Verehrt, verfolgt und fast vergessen

Vor rund 115 Jahren wurde in Dawideny im österreichischen Kronland Bukowina einer der bekanntesten deutschsprachigen Tenöre der 1930er Jahre geboren. Jetzt holt der Essener Autor Stefan Sprang den fast in Vergessenheit geratenen jüdischen Sänger und Filmstar Joseph Schmidt mit seinem hervorragend recherchierten und ergreifenden Roman „Ein Lied in allen Dingen“ wieder zurück ins Licht. Wahrlich war es Zeit für eine Wiederentdeckung!

Die Menschen schreiben den 9. Mai 1933, und Joseph Schmidt ist 29 Jahre alt. Es ist ein Dienstag, und mehr als 2.000 Menschen versammeln sich am Abend im Ufa-Palast am Zoo in Berlin. Gegeben wird die Uraufführung des Tonfilms „Ein Lied geht um die Welt“. Alle sind sie gekommen, die Stars und Sternchen, darunter natürlich die Hauptdarsteller Charlotte Ander und Viktor de Kowa sowie der Regisseur Richard Oswald. Nur einer fehlt: Joseph Schmidt. „Machen ’se sich ma‘ schleunigst auf den Weg. Die Leute wollen Sie sehen. Dit brodelt hier, dit is‘ der reinste Hexenkessel. Die reißen mir sonst dit Kino ab, hören‘ Se! Zeigen Se‘ sich“, schallt es aus dem Telefon. Joseph Schmidt muss hin, dabei wollte er dem Spektakel fern bleiben. Nicht weil er den Rummel um seine Person nicht schätzt, sondern weil sich NS-Propagandaminister Joseph „Die Kaulquappe“ Goebbels angesagt hat.

In Deutschland ist das furchtbare Zeitalter angebrochen

„Den meisten war eh piepegal, dass er tausend Kilometer von hier entfernt als Jude geboren war. Er hieß doch Schmidt. Schmidt wie bestimmt eine Million guter Deutscher zwischen Schleswig und Sonthofen.“ Doch in Deutschland ist das furchtbare Zeitalter angebrochen, in dem Juden verfolgt, deportiert und später auch in schier unfasslich großer Zahl vergast werden. Goebbels‘ Besuch und seine Bravo-Rufe sind nichts als eine Farce. Und trotzdem: Um den Herrn Minister nicht zu brüskieren, muss Joseph Schmidt auch am festlichen Essen im Savoy teilnehmen. Dort kommt es zum Austausch der beiden Josephs: dem Juden und dem Judenhasser.

Wie mag dieses Gespräch verlaufen sein? Worüber haben die beiden Männer sich unterhalten? Es gibt kein Protokoll davon, keine Primärliteratur, nur die Gewissheit, dass es stattgefunden hat. Stefan Sprang erschließt sich in seinem Roman eine Version, wie es hätte sein können. Ein gegenseitiges Taxieren mit Blicken, Worten, Höflichkeiten, während beide wissen, dass der eine der Wolf und der andere der Gejagte ist. Der eine will größtmögliche Propaganda, der andere will überleben.

Entkommen, Flucht, und stets die Angst vor dem Entdecktwerden

Am nächsten Abend brennen in Berlin die Bücher. Anwesend auch hier: Joseph Goebbels. Joseph Schmidt dagegen flüchtet vor den Nationalsozialisten ins geliebte Wien. Jetzt ist der weltweit berühmte Sänger ein Flüchtling, und er wird es den Rest seines kurzen Lebens bleiben. Stefan Sprang beginnt seinen Roman mit einem der vielen Fluchtmomente von Joseph Schmidt. Es ist eine seiner letzten, die Flucht von Südfrankreich in die Schweiz, mit dem Judenschlepper in kalten Nächten heimlich über die Grenze. „Endlich denen entkommen, die Böses gut und Gutes böse nennen“, schreibt Sprang und zitiert damit aus dem Alten Testament. Entkommen, Flucht, und stets die Angst vor dem Entdecktwerden. Sprang findet dafür Worte, die einfach scheinen, oft in Hauptsätzen daherkommen, aber so wirkungsvoll das Kopfkino in Gang setzen.

Nicht nur in diesen Passagen, sondern im gesamten Roman trifft Sprang den Sprachduktus der damaligen Zeit perfekt. Der als freier Hörfunkredakteur arbeitende Autor hat für sein Buch kaum Sachbücher gelesen, schreibt er in den Nachbemerkungen. Stattdessen: „Literatur, Literatur, Literatur.“ Christopher Isherwood, Ernö Szép, Manès Sperber, Anna Seghers, Alfred Döblin, Vicki Baum und immer wieder Joseph Roth. „Dieser Roman ist damit auch ein Ehrerweis. Für die vielen herausragenden Autorinnen und Autoren der 20er, 30er und 40er Jahre“, schreibt er.

Vor allem aber ist der Roman eine detailverliebte, tiefe Verneigung vor der lyrischen Sangeskunst und dem Leben von Joseph Schmidt, der zu seiner Höchstzeit dermaßen erfolgreich war, dass er etwa 1936 in den Niederlanden ein Open-Air-Konzert vor mehr als 100.000 Menschen gab und 1937 in der Carnegie Hall in New York auftrat. Sprang zeigt ihn auch als humorvollen, fröhlichen und charmanten Mann, der trotz seiner geringen Körpergröße von nur 1,54 Metern eine große Anziehungskraft auf Frauen ausübte.

„Zu Tränen gerührt, selbst beim simpelsten Schlager“

Wohl niemals aber wäre dieser Roman erschienen, wäre Stefan Sprang als Student nicht innerhalb Berlins umgezogen. Denn in der neuen und vom Vormieter wohl überhastet verlassenen Wohnung findet er neben allerlei Krempel eine Doppel-LP mit Liedern und Arien von Joseph Schmidt. Auf dem nächstbesten Schallplattenspieler aufgelegt, ist dies der „magische Funke: Eine unerhörte Stimme, der Gesang eines Mannes, wie ich ihn noch nie erlebt hatte – ergreifend von der ersten Note an, dass man eine Gänsehaut bekam und zu Tränen gerührt war, selbst beim simpelsten Schlager.“

Als die Nadel auf die A-Seite der Schallplatte aufsetzt und das leise Knacken vom Staub in der Rille dem Sänger namens Joseph Schmidt Platz macht, hört der 25-jährige Student zum ersten Mal das Lied „Heut‘ ist der schönste Tag in meinem Leben“, aufgenommen im September 1935 in Wien:

Sprang liest auf der Plattenhülle von Schmidts Schicksal, und schnell ist ihm klar: „Ich will – ich muss – über diesen so besonderen Menschen schreiben.“ Doch Sprang schreibt erst anderes: Kurzgeschichten, einen Jazz-Roman und einen Hörspiel-Monolog, der 2018 vom Theater Essen-Süd kongenial für die Bühne adaptiert wird. Und jetzt also endlich „den Schmidt“.

Es ist eine Freude, ihn zu lesen, wenngleich das Los, das Joseph Schmidt gezogen hat, ein fuchtbares ist. In der neutralen Schweiz, seinem letzten Zufluchtsort vor den immer näher rückenden Nationalsozialisten, stirbt er mitten im Zweiten Weltkrieg mit nur 38 Jahren. Nur zwei Tage später hätte er Asyl bekommen und wieder auftreten dürfen.

Stefan Sprang: Ein Lied in allen Dingen – Joseph Schmidt, Größenwahn Verlag, Frankfurt am Main, 2019, 318 Seiten, gebunden, 19,90 Euro, ISBN 978-3957712387

Der Schmerz der Doppelgänger

Im ersten AugenblickDer neue Roman von Grégoire Delacourt, Autor des Bestsellers „Alle meine Wünsche“, wird von den Medien fälschlicherweise nur als Liebesroman gefeiert. Die französische Tageszeitung Le Figaro etwa schreibt: „Grégoire Delacourt hat den Liebesroman neu erfunden.“ Der Atlantik Verlag druckt das Lob gleich auf den Umschlag. Doch „Im ersten Augenblick“ ist auch der bedrückende Roman einer Identitätssuche und gerade deshalb so lesenswert.

Arthur Dreyfuss ist 20 Jahre alt, macht sich als Automechaniker die Hände dreckig und wohnt allein in einem kleinen freistehenden Häuschen am Rand eines französischen Örtchens mit 687 Einwohnern. Während er eines Abends eine Folge der TV-Serie „Die Sopranos“ sieht, klopft es plötzlich an der Haustür. Als er öffnet, steht vor ihm die amerikanische Schauspielerin Scarlett Johansson.

Obwohl ihm schlagartig bewusst wird, dass er nur seinen Lieblingsfernsehaufzug, weißes Unterhemd und Schlumpf-Boxershort, anhat, bittet er sie herein. „Und welcher Mann auf der Welt, selbst in Unterhemd und Schlumpf-Boxershorts, hätte zu der phänomenalen Schauspielerin aus „Lost in Translation“ nicht „Kommen Sie herein“ gesagt?“

Müde vom Licht der Scheinwerfer

Sie gesteht dem völlig verdatterten Arthur, dass sie vom Filmfestival in Deauville geflohen sei, um ein paar Tage zu verschwinden, müde vom Licht der Scheinwerfer. Arthur entscheidet sich, die erschöpfte Schauspielerin bei sich unterzubringen. Während er sich schlaflos auf dem Ikea-Sofa im Wohnzimmer herumwälzt, schlummert Scarlett selig zwei Etagen höher in seinem Jugendzimmer unter den Postern von Michael Schumacher und der nackten Megan Fox.

Am Abend ihres dritten gemeinsamen Tages gesteht die Schönheit in Arthurs Haus schließlich, dass sie nicht Scarlett Johansson, sondern Jeanine Foucamprez heißt. Sie sieht bloß aus wie Scarlett Johansson, haargenau wie Scarlett Johansson. Und sie leidet fürchterlich unter dieser Last, denn für die Öffentlichkeit ist die Person Jeanine Foucamprez eine unsichtbare Frau. Wahrnehmbar ist nur die äußere Hülle, die Scarlett Johansson gleicht wie das eine sprichwörtliche Ei dem anderen.

Wie geht ein Mensch damit um, dass die Öffentlichkeit das eigene Ich verleugnet und es in eine andere Rolle presst? Wie verhält sich ein möglicher Partner? Liebt er den Menschen oder den äußeren Schein? Und welche Auswirkungen hat beides auf ein Liebespaar? Das sind die Fragen, die – ja, mit einer anmutigen Liebesgeschichte verwoben – in diesem sprachlich außergewöhnlichen Roman gestellt werden.

Die Zweifel bleiben

Die echte Scarlett Johansson hat ihre Rolle in der Öffentlichkeit gefunden, Jeanine Foucamprez nicht. Unfreiwilliger Doppelgänger zu sein, macht nicht nur unglücklich, sondern vor allem einsam, denn die Zweifel bleiben, ob das Gegenüber wirklich den Menschen liebt und nicht doch nur das „Sieht aus wie…“.

Die Angst vor dem Verlust der eigenen Identität und das Doppelgängermotiv finden sich immer wieder in der Literatur („Das Bildnis des Dorian Gray“, „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“). Grégoire Delacourt fügt jetzt noch ein weiteres gelungenes Beispiel hinzu, wenngleich man ihn gewiss nicht mit Oscar Wilde oder Robert Louis Stevenson gleichsetzen kann. Literarisch kann Delacourt da nicht mithalten. Eindringlich aber sind all jene Leser davor zu warnen, die aufgrund des Klappentextes und des kitschigen Umschlags nur von einer schönen, unterhaltsamen Liebesgeschichte ausgehen. Dieses Buch vermag viel mehr!

Umso unverständlicher ist es, dass Scarlett Johansson gegen dieses Buch vor Gericht gezogen ist. Der Roman verletzte und nutze betrügerisch ihre Persönlichkeitsrechte aus. Johansson verlangte nicht nur 50.000 Euro Schadensersatz, sondern wollte auch erreichen, dass keine weiteren Rechte an dem Buch verkauft werden, es also zum Beispiel nicht verfilmt werden könnte. Johanssons Anwälte vertraten die Auffassung, Delacourt habe die Person Scarlett Johansson dafür missbraucht, seinen Roman aufzuwerten und zu einer Sensation zu machen.

„Archetyp der heutigen weiblichen Schönheit“

Delacourt war sprachlos, als er davon erfuhr. Er erklärte laut der britischen Tageszeitung The Guardian, er habe Scarlett Johansson ausgewählt, weil sie der „Archetyp der heutigen weiblichen Schönheit“ sei. Seine Hauptperson aber sei Jeanine Foucamprez, nicht Johansson. Es ist also mehr eine Hommage an die amerikanische Schauspielerin – die aber in Übersee nicht verstanden wurde. Vielleicht auch deshalb nicht, weil der Roman zum Zeitpunkt des Prozesses noch nicht ins Englische übersetzt worden war und Johansson ihn deshalb noch nicht gelesen habe, wie Delacourt in einem kurzen Interview mit der franzözischen Tageszeitung Le Figaro erklärte.

„Wenn ein Autor nicht mehr die Dinge erwähnen kann, die uns umgeben, eine Biermarke, ein Denkmal, einen Schauspieler … dann wird es kompliziert, Romane zu schreiben“, sagte Delacourt weiter. Das Problem daran ist: Marken haben einen Marktwert, und Hollywoodschauspieler haben den auch. Bei dem Prozess in Paris ging es also auch darum, welchen Wert die Marke Johansson hat. Den Gefallen tat das Gericht der Schauspielerin allerdings nicht: Delacourt und sein Verlag müssen 2.500 Euro Schadensersatz bezahlen und 2.500 Euro Anwaltskosten übernehmen. Die Rechte blieben unerwähnt.

Ironischerweise wäre es in Johanssons Heimatland gar nicht zum Prozess gekommen, erklärte der New Yorker Anwalt Lloyd Jassin gegenüber dem amerikanischen Nachrichtenmagazin „Time“. Dort ist die Garantie der Meinungsfreiheit im 1. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten („First Amendment“) unantastbar. In Europa aber, sagte Jassin, würden Persönlichkeitsrechte „sehr viel ernster“ genommen – für Johansson die beste Gelegenheit, sich darauf zu berufen und ein wenig Geld einzuheimsen.

Im Interview mit dem Figaro scherzte Delacourt: „Ich dachte, sie könnte mir Blumen schicken, weil es eine Liebeserklärung für sie war, aber sie wollte es nicht verstehen.“ Und weiter: „Sie beschwert sich über das, was ich sage, das ist ein wenig paradox, aber der Prozess ist schließlich sehr amerikanisch.“

Grégoire Delacourt: Im ersten Augenblick, Atlantik Verlag, Hamburg, 2014, 206 Seiten, gebunden, 17,99 Euro, ISBN 978-3455600018, Leseprobe

Clemens Meyer : „Sexualität ist wie ein Überraschungsei“

DSC_0260Am Donnerstagabend las der Leipziger Kult-Autor Clemens Meyer in Wien aus seinem gefeierten Roman „Im Stein“, den er selbst als „Lebensstoff“ bezeichnet. Dabei zeigte er sich nicht nur als offener und sympathischer Interviewpartner, sondern auch als ernsthafter Vorleser des eigenen Stoffes.

„Sexualität ist wie ein Überraschungsei, nur dass es nicht ganz so gut schmeckt am Ende“, sagt Clemens Meyer in Wien. Sein Roman offenbart das Rotlichtmilieu in all seinen Facetten. „Kaum jemand unter den Schriftstellern seiner Generation weiß so viel wie Clemens Meyer“, schreibt Ina Hartwig in der Süddeutschen Zeitung. Die Feuilletonisten überschlagen sich, begeisterte Synonyme für diesen Roman, dieses Panoptikum und Sittenbild zu finden.

Der Roman erzählt nicht linear, sondern ist voller Zeitsprünge. „Mein Roman ist schwierige Literatur, auch für den Leser nicht leicht“, hat er Gerrit Bartels vom Tagesspiegel in einem lesenswerten Interview gesagt. Meyer ist ein Kunstschaffender, ein Suchender. Und er hat ein surreales Epos geschrieben, das schonungslos und dennoch mit Herz von der Subkultur der käuflichen Liebe erzählt, von Gewalt und Konkurrenz, aber auch vom Geld, das mit der Prostitution verdient wird.

Das „steinere Geschäft“ der Baulöwen

Eine Vielzahl von Gründen haben zum Titel des Buches geführt, erklärt Meyer in Wien. Zum einen versinnbildliche der Stein diese unbekannte Großstadt, in der der Roman angesiedelt ist. Rund 600.000 Einwohner seien in einem Hybrid aus Halle/Saale und Leipzig gefangen. Der „Schweinehans“ lebt teilweise in Katakomben, eine andere Figur im Krematorium. „Es ist auch der archäologische Blick – wir leben ja auch alle auf früheren Städten, und vielleicht werden auch wir irgendwann eine Schicht unter einer Stadt sein.“ „Im Stein“ meine aber auch das „steinere Geschäft“ der Baulöwen und Wohnungsvermieter.

„Wir leben in einer Zeit, in der die Gier nach dem Geld üblich ist, aber in diesem Bereich kommt plötzlich die Moral ins Spiel“, erklärt er. Das fände er interessant. Es gehe um Körper, um das Körperliche an sich, das sich zu Geld machen lasse. „So wie Badelatschen, und doch sind es keine. Ich dachte, hier kannst du mit Sprache, mit Struktur etwas zeigen, die Welt, in der wir leben.“ Auch die Geschleusten, die Geschleppten kommen im Roman vor. Clemens Meyer formuliert es so: „Die Stimmen der Frauen füllen den Stein.“

Reale Vorbilder für die Figuren gibt es indes nicht. „Es gab aber im Jahr 1998 einen Zündfunken.“ Ein Zeitungsartikel über einen Rotlichtboss in Leipzig, dem beide Beine weggeschossen worden sind. „Da habe ich gedacht: Das ist ein interessanter Fall – wenn der das überlebt und zurückkommt, ist der stärker als zuvor, ein König, fast schon von shakespeareschen Ausmaßen.“ Und trotzdem sei er nicht der Rotlichtboss seines Romans geworden. „Der würde mich auch verklagen“, sagt er und lacht. „Nein, er ist es nicht. Er hat das Buch auch gelesen und gemerkt, dass er das nicht ist.“

„Man muss viel zuhören können“

Seit 1998 hat Meyer an seinem Roman gearbeitet. Da war er Anfang 20, und der Roman trug noch den Arbeitstitel „Das Hurenhaus“. Er traf sich mit Leuten, sprach mit Frauen aus dem Gewerbe und hörte vor allem viel zu. „Man muss viel zuhören können“, wiederholt er. Erst im Jahr 2008 begann er mit dem Schreiben. „Zwischendurch habe ich dann „Gewalten“ geschrieben, weil ich mit dem „Stein“ nicht weiterkam.“

Als er am „Stein“ schrieb, war der Schreibtisch mit Notizen bedeckt, Zeitungsausschnitte und Bücher stapelten sich, rundherum standen Pinnwände. Jetzt hat er wie in einem Akt der Loslösung und der Trennung von seinen Romanfiguren alle seine Notizen und Bücher vernichtet. „Ich habe alles weggeworfen – in so eine Aschetonne und musste sogar mehrfach draufspringen“, erzählt er dem Publikum in der Wiener Hauptbücherei. Er habe sogar die Bücher weggeworfen, solche von Sexarbeiterinnen und Bordellkönigen. Milieuliteratur.

Nur zwei Bücher hat er aufgehoben: „Im Strich“, ein Buch, das in Wien spielt und „gar nicht leicht zu kriegen“ war sowie ein Callgirlführer aus München vom Anfang der 70er Jahre. „Das ist sehr schön, dieses Buch, das hat eine ganz eigene Philosophie, und früher konnte ich die Sprüche daraus auswendig.“ Außerdem habe er natürlich den „Zündfunken“ aufgehoben, den Zeitungsausschnitt, mit dem alles begann.

Jetlag in Tokio mit Whisky bekämpft

Meyer ist einer jener Schriftsteller, die an den Schauplätzen ihrer Romane gewesen sein müssen, sofern sie nicht völlig der Phantasie entspringen. Deshalb flog er 2002 nach Tokio. Er habe versucht, den Jetlag mit Whisky zu bekämpfen. „Aber der kam zurück und schlug mich wieder mehrere Stunden zurück – vielleicht hätte ich so viel trinken müssen, dass ich da angekommen wäre, wo ich herkam.“ Er lacht.

Als die Moderatorin und Standard-Kulturchefin Andrea Schurian erklärt, Meyer würden schriftstellerische Vorbilder wie Daniel Woodrell unterstellt, sagt der: „Wer? Den kenn‘ ich gar nicht.“ Uwe Johnson, Alfred Döblin, Hubert Fichte oder Wolfgang Hilbig, die hätten ihn beeindruckt. Und dann: „Wie hieß der Amerikaner?“ „Woodrell.“ „Kenn ich gar nicht!“ Er klappt sein Leseexemplar auf und notiert sich den Namen.

Seinem Lieblingsbuch von Fichte hat Meyer in seinem Roman ein kleines Denkmal gesetzt: „Ecki geht über den Naschmarkt: Der Tote Eisenbahner ist genau null Komma neun Kilometer vom Naschmarkt entfernt“, heißt es da. Bei Fichtes „Die Palette“ geht Jäcki über den Gänsemarkt. Es ist eine Huldigung an Meyers Vorbild. Und es ist einer der drei Teile des Romans, die Meyer in Wien seinem Publikum vorliest.

„Dann las ich das und dachte: Mensch, das ist ja gut!“

„Letztens habe ich ein Kapitel in meinem Buch entdeckt“, fängt er später wieder an zu erzählen. Das Publikum lacht und Meyer merkt, wie seltsam das klingt. „Ich saß in Greifswald bei einer Lesung, und der Moderator sagte, er wollte die Tokio-Szene hören.“ Da habe er erstmal suchen müssen in seinem 560 Seiten starken Buch. „Dann las ich das und dachte: Mensch, das ist ja gut!“ Man nimmt sie ihm ab, diese bescheidene Überraschung über die eigene Sprachgewalt und Kunstfertigkeit.

„15 Jahre habe ich an diesem Roman gearbeitet, es war einer meiner Lebensstoffe, das nächste Buch auch, obwohl das Thema schwieriger ist.“ Kroatisch müsse er nächstes Jahr lernen, so wie er für den „Stein“ habe BWL lernen müssen, weil eine seiner Figuren BWL studiert habe. Der neue Roman, so viel verrät er schon, werde in Kroatien spielen, an den alten Winnetou-Film-Schauplätzen und im Krieg der 90er. „Es gibt ein Kino zwischen den Fronten, das immer diese alten Filme zeigt – was man daraus machen kann, weiß ich aber noch nicht.“

Meyers erster Roman „Als wir träumten“ wird in der Zukunft auf deutschen Kinoleinwänden zu sehen sein. Regisseur Andreas Dresen („Halt auf freier Strecke“) verfilmt den Stoff derzeit, das Drehbuch stammt von Wolfgang Kohlhaase („Die Stille nach dem Schuss“). In Wien erzählt Meyer, dass er gerade erst am Set gewesen sei und seinen Hitchcock-Auftritt gehabt habe: „Ich habe einen Polizisten gespielt und meine Rolle sehr ernst genommen.“ Aber es sei schon seltsam, die Figuren seines Romans in Fleisch und Blut verkörpert zu sehen.

Bei Verfilmung am Drehbuch mitschreiben

Er habe auch schon darüber nachgedacht, „Im Stein“ verfilmen zu lassen. „Es gab eine Anfrage von einer Produktionsfirma, die eine Art amerikanische Serie daraus machen wollte.“ In jedem Fall wolle er aber bei dieser Verfilmung am Drehbuch mitschreiben, das sei ihm sehr wichtig.

„Aber jetzt ist erstmal das Buch da, das war auch schon schwierig genug. Und manchmal kann man sein Buch schon nicht mehr sehen“, sagt er und liest trotzdem noch eine Szene vor.

Der 1977 geborene Clemens Meyer ist bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Mitte November wurde bekannt, dass er für seinen neuen Roman am 27. Januar mit dem Bremer Literaturpreis 2014 ausgezeichnet wird. In diesem Jahr war er auch für den Deutschen Buchpreis nominiert, den Preis aber bekam Terézia Mora für ihren Roman „Das Ungeheuer“.

Die nächsten Lese-Termine von Clemens Meyer und weitere Informationen sind auf seiner Autoren-Homepage abrufbar. Eine Lesung von ihm ist in jedem Fall empfehlenswert. Nicht nur in Wien.

Clemens Meyer: Im Stein, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2013, 560 Seiten, gebunden, 22,99 Euro, mit Lesebändchen, ISBN 978-3100486028, Leseprobe

Tarnkappe oder Nichttarnkappe?

Wie würden Sie entscheiden, wenn Sie eine Kappe besäßen, die Ihnen Unsichtbarkeit beschert? Wenn Sie ungesehen in fremde Wohnungen schlüpfen oder Banktresore ausräumen könnten? Wenn die Kappe mehr und mehr Ihre Gedanken kontrollieren würde, und Sie sich jedes Mal, wenn Sie die Kappe abnähmen, Haarbüschel ausreißen und höllische Schmerzen verspüren würden? Kappe oder Nichtkappe?

Simon Bloch ist an eine solche Tarnkappe gelangt. Ein verloren geglaubter Freund schlüpft in einem unbeobachteten Moment in Simons Wohnung. Er sei auf der Flucht, Simon müsse für eine Zeit auf seinen Koffer aufpassen. Nur für einen Tag. Doch der Freund kehrt nicht zurück. Stattdessen findet Simon in einem Schrank, für den er auf einen Stuhl steigen muss, um ihn zu erreichen, eine fremde Plastiktüte von Aldi und darin – eine braune Kappe aus Leder. Schmierig, abstoßend, mit einem Geruch nach verbranntem Fleisch.

Erst will er sie nur loswerden, doch seine Hände machen sich selbständig und setzen ihm die Kappe auf den Kopf. „Sie saß perfekt, nein, sie passte sich seiner Kopfform an, schien sich in seine Haare zu wühlen, an seiner Kopfhaut zu nagen, es war, als schmatze die Kappe auf seinem Kopf, als vertilge sie etwas da oben, vielleicht seine Haare, seine Gedanken, einen Teil seines Hirns, irgendwas fraß sich seinen Weg zu ihm hinein, er spürte ein Knistern, etwas, was tief in ihm geschah und zugleich auf der Oberfläche, ganz so, als kehre sich alles in ihm Verborgene nach außen und alles Äußere nach innen.“ Und damit wird Simon Bloch unsichtbar.

Ausbruch aus der Routine des Alltags

Simon Bloch, dieser Mittvierziger, der einst den Traum hatte, Filmkomponist zu werden, und nun in einer Agentur für Beschwerdemanagement Briefe unzufriedener Kunden beantwortet, ist jetzt Besitzer einer Tarnkappe. Er genießt seine neue Freiheit und die mit ihr entstandene Möglichkeite, aus der Routine des Alltags auszubrechen, dem Trott zu entkommen, der ihm Struktur und Halt gegeben hat, seit ihm seine Frau Anna durch einen Schicksalsschlag genommen wurde.

Simon wird Träger der Kappe. Fast hört man ihn wie Gollum flüstern: „Mein Schatz.“ Beherrscht der Träger des Einen Rings den Ring oder der Ring den Träger? Kann der Träger der Tarnkappe noch über sich und die Kappe bestimmen oder dominiert nicht vielmehr die Kappe den Träger? Und wie verändert sich ein Mensch, der mit einem Mal unsichtbar ist? In dem literarischen Motiv der Unsichtbarkeit, vor allem bekannt aus der Mythen- und Sagenwelt wie dem Nibelungenepos, erinnert Markus Orths‘ Roman „Die Tarnkappe“ stark an H. G. Wells‘ „Der Unsichtbare“.

Auch in Orths‘ Roman entwickelt sich die psychologische Frage der Unsichtbarkeit. Simon gerät in einen Strudel, der ihn abhängig macht und in die Isolation reißt, hebt sich gleichzeitig aber auch zu einem Entscheider über Leben und Tod empor. An H. G. Wells reicht Orths‘ „Tarnkappe“ nicht heran, trotzdem darf man den Roman nicht als Abklatsch eines alten Motivs abtun. Tarnkappenbomber haben den phantastisch wirkenden Kindheitstraum längst in die Wirklichkeit geholt, und auch Orths gelingt die Ansiedlung des Themas in der Jetztzeit. Das macht den Roman aus, obwohl mancher Metapherreigen nervt, manche Nebengeschichte zu winzig gerät.

Markus Orths: Die Tarnkappe, Schöffling & Co., Frankfurt am Main, 2011, 223 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 19,95 Euro, ISBN 978-3895614712

Hugo oder: Die Magie des frühen Films

Paris im Jahr 1931: Hugo Cabret ist ein wundersamer Junge, der versteckt hinter den dicken Mauern des Bahnhofs Montparnasse lebt. Wenn er nicht gerade die Bahnhofsuhren aufzieht, auf dass sie weiterlaufen können, tüftelt er an einem Geheimnis, das er von seinem Vater übernommen hat: Der mechanische Mann.

Hugos Vater war Uhrmacher und arbeitete neben seinem Hauptgeschäft in einem Museum. Dort entdeckte er auf dem Dachboden den mechanischen Mann und erzählte seinem Sohn von dem Wunderwerk, wie er ihm auch von den Anfängen des Kinos erzählte. Es war die Zeit, als die Pioniere der Filmgeschichte die Idee der Kinos gebaren. Doch Hugos Vater fiel eines Tages einem tragischen Brand im Museum zum Opfer, und Hugo barg später als letzte Verbindung zum Vater den mechanischen Mann aus den Trümmern.

Fortan sollte er in der Obhut seines Onkels Claude bleiben und ihm helfen, die Bahnhofsuhren zu kontrollieren und aufzuziehen. Er lernte, wie man durch das alte Gemäuer kletterte, wie die Uhren funktionierten und wie sie zu reparieren waren. Er lernte aber auch, wie man stahl, denn bei Onkel Claude gab es kaum etwas zu essen. Bald überließ Onkel Claude seinem Neffen gänzlich die Aufgabe, nach den Uhren zu sehen. Er selbst blieb oft stundenlang weg und roch nach seiner Rückkehr nach Alkohol. Und dann kam der Tag, an dem Onkel Claude gar nicht mehr wiederkam. Und obwohl Hugo wusste, dass das Spiel gefährlich war, blieb er im Bahnhof, kontrollierte die Uhren, holte die Gehaltsschecks seines Onkels ab und hielt sich ansonsten hinter den Mauern versteckt – niemand sollte bemerken, dass sein Onkel nicht mehr da war. Denn jetzt konnte Hugo sich dem mechanischen Mann widmen.

„‚Reparier ihn.‘ Als er den Automaten ansah, glaubte er nicht, dass er es schaffen würde. Der mechanische Mann war in weitaus schlimmerem Zustand als vorher. Doch Hugo hatte noch das Notizbuch seines Vaters. Vielleicht konnte er ja die Zeichnungen seines Vaters als Anleitung benutzen, um die fehlenden Teile nachzubauen.“

Damit beginnt die Geschichte um den mechanischen Mann und ein noch viel faszinierenderes Geheimnis, dem Hugo auf die Spur kommen wird. Und er ist nicht allein: ein belesenes Mädchen mit einem seltsamen Schlüssel hilft ihm bei der Suche nach dem verborgenen Geheimnis seines Vaters und des mechanischen Mannes.

„Die Entdeckung des Hugo Cabret“ von Brian Selznick lässt sich mit Recht als eines der schönsten Kinder- und Jugendbücher bezeichnen, denn hier verweben sich Wort und Bild auf eine unnachahmliche Art und Weise. Textpassagen wechseln sich mit illustrierten Seiten ab, doch die Illustrationen begleiten nicht nur die Geschichte – sie führen sie fort. Es ist, als flimmere ein Film vor den Augen des Lesers. Dabei sind die Kohlezeichnungen teilweise sehr detailliert, doch Zeit zum Verweilen bleibt kaum, denn die Spannung lässt den Leser unentwegt nach der nächsten Seite greifen. Der New-York-Times-Illustrator Selznick hat hier wahrlich ein eindrucksvolles Buch geschaffen, das in einer Verfilmung von Martin Scorsese jetzt auch in den deutschen Kinos angelaufen ist. Der Film ist für insgesamt elf Oscars nominiert und gilt als einer der Hauptfavouriten. Für zehn Oscars nominiert ist zudem der Stummfilm „The Artist“ – es scheint, als träfe die Hommage an die Anfänge des Films einen Geschmack. Scorsese sagt in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit: „Das alte Kino des Zelluloids verschwindet, das bewegte Bild verändert sich grundlegend durch neue Techniken. Aber erzählt wird immer noch eine Handlung in bewegten Bildern. Und ich bin ganz sicher, dass eines immer bleiben wird: das tiefe, fast archaische Bedürfnis, mit einer Gruppe von Menschen gemeinsam in einem Raum eine Geschichte erzählt zu bekommen.“

Das hätte ein schönes Schlusswort für eine Rezension geben können, doch es ist noch etwas anzufügen. So wunderschön dieses Buch ist, so vergriffen ist es in der gebundenen Ausgabe leider auch. Im cbj-Verlag ist im Jahr 2010 die aktuelle Taschenbuchausgabe erschienen, die gebundene jedoch wurde bis jetzt nicht wieder aufgelegt. Das ist wahrlich schade und unbegreiflich. Vielleicht aber kann der eine oder andere Oscar-Erfolg den Verlag dazu bringen, das Buch auch in der gebundenen Ausgabe wieder auf den Markt zu bringen. Bis dahin steht die Wahl zwischen einem Taschenbuch aus der Buchhandlung oder einem Hardcover aus dem Antiquariat.

Brian Selznick: Die Entdeckung des Hugo Cabret, cbj-Verlag, München, 2008, 544 Seiten, gebunden, derzeit vergriffen, ISBN 978-3570133002;
als Taschenbuchausgabe: cbj-verlag, München, 2010, 544 Seiten, Taschenbuch, 12,95 Euro, ISBN 978-3570221181

Update: Sowohl „The Artist“ als auch „Hugo“ räumten bei der Oscar-Verleihung 2012 jeweils fünf Oscars ab, Scorseses Film jedoch nur in den Nebenkategorien.

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