Gone Girl zum Zweiten

Girl on the TrainWie konnte „Girl on the Train“ nur ein Bestseller werden? Es erinnert an allen Ecken und Kanten an Gillian Flynns Bestseller „Gone Girl“, kann aber mit dem Vorbild an Raffinesse und Spannung überhaupt nicht mithalten. Hintergründig betrachtet, ist „Girl on the Train“ das Produkt einer perfekten Werbemaschinerie. Immerhin aber gelingt der Autorin Paula Hawkins bei der Protagonistin des Romans die vortreffliche Darstellung einer alkoholkranken Frau.

Jeden Morgen fährt Rachel mit dem Zug nach London, und jeden Morgen hält der Zug an derselben Stelle auf freier Fläche an. Dann geht ihr Blick zum Fenster hinaus und hinüber zur Wohnsiedlung, die direkt an die Bahngleise grenzt. Früher hat sie dort auch gewohnt, mit ihrem Mann, glücklich, in der kleinen Vorstadtidylle. Jetzt wohnt eine neue Frau bei ihrem Ex-Mann, sie haben ein kleines Kind zusammen, und Rachel kommt und kommt nicht los von ihrem Tom, der nicht mehr ihrer ist. Und weil sie das Leben derzeit so deprimiert, sehnt sie sich nach Liebe, Zuneigung, Geborgenheit und projiziert all diese Wünsche auf ein junges Paar, das sie nicht kennt. Sie nennt sie Jess und Jason.

Beide wohnen ebenfalls in der kleinen Wohnsiedlung an den Bahngleisen. Und jedes Mal, wenn Rachels Zug dort halten muss, beobachtet sie das Leben der beiden. Vieles malt sie sich aus, einiges aber kann sie auch aus dem Fenster sehen. Eines Tages bricht das Bild einer perfekten Liebe entzwei, denn Rachel beobachtet eine Szene, die sie in Mark und Bein erschüttert. Wenig später liest sie in der Zeitung von einem Vermisstenfall – daneben ein Foto von ihrer Jess. Für Rachel steht außer Frage, dass sie ihre Beobachtungen nicht für sich behalten sollte und begibt sich nicht nur dadurch in Gefahr.

Nach 32 Seiten drängt sich der Vergleich auf

Das klingt zunächst einmal nach einem soliden Thrillerplot. Nach 32 Seiten aber drängt sich zunehmend der Vergleich mit „Gone Girl“ auf, denn der Roman wird nicht nur aus Rachels Sicht erzählt, sondern auch aus der von Megan, die man bis dahin nur unter dem Namen „Jess“ kennt. Megans Erzählung aber beginnt ein Jahr zuvor und bewegt sich auf das Jetzt zu, während Rachels Erzählstrang linear in der Gegenwart verläuft. Das kennen Leser bereits von „Gone Girl“: Dort ist es der Ehemann, der die Gegenwart erzählt, und aus dem Tagebuch der verschwundenen Ehefrau erfahren die Leser, was zuvor passiert ist. Beide Erzählstränge wechseln sich auch bei „Gone Girl“ immer wieder ab. Doch die Konstruktion des Romans ist nicht die einzige Parallele. Die englischen Romantitel sind in beiden Fällen auch in der deutschen Übersetzung beibehalten worden und klingen zumindest so ähnlich, dass es wohl eher kein Zufall ist. Auch beide Covergestaltungen ähneln sich in Farbe und Typographie.

Der Verlag Blanvalet, der zur Verlagsgruppe Random House gehört, hat zur Veröffentlichung eine große Werbekampage gefahren, die ihre Wirkung offensichtlich nicht verfehlt hat, denn auch in Deutschland kletterte das Buch in den Bestsellerlisten nach oben. Besucher der Bertelsmann-Party 2015 in Berlin fanden in ihren Überraschungstüten ein Exemplar von „Girl on the Train“ – ein geschickter Werbe-Schachzug, um das Buch auch unter den Promi-Multiplikatoren zu verbreiten. Doch kann man das Bertelsmann und Blanvalet wirklich vorwerfen? So funktioniert die Buchbranche nun mal.

Was man dem Roman jedoch lassen muss, ist die hervorragende und zum Fremdschämen geeignete Darstellung der alkoholkranken Rachel. Alkohol ist hier kein Genussmittel mehr, was sich schon daran erkennen lässt, dass sie Gin & Tonic fertig gemischt aus Dosen trinkt. Im Grunde ist Rachel ständig sturzbetrunken und weiß oft am Morgen nicht mehr, was sie in der Nacht so alles angestellt hat, nachdem sie sich am Laden um die Ecke noch eine Flasche Wein gegönnt hat. Oft hat sie dann ihren Ex-Mann angerufen und gebettelt, dass er sie doch wieder lieben solle. Der aber macht sie stattdessen runter und stürzt sie damit noch weiter in die Abhängigkeitsspirale. Hin und wieder redet sie sich ein, keinen Alkohol mehr zu trinken und sich einen neuen Job zu suchen, doch der Vorsatz hält manchmal wenige Tage, häufig jedoch nur wenige Stunden und ein paar Enttäuschungen, bis sie wieder zum Hochprozentigen greift.

Wer kann ihr glauben?

Alkoholisiert ist sie aber die denkbar schlechteste Zeugin für ein mögliches Verbrechen. Wer kann ihr glauben, wenn sie Träume für die Realität hält und ihr allzu oft eine Alkoholfahne vorausflattert? Paula Hawkins stellt das alles hervorragend und sehr eindringlich dar. Auch den Leser führt sie damit gerne an der Nase herum, so dass durch die verschiedenen Sichtweisen immer mehr mögliche Perspektiven und Tatvarianten ins Spiel kommen. Das ist durchaus gut gemacht.

Was bleibt, ist also eine ganz solide Thrillerhandlung, verbunden mit einer ausgezeichneten Darstellung des Alkoholismus. Von Paula Hawkins darf man sicher noch mindestens einen weiteren Roman erwarten, denn die in Simbabwe aufgewachsene Autorin wird wohl gerne an ihren Erfolg anknüpfen wollen. Hawkins arbeitete fünfzehn Jahre lang als Wirtschaftsjournalistin, bevor sie unter dem Pseudonym Amy Silver mit dem Schreiben von Liebesromanen begann. „Girl on the Train“ ist ihr erster Roman unter ihrem Klarnamen. Die Filmrechte hat sich Dreamworks gesichert, und am 7. Oktober 2016 kommt der Film schon in die amerikanischen Kinos. Die Rolle von Rachel hat die britisch-US-amerikanische Schauspielerin Emily Blunt („Der Teufel trägt Prada“, „Lachsfischen im Jemen“) übernommen.

Paula Hawkins: Girl on the Train – Du kennst sie nicht, aber sie kennt dich, Blanvalet Verlag, München, 2015, 447 Seiten, broschiert, 12,99 Euro, ISBN 978-3764505226, Video-Buchtrailer, Leseprobe

Die Wand am Strand

SandburgWie reagieren Menschen in Extremsituationen, wenn sie den Ort des Geschehens nicht verlassen können, obwohl sie nichts lieber tun würden, als vor dem Grauen zu flüchten? Diesem Thema widmet sich die Graphic Novel „Sandburg“ des Genfer Comic-Zeichners Frederik Peeters, der damit ein kleines Meisterwerk geschaffen hat, das den Leser und Betrachter wahrlich in seinen Bann zieht. Unbedingt anschauen!

Es beginnt herrlich idyllisch: Über einer Bucht am Meer bricht ein Sommertag an. Zwei Familien genießen die Einsamkeit der Badestelle. Oma geht mit dem Kleinen schwimmen, die anderen beiden Kinder buddeln Sandburgen, die Eltern liegen in der Sonne, und Hund Elvis tollt am Wasser herum. Doch plötzlich ist es vorbei mit der Sommerfrische, denn Oma und der Kleine entdecken im Wasser die Leiche einer jungen Frau. Die Vermutungen zur Todesursache überschlagen sich, als ausgerechnet ein einsamer Mann dazu tritt. Ein Algerier, wie sich herausstellt.

Damit nimmt das Unheil seinen Lauf. Denn aus Richtung des einen Familienvaters schlägt dem Mann sofort eine unverhohlene Fremdenfeindlichkeit entgegen. Für ihn ist schnell klar, wer für den Tod der Frau verantwortlich ist: „Dieser Mann hat die junge Frau vergewaltigt, zusammengeschlagen und ertränkt, damit sie schweigt… dann sind wir aufgetaucht und haben ihm die Flucht vermasselt!“ Doch es gibt auch Zweifler und Verteidiger. Und letztendlich, so viel darf man verraten, ist das nur der Anfang eines großen Mysteriums, das sich erschreckend ausweitet. Denn mit einem Mal scheinen die Uhren an dieser Bucht anders zu laufen. Und das hat dramatische Auswirkungen für die Strandbesucher.

Faszinierendes Kammerspiel

Das Szenario zu dieser raffinierten Graphic Novel stammt von dem französischen Filmemacher Pierre Oscar Lévy, der sich hier zum ersten Mal an einem Comicstoff versucht hat. Hoffentlich nicht zum letzten Mal gemeinsam mit Frederik Peeters, denn der international erfolgreiche Zeichner hat dem faszinierenden Kammerspiel am Strand mit seinen großartigen Schwarzweiß-Bildern den richtigen Rahmen gegeben. Das Sujet ist zwar nicht neu – schon viele andere Autoren haben sich auch in ähnlich dystopischen Umgebungen damit beschäftigt, wie sich wenige Menschen in extremen Situationen verhalten, aus denen sie nicht entkommen.

Zu nennen wären da Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ (wunderbar verfilmt von Julian Pölsler), Stephen Kings „Die Arena“ oder auch Heinz Helles „Eigentlich müssten wir tanzen“. Aber obwohl das Thema etwas abgegriffen scheint, ist „Sandburg“ so fürchterlich mitreißend. Und das liegt nicht nur an der mysteriösen Geschichte, sondern auch an den gut angelegten Charakteren der handelnden Personen, die so unterschiedlich mit dem Unbegreiflichen umzugehen versuchen.

„Sandburg“ ist die perfekte Lektüre für die kalten Tage, wenn der vergangene Sommer schon so fern scheint und die Erinnerung an die flirrende Hitze Stoff für allerlei seltsame Phantasien bietet. Diese ist eine der seltsamsten, gleichzeitig aber auch eine der eindringlichsten. Schnell vergessen wird man sie nicht.

Frederik Peeters/Pierre Oscar Lévy: Sandburg, Reprodukt Verlag, Berlin, 2013, 100 Seiten, broschiert, 18 Euro, ISBN 978-3943143799, Leseprobe

Die verrätselte Frau und der Schurke im gelben Pullover

Roses Lächeln„Roses Lächeln“ war eigentlich eine Fortsetzungsgeschichte. Im digitalen Comic-Magazin „Professor Zyklop“, das im deutsch-französischen Kulturkanal Arte einen Unterstützer hat, erschienen die einzelnen Folgen. Jetzt gibt es alle Teile der Serie von Sacha Goerg in einem handgeletterten Sammelband beim Berliner Reprodukt-Verlag. Der zu Herzen gehende Graphic-Novel-Thriller schafft damit den Sprung in die analoge Welt. Zu Recht, muss man sagen, denn erst als Buch kann er zum Pageturner werden, und erst als Buch lässt er sich mit allen Sinnen erleben.

Goergs Held heißt Desmond, er ist 32 Jahre alt und hat nicht nur seinen Job verloren, sondern ist auf dem besten Wege, auch noch seinen einzigen Sohn Theo an seine Ex-Frau zu verlieren. Die hat sich nach acht Jahren von ihm getrennt und sich gleich einen neuen Mann geangelt. Desmond wird nun das Gefühl nicht los, dass seine Ex-Frau alles dafür tut, dass er seinen Sohn nicht mehr zu Gesicht bekommt.

So ist es nicht gerade sein Glückstag, als Desmond Theo von der Schule abholen will, dort aber nur erfährt, dass seine Ex-Frau ihm schon zuvorgekommen ist. Es schneit, und die Freitreppe vor der Schule ist so spiegelglatt, dass Desmond ausrutscht und sich ordentlich auf den Rücken legt. Der Wind reißt ihm das Foto seines Sohnes aus der Hand, und als er dem durch die Luft wirbelnden Andenken hinterherstürmt, prallt er mit einer fremden Frau zusammen: Rose. Sie entpuppt sich als eine eigentümliche, mysteriöse Person. Die Lösungen der Rätsel, die sie umgeben, halten einige Überraschungen bereit. Eines der Geheimnisse, die es zu lüften gilt, hängt mit der Reliquienjagd eines alternden Industriellen zusammen. Er verfolgt Rose unerbittlich und bringt damit auch Desmond und den kleinen Theo in Gefahr.

Fantastisch gelöst

„Roses Lächeln“ ist ein toll gezeichneter Thriller für die kalten Tage des Jahres. Panelrahmen werden durch Goergs Aquarellzeichnungen völlig überflüssig – das ist hier fantastisch gelöst. Zudem wechselt er immer wieder zu freigestellten Szenen, die die dargestellten Personen noch eindringlicher ins Blickfeld rücken. Manchmal sind die Figuren etwas klischeehaft, aber das stört überhaupt nicht, denn ansonsten haben sie ganz nachvollziehbare Ecken und Kanten. Gelungen sind vor allem die Charaktere Desmond, Rose sowie der gelbe Pullover tragende, homosexuelle Großindustrielle, der vor nichts zurückschreckt.

Sacha Goerg, 1975 in Genf geboren, hat den belgischen Autorenverlags „L’Employé du Moi“ mitbegründet und ist in Deutschland auch als einer der Zeichner der Graphicnovela „Sechs aus 49“ (als Buch bei Schreiber & Leser) bekannt geworden. „Roses Lächeln“ dürfte den Belgier nun noch bekannter machen – es wird Zeit, dass er nachlegt.

Sacha Goerg: Roses Lächeln, Reprodukt Verlag, Berlin, 2015, 102 Seiten, broschiert, 20 Euro, ISBN 978-3956400681, Leseprobe

Seitengang dankt dem Reprodukt-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Pardon, Marceline

Und du bist nicht zurückgekommenManchmal fehlen Worte, um Bücher zu beschreiben, die so eindringlich sind, dass sie den Leser nicht mehr loslassen. Tagelang und ein Leben lang nicht. Marceline Loridan-Ivens‘ kleines Buch ist ein solcher Fall. Die Worte fehlen, weil sie nicht reichen, auch nicht heranreichen an das Lesegefühl, die Gedanken, die Erschütterung. Loridan-Ivens ist 15 Jahre alt, als sie mit ihrem Vater deportiert wird. Sie kommt nach Birkenau, er nach Auschwitz. Sie überlebt. Er nicht. Jetzt ist sie 87 Jahre alt und hat ihrem Vater einen letzten Brief geschrieben. Lesen Sie ihn!

Marceline und ihr Vater Froim Rozenberg gehörten zu den 76.500 Juden aus Frankreich, die nach Auschwitz-Birkenau gebracht worden sind. Zurückgekommen sind nur 2.500. Wirklich zurückgekommen ist niemand. „Wenn sie wüssten, alle, wie sie da sind, dass das Lager ständig in uns ist. Wir alle haben es im Kopf bis in den Tod“, schreibt Marceline. Sie selbst trägt es im ganzen Körper. Nicht nur die fünf Ziffern, die Zahl, die sie auf dem linken Unterarm stets an ihr Schicksal erinnert – sie nennt die Nummer ihre „furchtbare Gefährtin“. Nein, Marceline ist auch kein Stück mehr gewachsen, seit sie ihren Vater das letzte Mal gesehen hat.

Kurz vor seinem Tod konnte er ihr noch ein paar Worte zukommen lassen, auf einem Zettel, wenige Sätze, überbracht von einem anderen Häftling. Sie erinnert sich nur noch an die erste Zeile, die Anrede: „Mein liebes kleines Mädchen“. Der Rest ist in ihrer Erinnerung verloren gegangen. Und so sehr sie auch sucht, sie findet die Worte nicht. Bis heute nicht. Geantwortet hat sie ihm dennoch, mehr als 70 Jahre danach: „Und du bist nicht zurückgekommen“. So heißt auch das Büchlein, das jetzt auf Deutsch erschienen ist.

Ein schwer erträglicher Bericht

Entstanden ist damit nicht nur eine zutiefst ergreifende Liebeserklärung an den Vater. Entstanden ist auch ein schwer erträglicher Bericht vom Leben der Gefangenen zwischen Krematorium und Gaskammer, wo sie Gräben ausheben mussten, damit die Nazis auch dort noch die Leichen der vergasten Körper verbrennen konnten. Die Krematorien liefen schon auf Hochtouren. Immer neue Züge kommen an, und Marceline sieht die Menschen auf der Rampe zu den Gaskammern gehen, immer auf der Suche nach bekannten Gesichtern.

Loridan-Ivens glaubt zu wissen, warum sie die Worte ihres Vaters vergessen hat: „Es war notwendig, dass das Gedächtnis zerbrach, sonst hätte ich nicht leben können.“ Einen ähnlichen Gedächtnisschwund erlebt sie nach ihrer Rückkehr in Frankreich. Dort will niemand mehr etwas von den Erlebnissen wissen, verleugnet sie gar. Die Juden, so scheint es ihr, sind mehr daran interessiert, alles wieder aufzubauen. „Sie wollten, dass das Leben wieder seinen Gang nimmt, seine Zyklen wiederfindet, alles ging bei ihnen so schnell. Sie wollten Hochzeiten, sogar mit Abwesenden auf dem Foto, Hochzeiten, Paare, Lieder und bald Kinder, um die Leere auszufüllen.“

In Marcelines Familie erlebt sie das am eigenen Leib: Als sie völlig entkräftet aus Birkenau zurückkehrt, holt nicht ihre Mutter sie vom Bahnhof ab, sondern ihr Onkel, der selbst in Auschwitz gewesen ist. Verstohlen zeigt er ihr seine Nummer auf dem Arm. Dann rät er ihr, nichts zu sagen. „Sie würden es nicht verstehen.“ Und sie verstehen es tatsächlich nicht. Vielleicht wollen sie es auch nicht verstehen. Fassungslos liest man von Marcelines Mutter, die nicht weiß, was sie sagen soll, als sie ihr Kind erstmals wieder in die Arme schließt. Die nur bangt, ob sie vergewaltigt worden ist, weil sie schließlich noch verheiratet werden soll. Und die nicht versteht, warum ihre Tochter lieber auf dem Fußboden schläft, statt die weichen Laken eines bequemen Bettes zu genießen. „Man muss vergessen“, sagt ihre Mutter. Und entfernt sich damit weiter denn je von ihrer Tochter.

Unmissverständliche Antwort

Marceline Loridan-Ivens ist sich bis heute nicht sicher, ob es sich gelohnt hat, überhaupt zurückgekehrt zu sein. Eine erste unmissverständliche Antwort gaben ihr die Medien und Leser in Frankreich, als ihr Buch dort Anfang des Jahres erschien. Frankreich war ergriffen. Jetzt hat der Insel-Verlag das Büchlein in einer Übersetzung von Eva Moldenhauer herausgegeben.

Auch Deutschland kann jetzt antworten. Lesen Sie das Buch und verbreiten Sie es! Es gehört auch in die Hände derer, die fordern, man müsse langsam vergessen, heute lebe schließlich eine andere Generation. Schüler sollten es lesen und Theater es auf die Bühne bringen. Ja, es hat sich gelohnt, Marceline. Das ist die eine Antwort, die wir geben müssen. Die andere ist: Pardon. Auch wenn es nicht entschuldbar ist. Pardon, Marceline.

Marceline Loridan-Ivens: Und du bist nicht zurückgekommen, Insel Verlag, Berlin, 2015, 111 Seiten, gebunden, 15 Euro, ISBN 978-3458176602

Sehen Sie unbedingt dazu auch das hier verlinkte Autorengespräch mit Marceline Loridan-Ivens!

Finnlands letzter Schund

Lauras letzte PartyEine Gruppe von finnischen Autoren und Drehbuchschreibern hat sich an einer Krimi-Trilogie versucht. Band 1 ist jetzt auf Deutsch im Suhrkamp-Verlag erschienen. Der Fall über das Verschwinden einer Schülerin und die Facebook-Ermittlungen einer Ex-Polizei-Internetspezialistin und jetzigen Sonderpädagogin ist ihnen jedoch nicht geglückt. Sie hätten das Schreiben wohl besser einem versierten Krimi-Autoren überlassen sollen.

Miia Pohjavirta ist internetsüchtig und musste deshalb ihren Job als Coach bei der Polizei in Helsinki aufgeben, wo sie einst die Einheit für Ermittlungen in sozialen Netzwerken begründete und dann schnell als Internet-Spionin bekannt geworden ist. Das soll nun alles der Vergangenheit angehören, denn sie hat ein völlig neues Betätigungsfeld gefunden: In ihrer Heimatstadt Palokaski arbeitet sie jetzt an ihrer alten Schule als Sonderpädagogin. Ein Teil ihrer früheren Clique wohnt noch immer in dem ruhigen, finnischen Nest, und ihr kleiner Bruder Nikke arbeitet an ihrer Schule als Psychologe.

Ausgerechnet am letzten Ferientag, als sich Miia gerade dem versammelten Lehrerkollegium vorstellen möchte, wird bekannt, dass die 16-jährige Schülerin Laura Anderson verschwunden ist. Wie jedes Jahr hatten die Schüler die Ferien mit einer Party am Badestrand beendet. Seitdem wurde Laura nicht mehr gesehen.

Keine normale Beziehung zu der 16-Jährigen

Miia verfällt schnell wieder in alte Muster: Sie bietet ihrem ehemaligen Chef ihre Hilfe bei den Ermittlungen an, sie recherchiert bei Facebook mögliche Hintergründe für das Verschwinden und wird schnell darauf gestoßen, dass ihr Bruder Nikke offensichtlich keine ganz so normale Beziehung zu der 16-Jährigen gehabt haben soll, wie man es gemeinhin von einem Schulpsychologen erwartet.

An sich ist der Plot eine Kriminalgeschichte, wie es sie zigfach schon in anderen Büchern erzählt worden ist. Die finnische Uusimaa Newspaper findet jedoch, das Buch sei „ein dunkler, psychologischer Thriller, ein fesselndes Beziehungsdrama in Zeiten des Internets“. Dass nun ausgerechnet eine Internetspezialistin mit Fachgebiet „Soziale Medien“ ermittelt, ist für diejenigen, die das Internet noch für Neuland halten, vielleicht spektakulär. Digital Natives können darüber nur müde lächeln. Und leider nimmt gerade die Internetrecherche dann auch noch zu wenig Raum ein. Es genügt einfach nicht, eine Ermittlern ein wenig durch Facebook zu schicken, um dem Leser deutlich zu machen, dass hier eine Spezialistin am Werk ist.

Wer wirklich einen guten Thriller lesen möchte, in dem eine Internetspezialeinheit der Polizei agiert, sollte beherzt zu der neuen Reihe von Karl Olsberg rund um die “Sonderermittlungsgruppe Internet” des LKA Berlin greifen. Der zweite Band ist im Frühjahr erschienen, weitere werden wohl folgen. Von der Palokaski-Trilogie jedoch kann man nur abraten.

Ein finnischer Anwalt sagt „Servus“

Möglicherweise liegt es an der Übersetzung, dass der Roman auch sprachlich nicht ansprechend ist. Dass die Schuldirektorin nicht in der Lage sein soll, die Grammatik zu beherrschen, ist wohl kaum vorstellbar. Dennoch gebraucht sie „brauchen“ ohne „zu“, und der Rezensent wird nicht müde werden, solche grammatikalischen Fehler zu erwähnen. Und dass ein finnischer Anwalt zur Verabschiedung tatsächlich „Servus“ sagten sollte, ist zwar ein nettes Beispiel von einem zusammenwachsenden Europa, aber dennoch eher ungewöhnlich.

Letztlich kann ein Leser von einer Sonderermittlerin der Polizei wohl mehr Feingefühl, Klasse und Lebenserfahrung erwarten, als Gedankengänge wie diese hier: „Als Verdächtiger kam der sonderbare Kauz auch weiterhin in Frage. Wer so unverfroren über die Brüste fremder Frauen redete, konnte sich locker an seinen Schülerinnen vergreifen.“ Das ist eigentlich nur eins: Billige Schund-Kriminalliteratur, die den Stempel „Literatur“ nicht verdient hat. Es erstaunt, dass es der renommierte Suhrkamp-Verlag ist, der sich die „Palokaski“-Trilogie an Land gezogen hat. Wer so großartige Krimi-Autoren wie Don Winslow, Reginald Hill und André Georgi im Programm hat, kann doch solche Bücher nun wirklich Publikumsverlagen wie Bastei Lübbe überlassen.

„Lauras letzte Party“ enttäuscht auf der ganzen Linie. Teil zwei und drei erscheinen im September und November. Wer den ersten Teil gelesen hat, muss im Grunde auch zum zweiten und dritten greifen, denn eine Lösung ist im ersten Buch nicht annähernd in Sicht. Wer aber gute Kriminalliteratur schätzt, findet sicher Besseres als die „Palokaski“-Trilogie.

J. K. Johansson: Lauras letzte Party, Suhrkamp Verlg, Berlin, 2015, 267 Seiten, Taschenbuch, 8,99 Euro, ISBN 978-3518465905, Buchtrailer, Leseprobe