungen dieses Herbstes präsentiert. Seitengang ist noch bis einschließlich Samstagabend vor Ort und berichtet von der Buchmesse.

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