Die Wiederentdeckung eines Meisterwerks

Vor zwei Jahren legte Atlantic Books in London einen Roman wieder auf, der erstmalig 1993 veröffentlicht worden war. Jetzt hat der Luchterhand Verlag „Tony & Susan“ in deutscher Übersetzung herausgebracht – und lässt die Leser endlich ein altes Meisterwerk wiederentdecken: Den bekanntesten Roman des amerikanischen Schriftstellers und Literaturkritikers Austin Wright.

Es ist ein Roman im Roman. Rund zwanzig Jahre lang hat Susan Morrow nichts von ihrem Exmann Edward gehört, da bekommt sie mit einem Mal einen Brief von ihm. Er bittet sie, sein Manuskript zu lesen. Susan ist zunächst argwöhnisch: Will er wirklich nur ihre Meinung zu seinem Manuskript, jener Mann, der ihr einst nur auf der Tasche lag und übersteigerte Phantasien von seinem Erfolg als zukünftiger Schriftsteller hatte? Oder ist es sein Versuch, die erloschene Liebe neu zu entfachen? Doch Susan ist längst wieder verheiratet, ihr neuer Mann ist ein bekannter Herzchirurg, sie beide haben Kinder, um die sie sich kümmern muss. Die Neugier siegt aber schließlich doch – Susan liest das Manuskript.

Der Roman im Roman ist ein dramatischer und fesselnder Thriller: Edwards „Nachttiere“ erzählt von dem Mathematikprofessor Tony Hastings, der mit seiner Frau und seiner Tochter auf dem Weg in den Urlaub ist. In einer Szene, wie sie aus einer alten Stephen-King-Verfilmung stammen könnte, gerät er nachts auf einer einsamen Straße mit einem merkwürdigen Trio aneinander. Die drei in ihrem Buick drängen ihn von der Straße ab, entführen seine Frau und seine Tochter, vergewaltigen und ermorden sie. Was nach üblichem Thriller-Schema klingt, wird vielmehr zum verstörenden Psychogramm eines Mannes, dem die Realität mit all ihren Strukturen abhanden kommt, der sich verirrt.

Reflexion über das eigene Leben

Und wie sich Tony Hastings immer weiter verläuft, so gerät auch Susan Morrow immer tiefer in den Strudel der raffinierten Erzählweise ihres Exmannes. Denn „Nachttiere“ ist nicht nur ein Roman, sondern zwingt Susan auch eine Reflexion über das eigene Leben auf. Wie würde sie in Tonys Situation handeln? Hat sie in ihrer eigenen Vergangenheit die richtigen Entscheidungen getroffen und tut sie es auch heute? Welche Ansprüche hat sie an ihr Leben, an ihre Familie? Wie sehr müsste ihr Leben betroffen sein, dass sie Rachegelüste nicht nur verspüren, sondern sie auch umsetzen wollen würde?

Eine dritte Ebene eröffnet der Leser des Romans „Tony & Susan“ selbst, denn er muss sich ähnliche Fragen stellen. Wrights Roman drängt den Leser auf perfide Art und Weise zum Überdenken der eigenen Ideale und Sichtweisen. Ist er feige oder mutig? Kämpft er gegen Unrecht, das der Familie angetan wird, oder zieht er aus Angst um das eigene Leben den Schwanz ein? Wie couragiert ist er?

Es überzeugt. Es überzeugt voll und ganz. Es ist nicht nur der Plot, es ist vor allem die Unaufgeregtheit der literarischen Sprache, die in ihrer Unmittelbarkit so sehr ins Mark trifft, so sehr berührt und erschüttert, dass es den Leser nicht löslässt. Dass es ihn das Buch nehmen und ins Regal stellen lässt, um es nicht mehr fortzugeben. Lesen, unbedingt!

Austin Wright: Tony & Susan, Luchterhand Literaturverlag, München, 2012, 414 Seiten, gebunden, 19,99 Euro, ISBN 978-3630873664

Schuld und Sühne

Wer abends im Bett nur noch die ersten Seiten eines neuen Buches lesen und dann schlafen will, weil man am nächsten Tag früh aufstehen muss, trotzdem aber das Buch bis zum Schluss liest, der hat wahrscheinlich ein gutes Buch erwischt. Ferdinand von Schirachs „Der Fall Collini“ ist ein solches Buch.

Fabrizio Maria Collini, italienischer Staatsbürger, hat vierundreißig Jahre als Werkzeugmacher bei Daimler gearbeiter, zuletzt als Meister, und ist seit vier Monaten pensioniert. Er hat keine Vorstrafen und ist nie auffällig geworden. Doch dann geht er in das Berliner Luxushotel Adlon und tötet einen Mann namens Jean-Baptiste Meyer mit vier Schüssen in den Hinterkopf. Der junge Anwalt Caspar Leinen – erst seit ein paar Tagen hängt sein Kanzleischild am Hauseingang – bekommt den Fall als Pflichtverteidiger. Was Leinen zunächst als Karrierechance sieht, entpuppt sich als Problemfall. Denn der Getötete ist nicht nur der Großvater seines besten Freundes aus der Schulzeit, was Leinen in Gewissenskonflikte bringt, sondern Collini schweigt auch beharrlich zu seinem Motiv. Er ist geständig, will aber partout nicht darüber reden, warum Jean-Baptiste Meyer sterben musste. Um sich an dem Fall nicht die Zähne auszubeißen und zum Gespött der Berliner Anwaltschaft zu werden, muss Leinen tief in die deutsche Vergangenheit eindringen.

Was Ferdinand von Schirach mit seinem ersten Roman zustandebringt, ist ordentlich gut, aber noch nicht außerordentlich gut. Sein Schreibstil ist nüchtern und sachlich, aber weit entfernt von der Spröde eines juristischen Schriftsatzes. Das hat er bereits in seinen Erzählungen bestens unter Beweis gestellt und das macht auch den Roman so schnell und gut lesbar. Seine Figuren schwadronieren nicht, sondern sie erzählen präzise und mit knappen Worten. Der Wochenzeitung „Die Zeit“ hat er in einem Gespräch über seinen Erzählband „Schuld“ gesagt, „er sei kein Freund der Metapher, er suche nach keinem Synonym für „atmen“, wenn einer seiner Protagonisten atme. Wenn einer atme, schreibe er eben, dass dieser atme. Auf den Plot komme es an, wie in amerikanischen Storys.“

Schirach hat mit „Der Fall Collini“ die Nachkriegsjustiz zum Thema gemacht. Wer über diesen Bereich mehr lesen möchte, dem sei das Buch „Furchtbare Juristen“ von Ingo Müller ans Herz gelegt. Auch Schirach ist eng mit der Zeit des Nationalsozialismus‘ und der Nachkriegsjustiz verbunden, ist er doch ein Enkel des NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach. In einem Essay, der im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ veröffentlicht wurde und in dem Schirach über seinen Großvater schreibt, erklärt er jedoch, dass „Der Fall Collini“ keine Aufarbeitung seiner Familiengeschichte sei, sondern er „schreibe über die Nachkriegsjustiz, über die Gerichte in der Bundesrepublik, die grausam urteilten, über die Richter, die für jeden Mord eines NS-Täters nur fünf Minuten Freiheitsstrafe verhängten. Es ist ein Buch über die Verbrechen in unserem Staat, über Rache, Schuld und die Dinge, an denen wir heute noch scheitern.“

Auch im Bundesjustizministerium ist „Der Fall Collini“ offenbar gelesen worden, denn Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat im Januar 2012 die Professoren Manfred Görtemaker von der Uni Potsdam und Christoph Safferling von der Uni Marburg mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit im Bundesministerium der Justiz beauftragt. Ausdrücklich wird „Der Fall Collini“ in der Meldung als Beispiel erwähnt, denn der (rechts-)geschichtliche Hintergrund des Romans ist alles andere als fiktiv.

„Der Fall Collini“ ist sicherlich nicht die literarische Hochkultur, aber wenn ein Buch für eine schlaflose Nacht sorgt, ist das schon Grund genug, es guten Gewissens weiterempfehlen zu können. Es unterhält, es informiert, es rüttelt auch ein wenig auf. Und vielleicht sorgt es ja auch noch für einen Nachhall. Es wäre den Opfern der NS-Täter zu wünschen.

Ferdinand von Schirach: Der Fall Collini, Piper Verlag, München, 2011, 197 Seiten, gebunden, 16,99 Euro, ISBN 978-3492054751

Sherlock Holmes? Ist der nicht tot?

Kann es für einen Kriminalautoren ein besseres Lob geben, als dass er wie Sir Arthur Conan Doyle schreibe? Das Lob wiegt schwer, und doch muss sich der Leser immer wieder aufs Neue vergewissern, dass auf dem Buchdeckel Anthony Horowitz steht, der Sherlock Holmes wieder zum Leben erweckt hat.

Eine ganze Weile schon macht sich das Holmes-Fieber in der Welt wieder bemerkbar. Nach zwei Hollywood-Verfilmungen und einer gefeierten BBC-Fernsehserie, die den englischen Ermittler in die Neuzeit holte, ist es nun der englische Bestsellerautor Horowitz, dem ein Herbst- und Winterschmöker sondergleichen gelungen ist.

Trotzdem werden es ihm die eingefleischten Doyle-Fans übel nehmen, ja, sie werden ihm sogar an etlichen Stellen beweisen können, dass er eben nicht schreibe wie Doyle. Und dass es auf keinen Fall ein neuer Sherlock-Holmes-Fall ist. Andere werfen dem Autoren spöttisch eine mehr als seltsam passende Fügung vor, dass nun im derzeitigen Sherlock-Holmes-Fieber auch noch ein neuer Roman auftaucht. Doch das alles beiseite gelassen, ist Horowitz wirklich ein spannender Kriminalroman gelungen. Sherlock Holmes ist Sherlock Holmes und ermittelt mit all seiner Raffinesse, die man aus den Doyle’schen Büchern kennt. Sein treuer Freund und Biograph Dr. Watson kündigt dem Leser den wohl „dunkelsten Fall“ an, den der Detektiv jemals aufklären musste. Und wegen der besonderen Brisanz musste das Werk 100 Jahre unter Verschluss gehalten werden, bevor es nun an die Öffentlichkeit gelangen darf.

„Es war einer der letzten Novembertage des Jahres 1890 (…). Ein gnadenloser Winter hatte London im Griff, auf den Straßen war es so kalt, dass sogar die Gaslaternen wie gefroren erschienen, und das wenige Licht, das sie spendeten, wurde vom ewigen Nebel geschluckt.“ Dr. Watson, der inzwischen verheiratet, aber derzeit Strohwitwer ist, zieht vorübergehend wieder bei seinem treuen Gefährten Sherlock Holmes ein und wird mit ihm sogleich in einen neuen Fall verwickelt: Edmund Carstairs, seines Zeichens Galerist und Kunsthändler aus Wimbledon, fühlt sich von einem Mann verfolgt, in dem er den Kopf einer amerikanischen Verbrecherbande zu erkennen glaubt. Die hatte Carstairs zerschlagen lassen und fürchtet nun Rache.

Sherlock Holmes und Dr. Watson machen sich an die knifflige Arbeit und stoßen dabei auf ein Netz von Intrigen und Verschwörungen, von heimlichen Treffen und verdächtigen Personen. Und zu allem Unglück scheuen Holmes‘ Feinde nicht davor zurück, den berühmten Meisterdetektiv ins Gefängnis zu bringen: „Holmes hatte keine Ahnung, mit was für Leuten er sich da anlegte und wozu sie bereit waren, um sich zu schützen. Er hatte einen wahren Sumpf des Bösen betreten, und wir standen kurz davor, darin unterzugehen.“

Die Lösung des Hauptfalles ist, soviel darf verraten werden, überraschend, und trotzdem vermag sie auch zu enttäuschen, denn hier beschleicht den Leser der Gedanke, es sei der Phantasie des Autors kein wahrer Doyle’scher Geniestreich entsprungen. So sehr man auch Doyles Sprache nachahmen kann, so sehr man auch das London des Jahres 1890 heraufbeschwört, so sehr man sogar von der Sherlock-Holmes-Gesellschaft bei der Arbeit an dem Roman unterstützt wird, so wenig ist man doch ein Doyle. Man kann ihn bis zur Verwechslung nachahmen, aber man ist nie er selbst. Und so ist die Schwäche des Buches nicht etwa jene Arbeit des Nachahmens, sondern das Unvermögen, einen Sherlock-Holmes-Fall zu einem genialen Schluss zu bringen.

Der große Holmes-Fan Horowitz schreibt in seinem Nachwort: „Dieses Buch zu schreiben war eine große Freude, und meine einzige Hoffnung ist die, dass ich dem Original wenigstens halbwegs gerecht geworden bin.“ Bei all den kritischen Stimmen, die zu diesem Buch laut geworden sind, lässt sich dem Autoren antworten: „Anthony, das bist du, das bist du.“ In Deutschland ist Anthony Horowitz vor allem durch seine Jugendbuchreihe um den Spion Alex Rider bekannt. Außerdem hat er einige Drehbücher zu der ZDF-Krimireihe „Inspector Barnaby“ geschrieben.

Ein Lob ist dem Insel Verlag auszusprechen. Nun ist man als Leser vom Insel Verlag wunderbare Ausgaben gewöhnt, und doch soll hier gewürdigt werden, dass auf einen Schutzumschlag verzichtet worden ist, und dafür ein schwarzer Leineneinband mit weißer Prägung und dem Holmes-Profil den Roman umgibt. Dazu ein weißes Lesebändchen und ein rotes Vorsatzblatt, das ist gut gemacht. Auch gut gemacht ist die Werbearbeit des Mutterverlags Suhrkamp, der in einer breiten Facebook-Offensive auf das baldige Erscheinen aufmerksam gemacht hat.

Weniger schön dagegen ist es, dass der Lektoratsabteilung offenbar die Eselsbrücke zum Wort „brauchen“ entfallen war: Wer „brauchen“ ohne „zu“ gebraucht, braucht „brauchen“ gar nicht zu gebrauchen. So findet der kleinliche und aufmerksame Leser zumindest eine Stelle im Buch, in der nicht von der Regel Gebrauch gemacht worden ist. Das ist schade.

Wer soll nun dieses Buch lesen? Am besten: Alle. Diesem Buch sind viele Leser zu wünschen, vor allem aber jene skeptischen, die glauben, es sei Frevel, Sir Arthur Conan Doyle nachzuahmen. Es ist wahrlich ein Genuss an langen kalten Winterabenden, darin zu lesen. Und es bleibt die Frage: Wiegt das Lob wirklich so schwer, dass dieser Mann wie Sir Arthur Conan Doyle schreibt?

Anthony Horowitz: Das Geheimnis des weißen Bandes, Insel Verlag, Berlin, 2011, 352 Seiten, gebunden, 19,95 Euro, ISBN 978-3458175438

In Schweden stirbt es sich an Paganini

Im Stockholmer Nobelviertel Östermalm erhängt sich ein Mann. Doch das Zimmer hat keine Möbel – wie also hat er sich umbringen können? Wenige Stunden später wird auf einer einsamen Yacht in den Schären eine Frau gefunden, die offensichtlich ertrunken ist. Ihre Kleidung und ihr Körper sind jedoch trocken – wie also konnte sie ertrinken? Das fragt sich auch die Stockholmer Polizei. Erst der eigensinnige Kommissar Joona Linna findet die Verbindung zwischen den beiden Todesfällen. Und dann muss nicht mehr nur die Landeskriminalpolizei ermitteln, sondern auch noch der Staatsschutz.

Mit „Paganinis Fluch“ legt das schwedische Autorenduo Alexandra und Alexander Ahndoril alias Lars Kepler den lang erwarteten Nachfolger ihres Debüts „Der Hypnotiseur“ vor. Der beschert dem Leser ein Wiedersehen mit Joona Linna, dem Kommissar mit finnischen Wurzeln und einem Hang zur Dickköpfigkeit. Dessen Charakter entwickelt sich vor allem durch seine Arbeit bei der Landeskriminalpolizei, das Privatleben blitzt nur hin und wieder auf und hätte auch ganz aus dem Buch gestrichen werden können. Und obwohl der Anfang durchaus spannend geschrieben ist, entwickelt sich das Buch erst ab der Mitte zu einem Pageturner. Dann aber will man es auch nicht mehr weglegen, es sei denn, man muss die Augen vor den allzu blutrünstigen, brutalen Details verschließen.

In welche Richtung sich alles entwickelt, ist am Anfang noch herrlich unklar, obwohl der Leser weiß, dass der Erhängte Generaldirektor der Staatlichen Waffenkontrollbehörde und die Ertrunkene die Schwester der Friedensaktivistin Penelope Fernandez war. Doch wie hängt das alles zusammen? Und was hat das alles mit dem Teufelsgeiger Paganini zu tun? Dieser Krimi ist kein literarisch wertvolles Werk, aber es bietet dramatisch-spannende Unterhaltung und eine gute Vorlage für das eigene Kopfkino. Im Vergleich zum Debüt haben sich die beiden Autoren gesteigert, an die Klasse eines Henning Mankells oder Stieg Larssons kommen sie trotz des großen Themas ihres Buches nicht heran. Vielleicht noch nicht.

Einige Worte noch zum Titel des Buches. Möglicherweise verkauft sich ein Krimi mit dem Titelbestandteil „Fluch“ auf dem deutschen Buchmarkt zurzeit besonders gut, wenn immer noch Vampire und Zauberer ihr Unwesen in den Bestsellerlisten treiben. Trotzdem wäre eine Übersetzung des schwedischen Originaltitels „Paganinikontraktet“ zu „Paganini-Vertrag“ vielleicht nicht verkaufsfördernder, aber sinnvoller gewesen. Denn soviel sei verraten: Es geht hier nicht um einen Fluch, den jemand ausstößt, um damit Menschen zu töten, sondern um einen Vertrag. Und der Einsatz der Vertragsparteien ist der ganz persönliche Albtraum.

Lars Kepler: Paganinis Fluch, Gustav Lübbe Verlag, Köln, 2011, 621 Seiten, gebunden, 19,99 Euro, ISBN 978-3785724286

Kinder, wir sind Vampire

Für die meisten Einwohner des kleinen englischen Ortes Bishopthorpe sind die Radleys eine ganz normale Familie mit einem netten Häuschen, einem Minivan vor der Tür und den üblichen familiären Problemen. Doch die Radleys sind alles andere als eine normale Familie – sie sind Vampire.

Siebzehn Jahre lang haben die Eltern Helen und Peter ihr Geheimnis für sich behalten können. Doch nachdem ihre Tochter Clara auf einer Party einen zudringlichen Mitschüler in Notwehr zu Tode beißt, müssen sie ihr und ihrem Bruder Rowan die erschütternde Wahrheit offenbaren: Sie sind abstinente Vampire, die sich bisher dem Blutdurst verweigert und der Gesellschaft angepasst haben. Das erklärt Rowan auch, warum er trotz Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 60 Hautausschlag bekommt, wenn er in die Sonne geht, und nachts so schlecht schlafen kann. Oder weshalb alle Tiere flüchten, sobald sie der Radleys gewahr werden.

Da draußen aber gibt es sogenannte praktizierende Vampire wie Peters Bruder Will, einer der bekanntesten und blutrünstigsten Blutsauger Englands. Peter aber weiß sich nicht anders zu helfen, als ihn herbeizurufen. Doch damit fängt der ganze Wahnsinn erst richtig an. Der blutrünstige Vampir bringt die Idylle durcheinander, sorgt für Versuchungen und zeigt den jungen Vampiren, wie das „andere“ Vampirleben aussieht. Clara etwa versucht er, die Musik von Jimi Hendrix näher zu bringen. Der war natürlich auch Vampir und hat mit den Reißzähnen auf der Bühne Gitarre gespielt, erzählt Will dem wenig beeindruckten Vampirmädchen.

Die Vampire in Matt Haigs großartigem Roman können fliegen, Gedanken beeinflussen (sie nennen es „Blutdenken“) und haben natürlich immer mal wieder Lust auf eine Portion Blut. Doch das beste Blut ist nicht das des Menschen, sondern Vampirblut, oder für Eingeweihte einfach VB. Das gibt es teilweise sogar in Flaschen abgefüllt in den angesagten Clubs der Vampirhochburg Manchester.

Es ist wohl vor allem dem tiefschwarzen Humor des britischen Autors zu verdanken, dass dieser Roman nicht als einer der „Twilight“-Nachahmer gehandelt werden muss. Die Idee, abstinente Vampire auf den Plan treten zu lassen, ist famos. Wer allerdings spannungsgeladene, bluttriefende Seiten erwartet, wird enttäuscht werden. „Die Radleys“ ist kein Reißer mit Reißzähnen, sondern ein vergnüglicher Trip mit skurrilen Einfällen.

Eine Verfilmung des Stoffes darf wohl auch bald erwartet werden. Laut einer Meldung der „Independent“ soll Alfonso Cuarón (u. a. „Große Erwartungen“ und „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“) als Produzent bereits feststehen. Das Buch sollte man vorher gelesen haben!

Matt Haig: Die Radleys, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2010, 429 Seiten, gebunden, 19,95 Euro, ISBN 978-3462042337;
als Taschenbuchausgabe: Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek, 2012, 432 Seiten, Taschenbuch, 9,99 Euro, ISBN 978-3499255274