Der Schmerz der Doppelgänger

Im ersten AugenblickDer neue Roman von Grégoire Delacourt, Autor des Bestsellers „Alle meine Wünsche“, wird von den Medien fälschlicherweise nur als Liebesroman gefeiert. Die französische Tageszeitung Le Figaro etwa schreibt: „Grégoire Delacourt hat den Liebesroman neu erfunden.“ Der Atlantik Verlag druckt das Lob gleich auf den Umschlag. Doch „Im ersten Augenblick“ ist auch der bedrückende Roman einer Identitätssuche und gerade deshalb so lesenswert.

Arthur Dreyfuss ist 20 Jahre alt, macht sich als Automechaniker die Hände dreckig und wohnt allein in einem kleinen freistehenden Häuschen am Rand eines französischen Örtchens mit 687 Einwohnern. Während er eines Abends eine Folge der TV-Serie „Die Sopranos“ sieht, klopft es plötzlich an der Haustür. Als er öffnet, steht vor ihm die amerikanische Schauspielerin Scarlett Johansson.

Obwohl ihm schlagartig bewusst wird, dass er nur seinen Lieblingsfernsehaufzug, weißes Unterhemd und Schlumpf-Boxershort, anhat, bittet er sie herein. „Und welcher Mann auf der Welt, selbst in Unterhemd und Schlumpf-Boxershorts, hätte zu der phänomenalen Schauspielerin aus „Lost in Translation“ nicht „Kommen Sie herein“ gesagt?“

Müde vom Licht der Scheinwerfer

Sie gesteht dem völlig verdatterten Arthur, dass sie vom Filmfestival in Deauville geflohen sei, um ein paar Tage zu verschwinden, müde vom Licht der Scheinwerfer. Arthur entscheidet sich, die erschöpfte Schauspielerin bei sich unterzubringen. Während er sich schlaflos auf dem Ikea-Sofa im Wohnzimmer herumwälzt, schlummert Scarlett selig zwei Etagen höher in seinem Jugendzimmer unter den Postern von Michael Schumacher und der nackten Megan Fox.

Am Abend ihres dritten gemeinsamen Tages gesteht die Schönheit in Arthurs Haus schließlich, dass sie nicht Scarlett Johansson, sondern Jeanine Foucamprez heißt. Sie sieht bloß aus wie Scarlett Johansson, haargenau wie Scarlett Johansson. Und sie leidet fürchterlich unter dieser Last, denn für die Öffentlichkeit ist die Person Jeanine Foucamprez eine unsichtbare Frau. Wahrnehmbar ist nur die äußere Hülle, die Scarlett Johansson gleicht wie das eine sprichwörtliche Ei dem anderen.

Wie geht ein Mensch damit um, dass die Öffentlichkeit das eigene Ich verleugnet und es in eine andere Rolle presst? Wie verhält sich ein möglicher Partner? Liebt er den Menschen oder den äußeren Schein? Und welche Auswirkungen hat beides auf ein Liebespaar? Das sind die Fragen, die – ja, mit einer anmutigen Liebesgeschichte verwoben – in diesem sprachlich außergewöhnlichen Roman gestellt werden.

Die Zweifel bleiben

Die echte Scarlett Johansson hat ihre Rolle in der Öffentlichkeit gefunden, Jeanine Foucamprez nicht. Unfreiwilliger Doppelgänger zu sein, macht nicht nur unglücklich, sondern vor allem einsam, denn die Zweifel bleiben, ob das Gegenüber wirklich den Menschen liebt und nicht doch nur das „Sieht aus wie…“.

Die Angst vor dem Verlust der eigenen Identität und das Doppelgängermotiv finden sich immer wieder in der Literatur („Das Bildnis des Dorian Gray“, „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“). Grégoire Delacourt fügt jetzt noch ein weiteres gelungenes Beispiel hinzu, wenngleich man ihn gewiss nicht mit Oscar Wilde oder Robert Louis Stevenson gleichsetzen kann. Literarisch kann Delacourt da nicht mithalten. Eindringlich aber sind all jene Leser davor zu warnen, die aufgrund des Klappentextes und des kitschigen Umschlags nur von einer schönen, unterhaltsamen Liebesgeschichte ausgehen. Dieses Buch vermag viel mehr!

Umso unverständlicher ist es, dass Scarlett Johansson gegen dieses Buch vor Gericht gezogen ist. Der Roman verletzte und nutze betrügerisch ihre Persönlichkeitsrechte aus. Johansson verlangte nicht nur 50.000 Euro Schadensersatz, sondern wollte auch erreichen, dass keine weiteren Rechte an dem Buch verkauft werden, es also zum Beispiel nicht verfilmt werden könnte. Johanssons Anwälte vertraten die Auffassung, Delacourt habe die Person Scarlett Johansson dafür missbraucht, seinen Roman aufzuwerten und zu einer Sensation zu machen.

„Archetyp der heutigen weiblichen Schönheit“

Delacourt war sprachlos, als er davon erfuhr. Er erklärte laut der britischen Tageszeitung The Guardian, er habe Scarlett Johansson ausgewählt, weil sie der „Archetyp der heutigen weiblichen Schönheit“ sei. Seine Hauptperson aber sei Jeanine Foucamprez, nicht Johansson. Es ist also mehr eine Hommage an die amerikanische Schauspielerin – die aber in Übersee nicht verstanden wurde. Vielleicht auch deshalb nicht, weil der Roman zum Zeitpunkt des Prozesses noch nicht ins Englische übersetzt worden war und Johansson ihn deshalb noch nicht gelesen habe, wie Delacourt in einem kurzen Interview mit der franzözischen Tageszeitung Le Figaro erklärte.

„Wenn ein Autor nicht mehr die Dinge erwähnen kann, die uns umgeben, eine Biermarke, ein Denkmal, einen Schauspieler … dann wird es kompliziert, Romane zu schreiben“, sagte Delacourt weiter. Das Problem daran ist: Marken haben einen Marktwert, und Hollywoodschauspieler haben den auch. Bei dem Prozess in Paris ging es also auch darum, welchen Wert die Marke Johansson hat. Den Gefallen tat das Gericht der Schauspielerin allerdings nicht: Delacourt und sein Verlag müssen 2.500 Euro Schadensersatz bezahlen und 2.500 Euro Anwaltskosten übernehmen. Die Rechte blieben unerwähnt.

Ironischerweise wäre es in Johanssons Heimatland gar nicht zum Prozess gekommen, erklärte der New Yorker Anwalt Lloyd Jassin gegenüber dem amerikanischen Nachrichtenmagazin „Time“. Dort ist die Garantie der Meinungsfreiheit im 1. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten („First Amendment“) unantastbar. In Europa aber, sagte Jassin, würden Persönlichkeitsrechte „sehr viel ernster“ genommen – für Johansson die beste Gelegenheit, sich darauf zu berufen und ein wenig Geld einzuheimsen.

Im Interview mit dem Figaro scherzte Delacourt: „Ich dachte, sie könnte mir Blumen schicken, weil es eine Liebeserklärung für sie war, aber sie wollte es nicht verstehen.“ Und weiter: „Sie beschwert sich über das, was ich sage, das ist ein wenig paradox, aber der Prozess ist schließlich sehr amerikanisch.“

Grégoire Delacourt: Im ersten Augenblick, Atlantik Verlag, Hamburg, 2014, 206 Seiten, gebunden, 17,99 Euro, ISBN 978-3455600018, Leseprobe

Wenn ein Kind zum Mörder wird

Das Kind das tötetWenn der Brite Simon Lelic ein Buch schreibt, kann man sicher sein, dass es ungewöhnlich ist und umstrittene Themen anpackt. Sein Debütroman „Ein toter Lehrer“ befasste sich mit einem Lehrer, der in seiner Schule Amok läuft. In seinem neuesten Streich („Das Kind, das tötet“) erzählt er von einem Anwalt, der einen 12-jährigen mutmaßlichen Mörder verteidigen will. Was die Gesellschaft vom Ideal eines fairen Verfahrens für jeden Angeklagten, gleich seiner ihm vorgeworfenen Tat, hält, führt Lelic eindrucksvoll vor Augen.

Der Geschichte liegt ein Fall aus Englands Justizgeschichte zugrunde: Im Jahr 1993 entführen die beiden Zehnjährigen Jon Venables und Robert Thompson im Einkaufszentrum von Liverpool den erst zwei Jahre alten Jamie Bulger. Eine Videokamera filmt, wie die drei zusammen das Gebäude verlassen. Es sind die letzten Bilder des lebendigen Jamie. Rund drei Stunden später ist er tot. Misshandelt und schließlich von einem Zug überrollt.

Auch Felicitas Forbes muss bis zu ihrem Tod Schreckliches erleiden. Die 11-Jährige in Lelics Roman wird von ihrem Mörder schwer misshandelt, sexuell missbraucht und anschließend in einem Fluss ertränkt. Daniel Blake, „Das Kind, das tötet“, wird wenige Zeit nach der Tat gefasst. Genauso erging es auch damals Jon Venables und Robert Thompson. Und in beiden Fällen folgt eine Hexenjagd sondergleichen.

Wohltuende Überzeugung für Moral und Gerechtigkeit

Für den jungen Anwalt Leo Curtice ist der Anruf, ob er die Pflichtverteidigung im Fall Blake übernehme, wie ein Sechser im Lotto. Er wittert die große Chance, endlich erfolgreich zu sein. Mit großem Ehrgeiz und einer wohltuenden Überzeugung für Moral und Gerechtigkeit macht er sich an die Arbeit, muss aber an mehreren Fronten gleichzeitig kämpfen.

Denn die Öffentlichkeit und die Medien gehen wenig zimperlich mit seinem Mandanten um. Die Gazetten des Landes machen Daniel Blake zu einem Monster, dem kein Recht auf eine Verteidigung gestatten werden dürfe. Leos Tochter Ellie wird in der Schule zunehmend gemobbt und eines Tages sogar mit roter Tinte überschüttet. Die Harmonie in der Familie hängt an einem dünnen Faden, denn auch Leos Frau Meg, die selbst öffentlich beschimpft wird, hat immer weniger Verständnis für sein Engagement in diesem Fall.

Als Leo die ersten Drohbriefe bekommt, ist das der Anfang vom Ende. Er verheimlicht sie. Stattdessen baut er weiter an seiner Verteidigungslinie und versucht, Daniels Vertrauen zu erlangen, der bislang geschwiegen und nichts zu seinen Beweggründen gesagt hat. Auch darum geht es in Lelics Roman: Die Ahnung dafür zu bekommen, was diesen kleinen Jungen dazu gebracht hat, eine 11-Jährige zu ertränken. Eine Ahnung, mehr nicht.

Die Geschichte in der Geschichte

Ausdrücklich muss bei diesem Buch gewarnt werden, dass es sich dabei nicht um einen Krimi oder einen Thriller handelt. Dies ist ein Roman. Und er ist beileibe nicht immer leicht zu lesen, weil Lelic gerne auch die Geschichte in der Geschichte erzählt. Jene über Daniels Familie und die Ohnmacht der Mutter und des Stiefvaters, mit den Geschehnissen umzugehen. Auch jene über die Gefahr des Auseinanderbrechens einer Ehe. Oder eben jene dramatische Geschichte einer Tochter, Leos Tochter Ellie, die plötzlich verschwindet. Als Folge der Drohbriefe? Als Racheakt?

Lelic schreibt das alles gekonnt auf, ohne dabei in reißerische Darstellungen zu verfallen. Seine klare Untersuchung der Ereignisse ist trotzdem nahegehend und aufwühlend. Und so ist Lelics drittes Buch einmal mehr ein empfehlenswertes Werk geworden. Dass der Droemer Verlag den wesentlich zurückhaltenderen Original-Titel „The Child Who“ geradezu marktschreierisch mit „Das Kind, das tötet“ übersetzt und veröffentlicht, ist jedoch nicht zu verstehen.

In der britischen Tageszeitung „The Guardian“ stellte der Kulturredakteur die Frage: „Könnte dieses Buch Lelics absoluter Durchbruch sein?“ Und antwortete selbst: „Verdient hätte er es.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Simon Lelic: Das Kind, das tötet, Droemer Verlag, München, 2013, 350 Seiten, gebunden, 19,99 Euro, ISBN 3426199435, Leseprobe

Keine Zähne, kein Biss

Cry BabyIn Wind Gap, einer kleinen Stadt am Mississippi und im äußersten Südosten von Missouri, ist ein junges Mädchen ermordet worden. Ein zweites Kind wird vermisst, und die Einwohner fürchten, dass es das Schicksal des ersten Opfers teilen wird: erdrosselt und aller Zähne beraubt wird man auch dieses Mädchen finden. Die Daily Post aus Chicago schickt Camille Preaker als Reporterin in das kleine Nest. Es ist ihre Heimatstadt und Wiege traumatischer Erlebnisse.

Camille trägt die Wunden der Vergangenheit tagtäglich mit sich herum. Einst schnitt sie sich mit Rasierklingen Wörter in die Haut. Ihr ganzer Körper ist damit übersät. Nur auf dem Rücken ist eine kreisrunde Stelle verschont geblieben, weil sie mit der Hand nicht hinreichte. Die äußeren Narben weiß sie gut zu verbergen. Mit langer Kleidung. Mit Vorsicht. Die inneren betäubt sie mit Alkohol.

Das Verhältnis zur Mutter ist distanziert. Kein Wunder: Sie reagiert kühl, ja, fast eisig und macht keinen Hehl daraus, dass Camille nicht herzlich willkommen ist. Die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung belastet die Recherchen in Wind Gap von Anfang an. Die örtliche Polizei kommt mit dem Fall ebenfalls nicht so recht voran, auch der eigens aus der Großstadt gerufene Profiler stochert im Nebel, macht Camille aber schöne Augen.

Es dümpelt dahin und kommt nicht in Fahrt

Dann wird plötzlich das zweite Mädchen gefunden. Erdrosselt und zwischen zwei Hauswände gesteckt. Auch diesem Mädchen fehlen die Zähne. Wer war es denn nun? Das möchte auch der Leser endlich wissen, doch das Buch „Cry Baby“ verliert sich. Es dümpelt dahin und kommt nicht in Fahrt.

Dabei hat der Buchumschlag etwas anderes versprochen. Auf der Buchrückseite wird Stephen King zitiert: „Dies ist ein absolut grandioser Roman. Mir grauste es vor den letzten dreißig Seiten, aber ich konnte nicht anders, ich musste umblättern. Dann, nachdem ich das Licht gelöscht hatte, merkte ich, dass die Geschichte in meinem Kopf blieb, zusammengerollt und zischend wie eine Schlange in einer Höhle.“ Auf den Marketing-Trick des Verlags fiel offensichtlich auch die Zeitschrift Bild + Funk aus dem Gong-Verlag herein, die in einer Rezension schrieb: „Selbst Steven King lobte es in höchsten Tönen!“ Na, dann kann es ja nur gut sein.

So übermäßig gelobt worden ist das Debüt der Bestsellerautorin Gillian Flynn, die erst mit ihrem dritten Roman „Gone Girl“ den weltweiten Durchbruch erlebte. Von der Klasse jenes Bestsellers ist Flynn in „Cry Baby“ aber noch meilenweit entfernt. Eine begabte Schreiberin ist hier beileibe nicht am Werk.

Der Geschichte fehlt der Biss

Die Figuren sind schwach und zu klischeehaft gezeichnet, und der Geschichte fehlt der Biss. Sie bleibt hinter ihren Möglichkeiten zurück. In einem Interview mit dem Fischer Verlag sagte Flynn: „Bei „Cry Baby“ war ich mir lange Zeit nicht darüber im Klaren, wer eigentlich der Mörder sein sollte.“ Das merkt man dem Buch leider an.

So bleibt Flynns erstes Werk eine Enttäuschung für den Leser. Auf dem deutschen Buchmarkt ist es wohl nur aufgrund des enormen Erfolgs von „Gone Girl“, das von David Fincher verfilmt wurde und im Herbst 2014 in die deutschen Kinos kommt. Neben „Cry Baby“ (erste deutsche Veröffentlichung im Jahr 2007) ist auch Flynns zweites Buch „Dark Places“ (erste Veröffentlichung 2010 unter dem Titel „Finstere Orte“) nun wieder neu aufgelegt worden. „Cry Baby“ ist aber ein Buch, das das Regal nicht braucht.

Gillian Flynn: Cry Baby – Scharfe Schnitte, Fischer Scherz Verlag, Frankfurt, 2014, 332 Seiten, broschiert, 12,99 Euro, ISBN 978-3651011649, Leseprobe

Nadine Kegele oder: Eine Entdeckung am Abend

Nadine Kegele liest "Annalieder".
Nadine Kegele liest „Annalieder“.

Den zweiten Messetag der „Buch Wien“ habe ich überwiegend mit Schreiben verbracht. Erst am Abend besuchte ich eine Lesung im wunderschönen Buchladen-Café „phil“. Dort las Nadine Kegele, die Publikumspreisträgerin des diesjährigen Bachmann-Preis-Wettbewerbs, aus ihrem literarischen Debüt „Annalieder“. Eine wahrhaftige Entdeckung!

Die junge Vorarlberger Autorin kam mit 18 nach Wien und studierte nach dem Zweiten Bildungsweg Germanistik, Theaterwissenschaften und Gender Studies. Sie ist bereits mehrfach ausgezeichnet worden und hat vor ihrem Prosa-Debüt Texte in Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht.

„Annalieder“ ist eine Sammlung von zwölf Erzählungen über zwölf Frauen, von denen Anna nur eine ist. Die österreichische Literaturwissenschaftlerin Daniela Strigl, die ins Werk einführte und die Lesung moderierte, sagte, es seien Lieder mit Misstönen, Geschichten, in denen Messer herumlägen und irgendwann auch benutzt werden.

Gespür für ihre eigene Sprache und ihr Sprechen

„Es geht darum, was Männer Frauen antun und was Eltern ihren Kindern antun“, erklärte Strigl. Kegele habe ein Gespür für Körper und ihre Sprache. „Das geht vom Stoffwechsel bis zum Sex.“ Kegele hat aber auch ein Gespür für ihre eigene Sprache und ihr Sprechen. Man möchte ihr den ganzen Abend zuhören, wie sie ihre Erzählungen vorliest, die den Kopf anstrengen, weil man zuhören muss.

Denn es gibt Sprünge, Überraschungen, Wendungen, die allzu rätselhaft bleiben, wenn man nicht aufpasst und aufmerksam hört oder liest. „Die Leserinnen und Leser fragen oft nach, ob sie es richtig verstanden haben, sie vergewissern sich bei mir“, sagte Kegele am Abend in Wien.

Im „phil“ stellte sie eineinhalb Erzählungen vor. In „Hinter Papa“, die sie nur zur Hälfte vorlas, sucht die Protagonistin nach dem richtigen Entwurf für ihr Leben, einem Plan, denn sie wählt sich stets nur Vaterfiguren zum Partner.

Die Worte wirken wie dahingeworfen

„Nachtheulen“ wiederum erzählt von einem Geschlechtertausch ohne Happy End und einer Vergewaltigung, die keine ist. Kegele schreibt in einer lapidaren Sprache. Die Worte wirken wie dahingeworfen, wie zwischen Tür und Angel erzählt, und doch mit Bedacht gewählt. Beeindruckend.

„Ich sehe die Frauen in meinen Erzählungen nicht als Opfer, sondern ich interessiere mich für ihre Gefangenheiten“, sagte sie. Gefangen, ja, das sind sie. Und sie versuchen aus ihren Rollen auszubrechen, in denen sie stecken oder in die sie gesteckt worden sind.

Es geht um Gleichberechtigung und den Geschlechterkampf. Oft auch um die Mutterschaft, um überforderte Mütter. „Mir tut es immer leid, wenn sichtlich schwangere Frauen im Publikum sitzen und ich diese Geschichten vortrage“, erklärte sie. Aber eine Mutterschaft sei etwas Schwieriges, wo Frauen viel abverlangt werde.

„Ich bin Ja und Nein“

In „Annalieder“ findet sich aber auch eine Geschichte über eine Prostituierte, die der illegalen Sexarbeit zu Hause nachgeht und „ökonomisch am Boden und allein“ ist. Im Rahmen der Debatte um ein Prostitutionsverbot ist die Erzählung hochaktuell. Aber Kegele machte am Freitagabend deutlich, dass sie nicht klar für etwa eintrete: „Ich bin Ja und Nein, und ich bin nicht für das Verbot.“ Das sei nun auch nicht die Aufgabe von Literatur, fügte Strigl hinzu und schloss damit den Leseabend.

Auf diesem Blog wird sicher bald die Rezension der „Annalieder“ folgen. Wer Nadine Kegele selbst folgen mag, kann das bei Twitter tun. Auch ein Blick auf ihre Homepage lohnt sich.

Nadine Kegele: Annalieder, Czernin Verlag, Wien, 2013, 112 Seiten, gebunden, 17,90 Euro, ISBN 978-3707604467

Ein Erzähler macht noch keinen Romancier

TabuDass der deutsche Strafverteidiger Ferdinand von Schirach neben juristischen Schriftsätzen auch Literarisches verfassen kann, hat er mit seinen zwei Erzählbänden „Verbrechen“ und „Schuld“ bereits bewiesen. Das vernachlässigte Feld der Gerichtsreportage hat er damit neu belebt. Von Schirach ist ein Erzähler alter Klasse, wie man sie lange nicht mehr gelesen hat. „Tabu“, sein zweiter Roman, der jetzt erschienen ist, zeigt aber, dass von Schirach deshalb noch lange kein Autor von Romanen ist.

Bis zu einem Urteil gilt die Unschuldsvermutung. Aber was ist Schuld? Mit der Frage beschäftigt sich von Schirach schon seit seinem ersten Kriminalroman „Der Fall Collini“. Der neue Fall handelt von einem Mann namens Sebastian von Eschburg, Sprössling einer verarmten Adelsfamilie.

Seine Kindheit verbringt er überwiegend in einem Internat. Der Vater erschießt sich, die Mutter zeigt mehr Interesse an ihren Reitpferden als an ihrem Sohn. Die Vermutung liegt nahe, dass das beim Filius zu einem fiesen Charakter führt, eine bösartige Neurose hervorbildet oder ähnliche Folgen hat. Doch weit gefehlt. Sebastian berappelt sich und wird ein gefeierter Fotograf.

Nackte Haut und ein Pornoproduzent

Geradezu ermüdend genau beschreibt von Schirach, wie Eschburgs Kunst entsteht. Erstaunlicherweise bemüht er sogar nackte Haut und einen Pornoproduzenten, um das Bild eines extravaganten Künstlers zu zeichnen. Leider hangelt sich von Schirach dabei von Klischee zu Klischee. Der Pornoproduzent etwa trägt natürlich Lederjacke und Sonnenbrille.

Während aber geradezu detailverliebt von unterschiedlichen Kameramodellen und Fotografie-Kniffen die Rede ist, muss anderes zurückstehen. Zum Beispiel ist von Eschburg Synästhesist. Er sieht die Welt in anderen Farben als die Allgemeinheit. „Die Hände des Kindermädchens waren aus Cyan und Amber, seine Haare leuchteten für ihn violett mit einer Spur Ocker, die Haut des Vaters war eine blasse, grünblaue Fläche.“ Davon wird anfänglich viel erzählt, doch dann verliert sich die Spur im Lauf der Geschichte. Lediglich die Kapitel werden noch in Farben zusammengefasst. Interessante Aspekte vergehen also, während die üblichen Teile einer Schirach-Erzählung Bestand haben: der Strafverteidiger, das Gericht, die Schuldfrage, die anwaltliche Intervention.

Und so wird am Fall von Eschburg die Schuldfrage erklärt. Allerdings eher wie in einem mäßigen Repetitorium für Jurastudenten vor dem ersten Staatsexamen. Dem gefeierten Fotografen wird zur Last gelegt, eine Frau vergewaltigt und getötet zu haben. Die Leiche jedoch ist nicht auffindbar, macht aber nichts, denn der Angeschuldigte legt in seiner polizeilichen Vernehmung ein Geständnis ab. Die Presse hat ihr Urteil längst gesprochen.

Grantiger Advokat mit Burn-Out-Syndrom

Doch jetzt endlich tritt der Anwalt auf die Bühne des Geschehens. Es dauert 148 Seiten, bis die Leser Konrad Biegler endlich kennenlernen dürfen, jenen grantigen Advokaten mit Burn-Out-Syndrom, der von Eschburg aus dem Gefängnis holen und ihn zu einem freien Mann machen soll. Erster Anknüpfungspunkt: Das Geständnis. Erzwungen war es nämlich und erinnert an den Fall Magnus Gäfgen. Zweiter Anknüpfungspunkt: Die Schuld. Und dann auch noch das Auseinanderfallen von Wahrheit und Wirklichkeit.

Den Personen des Romans fehlt es an Tiefe und Eindringlichkeit. Sogar der Erlöser der Geschichte, Anwalt Biegler, ist alles andere als ein Charakterkopf. Er hat ja auch kaum Zeit, sich zu entwickeln. Im Grunde ist er eine arme Figur: Nur geschaffen und kurz umrissen für den letzten großen Auftritt. Eine Marionette in einem Stück, das von der Kunst des Erzählens weit entfernt ist.

Man kann nur hoffen, dass von Schirach sich wieder auf einen neuen Erzählband konzentriert. In einem Interview mit der Legal Tribune Online erklärte er im Oktober 2013: „An ‚Tabu‘ habe ich 19 Monate geschrieben, jeden Tag sechs Stunden. In dieser Zeit war ich nicht mehr in der Kanzlei. Bei den Kurzgeschichten war es einfacher, sie konnte ich nachts oder in den Ferien schreiben.“ Dieser Mann braucht Nächte und Ferien! Niemand muss doch auch noch ein großer Romancier werden, wenn er schon ein großer Erzähler ist.

Die Rezension von Anna Prizkau in der FAZ vergleicht „Tabu“ mit einer „gar nicht so schlechten Tatort-Folge“. Dem ist zu widersprechen. Diesen Tatort hätten die meisten abgeschaltet.

Ferdinand von Schirach: Tabu, Piper Verlag, München, 2013, 254 Seiten, gebunden, 17,99 Euro, ISBN 978-3492055697, Leseprobe