Der britische Sündenbock

Der Kalte Krieg war gerade auf einem seiner Höhepunkte, als in London der britische Kriegsminister John Profumo über eine Affäre mit dem Fotomodel Christine Keeler stürzte, die gleichzeitig eine Liebelei mit dem sowjetischen Marineattaché Jewgenij Iwanow hatte. Als Gewährsmann galt der High-Society-Osteopath Dr. Stephen Ward, der nicht nur mit Profumo, sondern auch mit Iwanow, Keeler und allerlei anderen britischen Stars und Sternchen verkehrte und einen Ruf als schillernder Lebemann hatte.

Als Profumo von seinen Ämtern zurückgetreten war, wurde urplötzlich Dr. Ward wegen Zuhälterei angeklagt und in einen Sensationsprozess gezerrt, in dem britische Prüderie auf den Beginn der „Swinging Sixties“ prallte. Den Prozess beobachtet hat damals die deutsch-britische Schriftstellerin und Journalistin Sybille Bedford. Jetzt ist ihre Gerichtsreportage erstmalig auf Deutsch erschienen und beeindruckt nachhaltig.

Es ist der 22. Juli 1963, als im Londoner Gericht Old Bailey die Anklageschrift gegen Dr. Ward verlesen wird. Dr. Ward, dessen Praxis einst Patienten wie Mahatma Gandhi, Winston Churchill oder Ava Gardner besuchten, war im Vorfeld des Prozesses „vorsichtig ausgedrückt, verfemt und in Ungnade gefallen“, wie Bedford schreibt. Vertreter der Anklage ist derselbe, der schon im „Lady-Chatterley“-Prozess mit seiner Prüderie für Aufsehen gesorgt hatte: der konservative Mervyn Griffith-Jones. So vermerkt Bedford, dass Griffith-Jones während des ganzen Prozesses nur das Wort „Geschlechtsverkehr“ verwendete, und es klingt in den Zeilen mit, wie angewidert der Ankläger das Wort ausgesprochen haben muss.

Was folgt, skizziert Bedford mit feiner Beobachtungsgabe. Sie ist empört, schlägt sich auf die Seite der Verteidigung, wirft Fragen auf, die im Prozess entweder nicht gestellt oder gar vom Richter und Staatsanwalt abgebügelt werden. Sie ist weit entfernt von jeglicher Vorverurteilung und predigt keine Moral. Mit Neugier verfolgt sie, wie unterschiedliche Gesellschaftsschichten aufeinanderstoßen und erkennt schon bald, wie wenig Chance besteht, die tatsächliche Wahrheit zu finden, wenn sich Politik, Justiz und Presse zusammentun, um einem Mann das Leben schwer zu machen. Man liest von Prostituierten als Zeuginnen, die Eide schwören, nur um die Aussagen später zu widerrufen. Von polizeilichem Druck ist die Rede, von Belastungszeuginnen, die hanebüchene Geschichten zum Besten geben, wenig hinterfragt von Staatsanwaltschaft und Gericht.

Das wirklich Tragische jedoch an diesem Fall ist, dass Dr. Ward seine Fürsprecherin nur ein einziges Mal kennengelernt hat – auf einer gemeinsamen Taxifahrt am Abend des letzten Gerichtstags. Dr. Ward und Sybille Bedford sollten sich nie wiedersehen, denn Dr. Ward nahm noch in derselben Nacht eine Überdosis Schlaftabletten.

„Wie dieses Urteil ausgefallen wäre, werden wir nie erfahren“, schreibt Bedford am Ende ihrer Gerichtsreportage. „Das ist nicht die einzige offene Frage nach diesem Prozess. Was war der Grund für die gnadenlose Verfolgung von Dr. Ward, und warum verfing sie? War es das Ergebnis einer bewussten Entscheidung, hat irgendjemand, irgendwo, bestimmte Dinge angedeutet, ausgesprochen, angeordnet? Oder war es die Summe von Zufällen, von fast unbewussten Manipulationen von Trends und Meinungen, von etwas Atmosphärischem? Wenn wir hartnäckig genug fragen, werden wir die eine oder andere Antwort bekommen. Der Rest darf nicht Schweigen sein.“

Der Fall des Dr. Ward ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Da hilft nur, sich hartnäckig dafür einzusetzen, dass dieses Buch gelesen und die Erinnerung wach gehalten wird. Lesen, unbedingt! „Der Rest darf nicht Schweigen sein.“

Sybille Bedford: Jagd auf einen Lebemann – Der Prozess Dr. Ward, Schirmer/Mosel Verlag, München, 2011, 101 Seiten, 15 Abbildungen in Duotone, gebunden, 12,80 Euro, ISBN 978-3829605434

Sherlock Holmes? Ist der nicht tot?

Kann es für einen Kriminalautoren ein besseres Lob geben, als dass er wie Sir Arthur Conan Doyle schreibe? Das Lob wiegt schwer, und doch muss sich der Leser immer wieder aufs Neue vergewissern, dass auf dem Buchdeckel Anthony Horowitz steht, der Sherlock Holmes wieder zum Leben erweckt hat.

Eine ganze Weile schon macht sich das Holmes-Fieber in der Welt wieder bemerkbar. Nach zwei Hollywood-Verfilmungen und einer gefeierten BBC-Fernsehserie, die den englischen Ermittler in die Neuzeit holte, ist es nun der englische Bestsellerautor Horowitz, dem ein Herbst- und Winterschmöker sondergleichen gelungen ist.

Trotzdem werden es ihm die eingefleischten Doyle-Fans übel nehmen, ja, sie werden ihm sogar an etlichen Stellen beweisen können, dass er eben nicht schreibe wie Doyle. Und dass es auf keinen Fall ein neuer Sherlock-Holmes-Fall ist. Andere werfen dem Autoren spöttisch eine mehr als seltsam passende Fügung vor, dass nun im derzeitigen Sherlock-Holmes-Fieber auch noch ein neuer Roman auftaucht. Doch das alles beiseite gelassen, ist Horowitz wirklich ein spannender Kriminalroman gelungen. Sherlock Holmes ist Sherlock Holmes und ermittelt mit all seiner Raffinesse, die man aus den Doyle’schen Büchern kennt. Sein treuer Freund und Biograph Dr. Watson kündigt dem Leser den wohl „dunkelsten Fall“ an, den der Detektiv jemals aufklären musste. Und wegen der besonderen Brisanz musste das Werk 100 Jahre unter Verschluss gehalten werden, bevor es nun an die Öffentlichkeit gelangen darf.

„Es war einer der letzten Novembertage des Jahres 1890 (…). Ein gnadenloser Winter hatte London im Griff, auf den Straßen war es so kalt, dass sogar die Gaslaternen wie gefroren erschienen, und das wenige Licht, das sie spendeten, wurde vom ewigen Nebel geschluckt.“ Dr. Watson, der inzwischen verheiratet, aber derzeit Strohwitwer ist, zieht vorübergehend wieder bei seinem treuen Gefährten Sherlock Holmes ein und wird mit ihm sogleich in einen neuen Fall verwickelt: Edmund Carstairs, seines Zeichens Galerist und Kunsthändler aus Wimbledon, fühlt sich von einem Mann verfolgt, in dem er den Kopf einer amerikanischen Verbrecherbande zu erkennen glaubt. Die hatte Carstairs zerschlagen lassen und fürchtet nun Rache.

Sherlock Holmes und Dr. Watson machen sich an die knifflige Arbeit und stoßen dabei auf ein Netz von Intrigen und Verschwörungen, von heimlichen Treffen und verdächtigen Personen. Und zu allem Unglück scheuen Holmes‘ Feinde nicht davor zurück, den berühmten Meisterdetektiv ins Gefängnis zu bringen: „Holmes hatte keine Ahnung, mit was für Leuten er sich da anlegte und wozu sie bereit waren, um sich zu schützen. Er hatte einen wahren Sumpf des Bösen betreten, und wir standen kurz davor, darin unterzugehen.“

Die Lösung des Hauptfalles ist, soviel darf verraten werden, überraschend, und trotzdem vermag sie auch zu enttäuschen, denn hier beschleicht den Leser der Gedanke, es sei der Phantasie des Autors kein wahrer Doyle’scher Geniestreich entsprungen. So sehr man auch Doyles Sprache nachahmen kann, so sehr man auch das London des Jahres 1890 heraufbeschwört, so sehr man sogar von der Sherlock-Holmes-Gesellschaft bei der Arbeit an dem Roman unterstützt wird, so wenig ist man doch ein Doyle. Man kann ihn bis zur Verwechslung nachahmen, aber man ist nie er selbst. Und so ist die Schwäche des Buches nicht etwa jene Arbeit des Nachahmens, sondern das Unvermögen, einen Sherlock-Holmes-Fall zu einem genialen Schluss zu bringen.

Der große Holmes-Fan Horowitz schreibt in seinem Nachwort: „Dieses Buch zu schreiben war eine große Freude, und meine einzige Hoffnung ist die, dass ich dem Original wenigstens halbwegs gerecht geworden bin.“ Bei all den kritischen Stimmen, die zu diesem Buch laut geworden sind, lässt sich dem Autoren antworten: „Anthony, das bist du, das bist du.“ In Deutschland ist Anthony Horowitz vor allem durch seine Jugendbuchreihe um den Spion Alex Rider bekannt. Außerdem hat er einige Drehbücher zu der ZDF-Krimireihe „Inspector Barnaby“ geschrieben.

Ein Lob ist dem Insel Verlag auszusprechen. Nun ist man als Leser vom Insel Verlag wunderbare Ausgaben gewöhnt, und doch soll hier gewürdigt werden, dass auf einen Schutzumschlag verzichtet worden ist, und dafür ein schwarzer Leineneinband mit weißer Prägung und dem Holmes-Profil den Roman umgibt. Dazu ein weißes Lesebändchen und ein rotes Vorsatzblatt, das ist gut gemacht. Auch gut gemacht ist die Werbearbeit des Mutterverlags Suhrkamp, der in einer breiten Facebook-Offensive auf das baldige Erscheinen aufmerksam gemacht hat.

Weniger schön dagegen ist es, dass der Lektoratsabteilung offenbar die Eselsbrücke zum Wort „brauchen“ entfallen war: Wer „brauchen“ ohne „zu“ gebraucht, braucht „brauchen“ gar nicht zu gebrauchen. So findet der kleinliche und aufmerksame Leser zumindest eine Stelle im Buch, in der nicht von der Regel Gebrauch gemacht worden ist. Das ist schade.

Wer soll nun dieses Buch lesen? Am besten: Alle. Diesem Buch sind viele Leser zu wünschen, vor allem aber jene skeptischen, die glauben, es sei Frevel, Sir Arthur Conan Doyle nachzuahmen. Es ist wahrlich ein Genuss an langen kalten Winterabenden, darin zu lesen. Und es bleibt die Frage: Wiegt das Lob wirklich so schwer, dass dieser Mann wie Sir Arthur Conan Doyle schreibt?

Anthony Horowitz: Das Geheimnis des weißen Bandes, Insel Verlag, Berlin, 2011, 352 Seiten, gebunden, 19,95 Euro, ISBN 978-3458175438