Apocalypse now – Schweizer Fassung

Sind auf der Erde tatsächlich einst Riesen gewandelt, wie es in alten Geschichten erzählt wird? Und was wäre, wenn diese Riesen in naher Zukunft zurück auf den Planeten kämen? Klingt komisch, ist es aber nicht – nicht in Gregor Spörris Endzeit-Thriller „The Lost God“. Eines Tages im Jahr 2012 fallen 19 gigantische Stahlkugeln vom Himmel, zermalmen alles, was sich ihnen in den Weg stellt, und bleiben schließlich liegen. Wissenschaftler versuchen sich an Erklärungen, während das Militär rings um die Absturzstellen Sperrzonen errichtet und Forscherteams entsendet.

Der Schweizer Gregor Spörri hat sich in seinem ersten Buch an ein Science-Fiction-Thema herangewagt, das sowohl von Hollywood als auch von vielen anderen Autoren schon ausgiebigst bearbeitet worden ist: die Invasion von Außerirdischen auf der Erde. Spörri aber hatte sein ganz persönliches Erweckungserlebnis: Der nach Angaben des Verlags erfolgreiche Diskothekenausstatter, Designer, Clubbetreiber und Produzent machte bei einer Ägyptenreise 1988 eine interessante Entdeckung.

Im Wüstenbezirk Bîr Hooker zeigte ihm ein Händler, dessen Vorfahren Grabräuber gewesen sein sollen, einen riesenhaften mumifizierten Finger. Laut Klappentext maß der Finger im ausgestreckten Zustand vom Nagel bis zum Knochenende 38 Zentimeter. Die Innenseite des Buchumschlags zeigt ein Foto des mysteriösen Funds, die Internetseite zum Buch bietet weitere Informationen zum Thema und verleiht dem ganzen Projekt einen wissenschaftlichen, nicht-fiktionalen Anstrich.

„Neues Zeitalter der Barbarei“

Dass Gregor Spörri eine Vision hat, ist beim Lesen unübersehbar. Die anfangs eingeführten Personen scheinen zunächst nur dafür gut zu sein, dem Leser das Weltbild des Autors und damit einhergehend das Übel der Welt aufzuzeigen. Mit dem Fotokünstler Maximilian Lindner wettert er gegen das Abholzen der Regenwälder und das Ausrotten von ganzen Tierrassen, mit einem indonesischen Fahrer wirft er die Theorie vom Treibhauseffekt über den Haufen und verspricht das Hereinbrechen eines „neuen Zeitalters der Barbarei“. Luxus und soziale Not, Sex, Kriminalität und religiöser Fanatismus – rund um den Erdball finden sich genügend Beispiele, um Spörris düstere Vision zu unterstreichen: die Zeichen der Zeit stehen auf „Apocalypse now“.

Der Schreibstil ist anfangs holperig, vor allem die Dialoge wirken sehr geplant, hölzern und wenig lebendig. Teilweise versucht Spörri mit Interjektionen aus der Comic-Sprache Spannung zu erzeugen, doch ein „Bummm“, „Baammm“ und „Buuooommmm“ wirkt eher belustigend und unprofessionell. Das gibt sich aber, nachdem die Stahlkugeln vom Himmel gefallen sind.

Jetzt zeigt sich Spörris Talent: seine Recherchearbeit. Mit viel technischem Hintergrundwissen wird die Geschichte von der Invasion der Außerirdischen nun glaubwürdig, liest sich aber dennoch streckenweise wie ein Sachbuch mit fiktionalen Anteilen. Wer dieses Buch zur Hand nimmt, sollte danach nicht alleine sein, denn es wird Redebedarf geben, lässt der Thriller doch ausreichend Raum für Spekulation und Interpretation. Ein Buch, an dem man sich aufreiben kann.

Gregor Spörri: The Lost God, Münster Verlag, Basel, 2012, 495 Seiten, gebunden, 24 Euro, ISBN 978-3905896336

Gesucht: Sicherheit

Magnus hat auf einem Internat in Irland sein Abitur gemacht und feilt jetzt an seiner Cambridge-Bewerbung, Carolin wurde von ihrer Mutter mit einem Kochlöffel verprügelt und Luisa hat sich für 13 Jahre bei der Bundeswehr verpflichtet. Gemein ist ihnen, dass sie im Alter zwischen 18 und 25 Jahren sind und der Generation „Facebook“ angehören. Oder der Generation „Faul“. Oder wie auch immer diese jungen Menschen bezeichnet werden, die herangewachsen sind und unsere Gesellschaft zukünftig mitbestimmen werden. Die beiden jungen Autorinnen Anne Kunze und Katrin Zeug, beide selbst erst Anfang 30, haben in ihrem Buch „Ab 18“ die Geschichten dieser jungen Menschen aufgeschrieben. Mal als Interview, dann als Fließtext, herrlich nah dran und ohne sie bloßzustellen.

Sie erzählen von ihrem Alltag, ihren Träumen und Sorgen. Auffallend ist, dass die meisten dieser jungen Menschen Familien gründen wollen. Richard etwa – mit ihm beginnt das Buch, weil er der Jüngste ist – will vier Kinder haben. Er hat keine Freundin, aber eine Geliebte. Carolin, ebenfalls 18 Jahre, möchte ihre Kinder streng erziehen, „aber vor allem soll mein Kind sehen, dass ich es liebe.“

Aus ihrer eigenen Kindheit erzählt sie, wie ihre Mutter sie mit dem Kochlöffel in die Ecke geprügelt hat und dass sie immer unter ihrer Fettleibigkeit gelitten hat: „Viele Freunde hatte ich nie, ich bin dick, seit ich denken kann. In der Schule wurde ich sehr stark gemobbt. (…) Einmal ist einer, als ich mit dem Bus nach Hause gefahren bin, hergekommen und hat mir eine Stecknadel in den Bauch gesteckt, um zu sehen, ob der platzt.“ Familie zu haben, das spielt für sie eine große Rolle. Manche von ihnen telefonieren täglich mit ihren Eltern, halten immer noch große Stücke auf deren Ratschläge und wollen in der Zukunft ihren Kindern eine glückliche Familie bieten, auch wenn einige von ihnen selbst keine glücklichen Erinnerungen an die eigene Kindheit haben.

Die beiden Autorinnen sind durch ganz Deutschland gefahren, haben Offiziersanwärter in einer Kaserne getroffen, eine Punkband in ihrem Proberaum besucht, eine zum Islam konvertierte Frau beim Fastenbrechen der muslimischen Jugend in Berlin begleitet und einen jungen Fotografen auf seiner Finissage seiner Ausstellung auf der Reeperbahn interviewt. Es geht um Moral, Religion und Wertevorstellungen. Um Ehrgeiz, Facebook und den täglichen, prüfenden Blick in den Spiegel. Viele wissen genau, was sie wollen. Und die meisten von ihnen streben vor allem nach Sicherheit.

Sandra etwa. Sie ist 22, studiert BWL im zweiten Semester und sagt: „Ich wünschte, jemand würde mir sagen, was ich machen soll. Irgendeine Sicherheit. Wenn ich an meine Zukunft denke, bekomme ich Beklemmungen: Ist das richtig, was ich mache? Soll ich lieber abbrechen und eine Ausbildung als irgendwas machen?“ Wie ein Kommentar darauf klingt eine Äußerung der 22-jährigen Tuğba: „Wir wissen in unserer Generation: Der Zeitpunkt, zu dem wir uns sicher fühlen, wird niemals kommen. Deswegen wollen wir flexibel sein, in jedem Moment unseres Lebens Glück finden und suchen, genießen und glücklich sein, man kann das nicht hinausschieben. Vielleicht kann man aber versuchen, mit weniger auszukommen.“

Die Autorinnen erklären ausdrücklich in ihrem Vorwort, dass die Geschichten keine Fallstudien und keine Exempel seien, sondern nur verrieten, wie es ist, heute in Deutschland erwachsen zu werden. Das gelingt. Das gelingt ganz wunderbar. Vielleicht auch deshalb, weil die Autorinnen vor allem Menschen gesucht haben, die sie aufgrund ihrer Tätigkeit oder ihrer besonderen Situation interessiert haben. Anderen sind sie ganz zufällig begegnet oder haben mit Freunden von Freunden gesprochen. Entstanden ist eine authentische Reportage über die Generation der heute 18- bis 25-Jährigen, die absolut lesenswert ist und Grundlage für Diskussionen bietet. Lesen!

Anne Kunze, Katrin Zeug: Ab 18, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2011, 240 Seiten, broschiert, 16,95 Euro, ISBN 978-3498035570

Trari, trara, der Sarg ist da

Ein Serienmörder geht um, und kein Opfer kann sagen, es sei nicht gewarnt worden: Die Post liefert einen kleinen Sarg ins Haus, handgeschnitzt, im Inneren ein heimlich aufgenommenes Foto des Empfängers. Wenige oder einige Zeit später kommt der Tod. Jake Pepper, Detective beim State Bureau of Investigation eines kleinen Bundesstaates im Westen der USA, steht vor einem Rätsel. So beginnt Truman Capotes Novelle „Handgeschnitzte Särge“, die der Verlag Kein & Aber jetzt in der Reihe „Große Literatur im kleinen Format“ veröffentlicht hat.

Die Novelle, die Capote als „Tatsachenbericht über ein amerikanisches Verbrechen“ benannt hat, ist kein neu entdecktes Werk, sondern der Sammlung von Reportagen und Porträts entnommen, die erstmals 1974 unter dem Titel „Wenn die Hunde bellen“ erschienen ist. Und es ist egal, ob es sich wirklich um einen Tatsachenbericht handelt, oder ob Capote Fakten und Erfundenes kombiniert hat, wie vom Verlag zu erfahren ist – entstanden ist eine spannend gestrickte Kriminalgeschichte.

Eines Tages schreibt der Detective den bekannten Schriftsteller an – Capote und Pepper kennen sich über einen gemeinsamen Freund – und berichtet von dem seltsamen Fall, den er derzeit bearbeitet. Es entwickelt sich eine regelmäßige Telefonkonferenz zwischen den beiden. „Drei Jahre lang telefonierten wir alle paar Monate miteinander. Die Spuren in diesem Fall waren so komplex wie ein Rattenbau und führten irgendwann gar nicht mehr weiter. Schließlich sagte ich: Na, dann haben Sie ja nichts mehr zu verlieren. Dann kann ich ja auch kommen und mich ein bisschen umsehen.“ Capote reist also an. Mittlerweile hat der Mörder sieben Menschen umgebracht, immer auf raffinierte Art und Weise. Die ersten beiden Opfer, ein Ehepaar, das stets gemeinsam zur Arbeit fährt, ereilt der Tod, als sie in ihr Auto steigen und wütende Klapperschlangen über sie herfallen. Ein anderer rast mit seinem offenen Jeep heimwärts, als ihn ein gespannter Draht einen Kopf kürzer macht. Was verbindet diese Menschen? Wo ist das Motiv? Bald hegen die beiden Männer einen ersten Verdacht, doch es fehlt an Beweisen. Die Zeit drängt, denn auch Peppers Zukünftige hat schon einen dieser Särge bekommen…

Capote schreibt mit seiner üblich feinen Beobachtungsgabe, die schon in „Kaltblütig“ so hervorragend funktioniert hat. Kein Wort zu viel, kein Ausstaffieren von Szenen. Vielfach sind es nur die Dialoge der beiden Männer, die den Text ausmachen, durchzogen von wenigen Absätzen, die an die Regieanweisungen in Drehbüchern und Theaterstücken erinnern.

Von Capote sind in der Reihe „Große Literatur im kleinen Format“ schon mehrere wunderschöne Ausgaben erschienen. Das kleine Format ist von einigen Verlagen längst wiederentdeckt worden, andere haben es nie aufgegeben. Kein & Aber legt die „Handgeschnitzten Särge“ in silbernem Leinen vor, dazu ein silbernes Lesebändchen – schön, wenn ein Verlag so viel Mühe auf das Äußere verwendet.

Unbedingt kaufen und lesen!

Truman Capote: Handgeschnitzte Särge, Kein & Aber Verlag, Zürich, 2011, 160 Seiten, gebunden, 14,90 Euro, ISBN 978-3036955889

Der Grat zwischen Genie und Wahnsinn

Was für ein Roman! Noch lange Zeit, nachdem man den „Engelmacher“ von Stefan Brijs gelesen hat, hallt dieses Werk nach. Und dann will der Leser nur noch eines: Darüber reden, was ihm Erstaunliches und Verstörendes, Bewegendes und Tiefsinniges begegnet ist.

„Manche Einwohner von Wolfheim behaupten noch immer, sie hätten zuerst das Geheul der drei Babys auf der Rückbank gehört und erst danach den Motor des in das Dorf einfahrenden Taxis.“ So beginnt der Bestseller aus Belgien und den Niederlanden. Wolfheim ist ein kleines Örtchen im Dreiländereck, in dem die Bewohner dem Dorfklatsch par excellence nachgehen. Und so ist es keine Verwunderung, dass die Ankunft von Dr. Victor Hoppe und der drei Babys bald in aller Munde ist. Der lange Meekers ist es, der die ersten Gerüchte in die Welt setzt. Drei Babys seien es. „Ihre Köpfe…“, sagte er langsam, „ihre Köpfe sind gespalten.“ In der einzigen Kneipe des Ortes ist das Gerede am Abend groß. Fast zwanzig Jahre ist es her, dass Dr. Hoppe das letzte Mal in Wolfheim war. Jetzt ist es wieder zurück, und mit ihm eine Geschichte, die kaum einer der Dorfbewohner für möglich halten würde. Aber sie erfährt auch kaum jemand in ihrer schockierenden Gänze.

Der Leser ist gefesselt zwischen dem Klatsch und Tratsch einer Dorfgemeinde und dem Leben und Wirken eines Arztes, der bestrebt ist, nur das Gute zu wollen und das Böse stets zu bekämpfen. Aufenthalte als Kind im Kloster mit zweifelhaften pädagogischen Methoden und einer psychiatrischen Klinik legten den Grundstein für die spätere fanatische Arbeit des Dr. Hoppe. Begeistert horcht die Welt der Wissenschaft auf, als ihm 1980 erstmalig das Klonen von Mäusen gelingt…

Brijs langweilt nicht mit wissenschaftlichen Fachausdrücken, sondern packt den Leser bei dessen eigenen moralischen Wertvorstellungen und einer spannenden Mixtur aus wissenschaftlicher Forschung, religiösem Wahn und menschlichem Dasein. Das ist alles so ungeheuerlich, dass es gelesen werden muss.

Stefan Brijs: Der Engelmacher, btb Verlag, München, 2007, 447 Seiten, gebunden, 19,95 Euro, ISBN 978-3442751761