Vertraue niemandem – außer dieser Rezension

„Bühne“ sagt man. Nicht „Theater“. Das ist die erste Lektion, die die neuen Schauspielschülerinnen und -schüler an der Elite-Schule CAPA von dem berüchtigten, unkonventionellen Lehrer Mr. Kingsley lernen. Bühne. Die Bretter, die die Welt bedeuten. An der CAPA bedeuten sie auch Schmerz und Macht.

Das erfahren ganz besonders die beiden Hauptfiguren in Susan Chois fünftem Roman „Vertrauensübung“, der jetzt erstmalig auf Deutsch im Kjona-Verlag erschienen ist, toll übersetzt von Tanja Handels und Katharina Martl. Man sollte ihn jedoch nicht bloß „Roman“ nennen. Man nenne ihn „Kunst“. Oder auch: „Kaleidoskop“. Das sah auch die Jury des wichtigsten US-Literaturpreises so: Choi wurde für diesen Roman 2019 mit dem National Book Award ausgezeichnet.

Lassen Sie sich fallen

Haben Sie schon einmal an einer Vertrauensübung teilgenommen? Die einfachste ist: Sie stellen sich vor eine Person, der Sie vertrauen, und lassen sich rückwärts fallen. Werden Sie aufgefangen, ist die Vertrauensübung geglückt. Andernfalls sollten Sie möglicherweise Ihr Vertrauen zu der anderen Person überdenken.

An der CAPA, der Citywide Academy for the Performing Arts, die Teenager aufnimmt, die schon in jungen Jahren als Darsteller vielversprechend scheinen, gehören solche Vertrauensübungen zum Lehrprogramm, allerdings in scheinbar endlosen Variationen.

Im Jahr 1982 begleiten wir Sarah und David, zwei 15-Jährige, die gerade neu an der CAPA angenommen worden sind, durch ihr erstes Schuljahr. Sarah, die aus einfachen Verhältnissen stammt, und David, Spross eines wohlhabenden Elternhauses, ein „rich kid“, verlieben sich trotz aller Unterschiede und Ungereimtheiten ineinander. Doch diese Vertrauensübung geht schief. Sarah tritt hinter Davids Rücken zur Seite, als der sich gerade öffentlich fallen lassen will.

Grausam demütigende Bühnenarbeit

Stattdessen tritt nun Mr. Kingsley hinter Sarah und wird ihr Vertrauenslehrer. Ganz ohne sexuelle Konnotation. Vielleicht. Denn Mr. Kingsley ist doch schwul, erinnert sich Sarah immer wieder. Sie erzählt von ihrer misslungenen Liebesgeschichte, und Mr. Kingsley tritt hinter ihr zur Seite, lässt sie fallen und nutzt das Gehörte für grausam demütigende Bühnenarbeit und Zurschaustellung von Sarah und David. Wie sehr aber kann Mr. Kingsley seiner eigenen Macht vertrauen? Als er sich einem Jungen namens Manuel zuwendet, reagiert Sarah.

Und wie sicher sind Sie als Leserin, als Leser, dass die Autorin Sie auffängt, wenn Sie sich rücklings fallen lassen? Seien Sie nicht zu beruhigt. Denn der ganze Roman ist eine Vertrauensübung, die Sie nicht bestehen werden. Haben Sie Seite 178 erreicht, beginnt ein neuer Teil des Buches, der überschrieben ist mit „Vertrauensübung“. Und haben Sie Seite 316 gelesen, beginnt der dritte Akt. Er heißt: „Vertrauensübung“. Ich werde mich hüten, Ihnen genau zu erzählen, was es mit diesem meta-fiktionalen Teil auf sich hat – Ihnen entgeht am Ende noch der Genuss des Fallens.

Psychologisch wie strukturell raffiniert aufgebaut

Susan Choi schafft mit ihrem Roman ein vielschichtiges, zu Diskussionen und Interpretationen anstiftendes Werk, das wie ein Kaleidoskop immer neue Facetten aufblitzen lässt. Psychologisch wie strukturell ist der Roman raffiniert aufgebaut, das Dasein an einer Schauspielschule treffend gezeichnet; und das ist ja noch längst nicht alles.

Die Autorin war einst selbst Schülerin an einer solchen High School, wie sie in ihrer Danksagung schreibt: „Ganz ausdrücklich das positive Gegenstück zu meiner fiktiven CAPA und ein Hort der Träume, nicht der Albträume.“

Susan Choi, die 1969 als Tochter eines koreanischen Vaters und einer jüdischen Mutter in South Bend im US-Bundesstaat Indiana zur Welt kam, erzählte dem New York Magazine 2019 (sehr lesenswert!), beim Schreiben habe sie eine verrückte Wut angetrieben. Zum einen über die Trennung von ihrem Ehemann nach 13 Jahren. Zum anderen über die erfolgreiche Präsidentschaftskandidatur von Donald Trump, ganz besonders aber über dessen Prahlereien mit sexueller Gewalt („grab’em by the pussy“).

Lesen Sie dieses Buch. Geben Sie es auch Freundinnen und Freunden, denn Sie werden Vertraute suchen, mit denen Sie darüber sprechen können. Es ist ein Roman, dem Sie nicht vertrauen können, der jede Leserin und jeden Leser auf Loyalität testet und zugleich Lügen und Wahrheiten kunstvoll verstrickt, um daraus etwas Neues zu schöpfen. Aber ist es eine Lüge? Ist es Wahrheit? Was ist es? Keine leichte Kost, aber dennoch: unbedingt lesen! Doch gestatten Sie mir noch eine Frage: Vertrauen Sie mir?

Susan Choi: Vertrauensübung, Kjona-Verlag, München, 2023, 349 Seiten, gebunden, 25 Euro, ISBN 978-3910372115

Seitengang dankt dem Kjona-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Das Drahtseil der gerechten Strafe

TerrorDer Strafverteidiger Ferdinand von Schirach ist nicht nur ein glänzender Erzähler, sondern stellt jetzt unter Beweis, dass er auch noch Theaterstücke schreiben kann. „Terror“ heißt sein erstes Werk und ist nach den Anschlägen von Paris unfreiwillig hochaktuell. Es ist für die Bühne konzipiert, wirkt aber auch als Phantasiespiel im Kopf des Lesers unmittelbar und eindringlich. „Terror“ ist die moderne Fassung der alten ZDF-Gerichtsshow „Wie würden Sie entscheiden?“ – ein Gerichtsdrama mit zwei unterschiedliche Enden, und der Leser muss das aus seiner Sicht richtige wählen.

Der Leser und der Theaterzuschauer werden zum Schöffen, ja, gar zu Richtern gemacht. Die Bühnen, die Schirachs Stück bereits spielen, lassen den Zuschauer meist nach der Pause entscheiden: Soll der Angeklagte verurteilt oder freigesprochen werden? 16 deutsche Theater haben „Terror“ auf dem Spielplan, die Uraufführung lief zeitgleich in Frankfurt und Berlin. Es besteht enormes Interesse.

Erklären lässt sich das sicher schon mit dem gewählten Sujet: Terroristen haben eine Lufthansa-Maschine mit 164 Menschen an Bord entführt und drohen, es in das vollbesetzte Münchner Fußballstadion zu fliegen. Lars Koch ist Kampfpilot der Luftwaffe, sitzt zu diesem Zeitpunkt im Cockpit seines Eurofighters und versucht erfolglos, die entführte Maschine vom Kurs abzubringen. Dann trifft der 31-Jährige eine einsame Entscheidung: Er schießt die Passagiermaschine ab, um die 70.000 Stadionbesucher zu retten. Jetzt steht er wegen 164-fachen Mordes vor Gericht und soll sich verantworten.

Was ist Menschenwürde?

Das Theaterstück stellt Fragen, die auch stets wiederkehrende Themen in Schirachs Büchern sind: Darf man Menschenleben gegeneinander aufrechnen? Was ist Menschenwürde? Was ist Schuld? Lars Koch hat für sich entschieden: Ja, man darf Menschenleben gegeneinander aufrechnen. Er hat sie abgewogen. Die Rettung von 70.000 Menschen wog schwerer, denn die 164 Menschen an Bord der Passagiermaschine wären wahrscheinlich ohnehin gestorben, rechnet er dem Gericht vor. Aber er hat damit nicht nur über Leben und Tod anderer Menschen entschieden, er hat auch gegen einen ausdrücklichen Befehl gehandelt. Denn selbst in solchen Notsituationen hat das Bundesverfassungsgericht den Abschuss von Passagiermaschinen verboten.

Die Bundesregierung hatte nach dem 11. September 2001 das neue Luftsicherheitsgesetz erlassen. Danach sollte der Verteidigungsminister in solchen Fällen entscheiden können, notfalls Waffengewalt einzusetzen und unschuldige Menschen zu töten, um andere zu retten. Doch das Bundesverfassungsgericht sah das anders und hob diesen Paragrafen wieder auf. Menschenleben dürften niemals gegeneinander abgewogen werden, das widerspreche schon der Verfassung. Lars Kochs Verteidiger erklärt, sein Mandant habe im übergesetzlichen Notstand gehandelt. Damit legt Schirach ihm das Argument des früheren Bundesverteidigungsministers Franz Josef Jung (CDU) in den Mund, der auch noch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erklärt hatte, er werde dennoch ein für einen Terroranschlag entführtes Flugzeug notfalls durch die Bundeswehr abschießen lassen.

Der Fall „Lars Koch“ ist selbstverständlich erfunden, aber er eignet sich hervorragend als juristisches Lehrstück. Da macht es auch nichts, dass wir manche Argumente Schirachs für Rechtsstaatlichkeit, Foltervervot und Menschenwürde schon aus anderen Büchern, zuletzt aus der Essay-Sammlung „Die Würde ist antastbar“, kennen. Wie würden Sie entscheiden? Ist Lars Koch schuldig oder unschuldig? Wie die Theaterbesucher in den bisherigen Aufführungen abgestimmt haben, kann man im Internet nachlesen. Bis jetzt plädierte die Mehrheit für „unschuldig“. Lars Koch würde im Namen des Volkes freigesprochen.

Entscheidung nach eigener Fasson

Man könnte argwöhnen, das Stück langweile doch sicher. Es ist nun wirklich auch nur eine Gerichtsverhandlung, wie sie sich tatsächlich abspielen könnte. Die einst in diversen Privatsendern gezeigten Gerichtsshows gehören der Vergangenheit an, auch die von 1974 bis 2000 produzierte ZDF-Sendung „Wie würden Sie entscheiden?“ ist längst Fernsehgeschichte, warum also fesselt dieses Theaterstück so sehr? Weil der Leser und der Theaterbesucher seine Entscheidung nicht juristisch begründen muss. Weil er nur danach entscheidet, wie er tickt, ganz nach seiner Fasson. Und das ist zugleich das Ungeheuerliche dieses Theaterstücks. Schirach spielt damit: Er stellt die juristischen Prinzipien dar und lässt dann das Volk richten.

Nicht völlig von der Hand zu weisen ist natürlich auch der aktuelle Rahmen, in dem „Terror“ jetzt besonders hervorsteht. Auf dem Buchrücken erklärt Schirach, er habe das Theaterstück vor dem Anschlag auf die Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo geschrieben. „Es wird weitere Anschläge geben, weitere Morde, weiteren Schmerz.“ Aber er glaube an den „gelassenen Geist unserer Verfassung, an ihre souveräne Toleranz und ihr freundliches Menschenbild“. Das Buch enthält auch die Rede, die Schirach zur Verleihung des M100-Sanssouci-Medienpreises an Charlie Hebdo geschrieben und noch vor den Anschlägen von Paris gehalten hat. Wer das Buch bis zur letzten Seite gelesen hat, wird es aufgewühlt zuschlagen und sich bis dahin selbst besser kennengelernt haben, wenn und soweit es um Fragen von Recht, Moral, Terrorbekämpfung und die Grenzen des Grundgesetzes geht. Nie zuvor hat Ferdinand von Schirach eine solch persönliche Vereinnahmung des Rezipienten erreicht. Lesen Sie es!

Ferdinand von Schirach: Terror, Piper Verlag, München, 2014, 176 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 16 Euro, ISBN 978-3492056960, Leseprobe

„Lichthupe Vollgas“ durchs Theaterleben

Foto: Insel-Verlag„Kellner, Nutten, Taxifahrer und Schauspieler. Alles dasselbe. Dienstleistendes Gewerbe.“ In dem Insel-Bändchen „Alles Theater“ erzählen Berliner Schauspieler wie Ulrich Matthes, Fritzi Haberlandt oder Martin Wuttke sehr persönlich vom Theaterleben, vom Zauber der Bühne und von anderen Dingen. Brigitte Landes hat sie reden lassen und ihre Worte notiert, die Schauspielerin und ehemalige Theaterfotografin Margarita Broich hat zum Fotoapparat gegriffen und sie zum Teil noch in Kostüm und Maske abgelichtet, kurz nachdem sie die Bühne verlassen haben. Entstanden sind 32 Kurz-Porträts, die ein kleiner Schatz sind.

Der 2013 verstorbene Schauspieler Otto Sander ist nur mit dem eingangs erwähnten Bonmot vertreten. Auf der Fotografie trägt er noch sein Bühnenoutfit aus Samuel Becketts „Das letzte Band“, gespielt am Renaissance-Theater in Berlin im Jahre 2009. Auf dem Tisch steht eine Dose Taft-Haarspray, in der rechten Hand hält Sander eine Zigarette. Es sind diese Fotos von Margarita Broich, Ehefrau von Martin Wuttke und neue Kommissarin im „Tatort“ Frankfurt, die für den besonderen Reiz des Büchleins sorgen: Sie hat oft genau im richtigen Moment abgedrückt, bevor die Theaterrolle abfällt und sich die Alltagsrolle wieder an den Leib schmiegt. Das Foto von Otto Sander ist die schlichte Verbildlichung seines Bonmots. Treffender kann ein Porträt kaum sein. Und es ist eine wahre Kunst, diesen Augenblick abzupassen. Das ist Broich gelungen. Sehenswert sind hier übrigens auch Lars Eidinger, Corinna Harfouch und Ben Becker.

Das Buch lässt die Porträtierten zu Wort kommen, aufgeschrieben von Brigitte Landes. Sie hat dabei die Wortwahl und den Duktus ihrer Gesprächspartner löblicherweise übernommen. So schnoddert Alexander Scheer über die „Castorf-Knochenmühle“: „Da merkst du erst nach ein paar Shows, wie geil Castorf das Ding gebaut hat.“ Und das Ensemble geht dabei „Lichthupe Vollgas“ und „voll auf die Zwölf“, muss sich völlig „aufrauchen“.

Auf der anderen Seite philosophiert Burghart Klaußner über den Schutz der „Ersatzwelt der Bühne vor der Erstwelt“, und Fritzi Haberlandt spricht über das Erleben von Glück auf der Bühne, während man eigentlich nur dankbar sein müsse, dass immer noch so viele Menschen ins Theater kommen, um selbst zu erleben und in den Bann geschlagen zu werden.

Auch „Alles Theater“ vermag in den Bann zu schlagen. Es ist zwar nur eine kleine Auswahl von Schauspielern, aber sie ist fein, sie ist in den meisten Fällen interessant, und sie ist vor allem eine gelungene Komposition aus Fotografie und Text.

Margarita Broich/Brigitte Landes: Alles Theater, Insel Verlag, Berlin, 2015, 79 Seiten, gebunden, 18 Euro, ISBN 978-3458200161, Leseprobe