Die Traumtänzer vom Abgrund

Wir schreiben den 16. November 1925. Mitten im Berliner Amüsierviertel der Friedrichstraße dümpelt eine männliche Leiche in der Spree, Hinterkopf nach oben. Kein Schwimm- oder Tauchunfall, sondern: Mord. Das Opfer ist ein Journalist, der für das Nazi-Blatt „Völkischer Beobachter“ geschrieben hat. Im Ausklang des Jahres, in dem in München die NSDAP neu gegründet wurde, Hitler den ersten Band von „Mein Kampf“ veröffentlichte und die SS ins Leben gerufen wurde, lässt die Autorin Kerstin Ehmer ihren sympathischen Kommissar Ariel Spiro in einem Fall ermitteln, in dem er oft einen Schritt zu spät zu kommen scheint.

Der dritte (und bisher beste) Roman mit dem Titel „Der blonde Hund“ knüpft nahtlos an den Vorgänger an, in dem Spiro Boxunterricht genommen hatte, um den nationalsozialistischen Schlägertrupps etwas entgegensetzen zu können, und in dem die Ausbreitung des Antisemitismus beschrieben wird.

Die Spirale beginnt nun, sich schneller zu drehen. Die Nazis treten selbstbewusster auf, versammeln Geldgeber um sich und vertreiben ihre hirnlosen Schläger in die zweite Reihe. Wer ihnen dort vor die Füße fällt, dem gnade Gott.

Der Judenhass bricht sich Bahn, und auch Ariel Spiro bekommt nun häufiger antisemitische Vorurteile um die Ohren gepfeffert. Er trägt zwar einen jüdischen Namen, ist aber kein Jude. Im ersten Roman „Der weiße Affe“ hatte Spiro noch immerzu betont, seine Mutter habe Shakespeare verehrt, Lieblingsstück „Der Sturm“, und Ariel sei ein Luftgeist. Mittlerweile hat Spiro die Erklärungen aufgegeben. Sein Umfeld weiß Bescheid, und den Nazis ist in ihrer erbitterten Ideologie ohnehin nicht zu helfen.

„Wir setzen alle unsere Hoffnungen auf ihn“

Spiros Ermittlungen führen ihn zunächst in die Villa des bekanntesten Berliner Pianofabrikanten Eduard Bachmann („Ihre Klimperkästen sind der Stolz der Stadt“). Er und seine Frau Helena hatten sich mit dem Verleger-Ehepaar Feldstein aus München im Hotel Adlon zum Dinner getroffen. Zugegen war auch ein weiterer Herr aus München, den die Kellner als „fleischlos“ bezeichnen, als Vegetarier. Helena Bachmann beschreibt ihn hingegen so: „Oh, das ist ein überaus interessanter Mann, ein aufstrebendes, politisches Talent mit großem Potenzial. Wir setzen alle unsere Hoffnungen auf ihn.“ Der Name des Mannes wird an keiner Stelle des Romans benannt; aber es dürfte sich bei ihm um Adolf Hitler gehandelt haben.

Zurück zum Mordfall: Spiros Spur bringt ihn schließlich nach München, wo der sogenannte „Blonde Hund“ abgetaucht sein soll, ein junger Mann, der im Verdacht steht, eine Verbindung zum Mordopfer gehabt zu haben. Spiro schleicht sich unter falschem Namen im deutsch-nationalen Salon der Feldsteins ein und ermittelt im Kreis der höchsten Gesellschaftsschichten Münchens. Er begegnet dem Vater von Heinrich Himmler, wird auf der Reise zum nächsten Fixpunkt seiner Ermittlungen von einem Trupp Nazis aufgemischt, und recherchiert bei den Artamanen, wo der „Blonde Hund“ untergekommen sein soll. Die Artamanen wollten im Osten des Deutschen Reiches möglichst autark von bäuerlicher Tätigkeit leben („Fast jeden Tag ein Ei, das ist schon was“), auch um polnische Saisonarbeiter aus dem Land zu drängen. Sie verfochten eine völkische, agrarromantische Blut-und-Boden-Ideologie, 1934 gingen sie in der Hitlerjugend auf. Heute gibt es sie übrigens wieder, die völkischen Siedler: Neo-Artamanen nennen sie sich.1)

Äußerst penibel recherchiert

In Ehmers brillantem Kriminalroman ist wie immer viel drin, und dennoch wirkt er an keiner Stelle überfrachtet. Die Autorin recherchiert für ihre Romane stets äußerst penibel und schafft mit ihrem Fachwissen die prächtige Bühne für ihre Figuren. Natürlich schwingt auch immer viel Lokalkolorit mit: Die Männer trinken sich abends ihre Molle, die Damen gießen sich das Likörchen aus der Mampe-Flasche ein, und dann geht’s hinein ins pulsierende Berlin mit seinen Clubs und Bars, mit Tanz und Eleganz, mit Jazz und Klaviermusik. Dazu die Reichen und Schönen, die Arbeiter und Elenden, die Verbrecher und die ganze politische Dramaturgie der scheinbar Goldenen Zwanziger.

Während Spiro durch Deutschland fährt, bleibt seine eigenwillige Geliebte Nike Fromm in Berlin. Neugierig nimmt sie an Séancen teil, geht zu einem Wahrsager und versucht auf eigene Faust, das Rätsel um einen schwer verletzten jungen Mann zu lösen, der offenbar von einem brutalen Nazi-Offzier bei ausartenden SM-Spielen misshandelt wurde. Um Näheres herauszufinden, besucht sie eine Pension, in der Menschen mit dieser besonderen sexuellen Neigung im wahrsten Sinne des Wortes verkehren und in der niemand Fragen stellt.

Ja, es ist viel drin zwischen den beiden Buchdeckeln, und Kerstin Ehmer gelingt es auch in ihrem dritten Roman, gekonnt und mit viel Feingefühl die Spannung zu halten. Es ist ein geschickter Schachzug der Autorin, ihren Kommissar durchs Land reisen zu lassen, in einer Zeit, an der Deutschland langsam an den Scheitelpunkt gerät. Hervorragend stellt sie dar, wie die nationalsozialistische Ideologie auf der einen Seite bei immer mehr Menschen verfängt, während sie auf der anderen Seite abgetan oder gar unterschätzt wird. Der Oberkommissar der Politischen Polizei etwa verkennt die Lage völlig und sagt zu Spiro: „Meine Abteilung ermittelt überwiegend am linken Rand des politischen Spektrums, wo ich persönlich die größere Gefahr für unsere Republik sehe. Die Nationalsozialisten sind so gut wie tot.“

Nur eine ist hellsichtig und klug

Der Abgrund nähert sich, und selbst Spiro sieht es nicht. Für ihn sind die Bachmanns und Feldsteins alle „Traumtänzer, die mit Scheuklappen die Gegenwart ausblenden“. Nur eine in diesem Roman ist hellsichtig und klug: Nike Fromm. Sie sagt zu Spiro: „Etwas geschieht. Aber es ist viel größer als dein Fall. Es geschieht gleichzeitig an verschiedenen Orten. Der Aberglaube ist zurück. Unwissen und Dummheit sind wiederauferstanden und der Hass auf die Juden. Wir gehen nicht mehr vorwärts. Wir gehen zurück.“

Weniger als ein Jahr ist Spiro jetzt in Berlin. Er hat ein Mädchen gefunden, liebe Freunde und eine neue Heimat. Man hofft so sehr, dass die wandelnden Zeiten ihm das Glück nicht zerstören, aber wir gedanklich Zeitreisenden wissen es vermutlich besser: Das wird arg und ärger. Ja, fürwahr, der Abgrund nähert sich. Spiro, was wirst du tun?

Kerstin Ehmer: Der blonde Hund, Pendragon-Verlag, Bielefeld, 2022, 460 Seiten, broschiert, 22 Euro, ISBN 978-3865327635, Leseprobe

Seitengang dankt dem Pendragon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

1) Der „Deutschlandfunk Kultur“ hat 2017 in der Sendung „Zeitfragen“ über die neuen völkischen Siedler im ländlichen Raum berichtet. Der Beitrag ist hier nachzulesen.

Anlauf in Richtung Abgrund

Wenn Sie an historische Kriminalromane denken, die in Berlin zur Zeit der späten Weimarer Republik und des Nationalsozialismus spielen, kommt Ihnen sicher sofort die Reihe von Volker Kutscher um den nach Berlin versetzten Kommissar Gereon Rath in den Sinn. Es gibt eine Comic-Adaption sowie die sehenswerte Verfilmung als Kriminalserie „Babylon Berlin“. Aber kennen Sie auch Kerstin Ehmer und ihre Reihe über den Kriminalkommissar Ariel Spiro? 2017 ist der phänomenale erste Band mit dem Titel „Der weiße Affe“ erschienen, 2019 folgte „Die schwarze Fee“, und bereits Mitte Februar 2022, früher als ursprünglich vom Verlag geplant, kommt der dritte Fall mit dem Titel „Der blonde Hund“.

Während Kommissar Spiro in seinem ersten Fall den Mord an einem jüdischen Bankier aufklären musste, der mit eingeschlagenem Schädel im Treppenhaus seiner Geliebten zu liegen kam, hat er es in „Die schwarze Fee“ mit einem doppelten Giftmord zu tun. Es beginnt damit, dass an einem Sonntag bei bestem Sommerausflugswetter eine männliche Leiche auf dem Oberdeck eines Dampfers sitzt, und keiner der 70 Fahrgäste hat gesehen, wann sie vom Leben in den Tod hinüberfuhr.

Berlin von allen Seiten, und dabei oft von unten

In hervorragender (und niemals: billiger) Cliffhanger-Manier wechselt Kerstin Ehmer ständig die Perspektiven und beleuchtet den Fall und die Hauptstadt des Vergnügens und Verderbens von allen Seiten, und dabei oft von unten. Denn während die feine Gesellschaft ihr Auskommen hat und die schillernde Schönheit von Berlin in vollen Zügen auskosten kann, erleben wir in den dunklen Gassen und Gossen, in den Hinterhöfen, auf den Industrieflächen, an den Bahnlinien und in den Kneipen mit den Menschen die kalte Realität.

Ein besonderes Augenmerk liegt auf den russischen Emigrant*innen, die nach der Oktoberrevolution 1917 nach Berlin geflohen sind. Bis zu 350.000 Russinnen und Russen lebten damals in Berlin, der „Stiefmutter der russischen Städte“, wie man die Stadt nannte.

In der Stadt unterwegs ist auch die gefürchtete Tscheka, die sowjetische Geheimpolizei, die auf der Suche nach möglichen Gegner*innen der neuen russischen Machtstrukturen gnadenlos durchgreift. Heute kennt man die Verbrechen der Tschekisten unter dem Begriff „Roter Terror“. Genaue Opferzahlen gibt es nicht. Schätzungen gehen von 250.000 bis 1.000.000 Opfern aus.

Zeitgeschichtlich hochpolitischer Stoff

Es ist also ein zeitgeschichtlich hochpolitischer Stoff, den Kerstin Ehmer hier gut recherchiert zu Papier gebracht hat. Sie verwebt die politisch-gesellschaftliche Brisanz geschickt mit der Hintergrundgeschichte und den Nebenschauplätzen dieses Romans. So hatte Kommissar Ariel Spiro im ersten Roman eine kurze Liebelei mit Nike Fromm, der Tochter des ermordeten Bankiers. In „Die schwarze Fee“ ist Ariel nun trauriger Single mit wundem Herzen, während Nike mit dem Werkzeugmacher Anton Kraftschick angebandelt hat, einem Sozialisten, der sich nach Feierabend um Familien in Not kümmert. Doch nun ist Anton verschwunden; und wer sollte Nike besser helfen können, als Ariel Spiro? Den Rest könnte man sich fast denken. Tatsächlich ist es aber bei Kerstin Ehmers Romanen nie so, wie man sich das denkt.

Zu den grandiosen Szenen dieses Romans gehören etwa jene, in denen sich Antons Mutter, eine der starken Frauenfiguren, einen Ober-Nazi schnappt, den sie für das Verschwinden ihres Sohnes verantwortlich macht, sowie die screwballartige Begebenheit, als mehrere Männer versuchen, unbemerkt eine Leiche verschwinden zu lassen. Nicht nur hier wird Ehmers besonderer Blick für Zwischentöne und Nuancen deutlich. Ihre Art zu schreiben, ist ohnehin eine Wucht.

Nazis klatschen oder: Wie boxt man eigentlich richtig?

Es ist viel los in diesem zweiten Roman, und das spiegelt so hervorragend den vielfältigen Trubel in Berlin wider: die Arbeiter, die Nazis, die Russen, und die Kinderbanden, die Tanzpaläste und Kneipen, die Anarchisten, die SPD und die Frage, wie boxt man eigentlich richtig; Armut, Reichtum und die Syphilis, die nicht nach arm und reich unterscheidet.

Hatte der erste Roman noch ein euphemistisches Flair der Goldenen Zwanziger, verliert Berlin diese Leichtigkeit nun langsam. Die Nazis verdreschen unverhohlen politische Gegner, und der Umgang auf den Straßen wird ruppiger. Tendenzen von Antisemitismus werden erkennbar, und wir wissen: Das ist der Anlauf in Richtung Abgrund.

Die Geschichte um Ariel Spiro geht weiter. Bereits in wenigen Tagen erscheint der dritte Teil, der im November 1925 spielen soll. Aus einem Berliner Kanal wird die Leiche eines Journalisten gezogen, der für das Nazi-Blatt „Völkischer Beobachter“ geschrieben hat. Ariel Spiro wird dafür nicht nur in Berlin ermitteln, sondern in ganz Deutschland, das in diesem Jahr deutlicher unter nationalsozialistischem Eindruck steht: In München ist die NSDAP neu gegründet worden, Hitler veröffentlicht den ersten Band von „Mein Kampf“, und die SS wird ins Leben gerufen. Der Abgrund nähert sich.

Kerstin Ehmer: Die schwarze Fee, Pendragon Verlag, Bielefeld, 2019, 397 Seiten, broschiert, 18 Euro, ISBN 978-3865326560, Leseprobe

Seitengang dankt dem Pendragon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Im Modder und Zauber von Berlin

Die Mode- und Porträtfotografin Kerstin Ehmer hat sich in Berlin besonders wegen ihrer „Victoria Bar“ einen Namen gemacht. Seit 2001 führt sie mit ihrem Mann diesen Hort für alle Connaisseure der gepflegten und ernsthaften Trinkkultur. Jetzt hat sie ihren ersten Kriminalroman geschrieben. „Endlich!“, möchte man rufen, denn was Ehmer da unter dem Titel „Der weiße Affe“ vorgelegt hat, ist ein wahrlich kluges und raffiniertes Kriminalstück aus der Zeit der Weimarer Republik, sprachlich umwerfend dazu.

Der junge Kommissar Ariel Spiro ist soeben aus dem brandenburgischen Wittenberge nach Berlin gezogen. Noch nicht einmal seinen Koffer kann er auspacken, da ermittelt er schon in seinem ersten Fall in dieser berauschenden Großstadt. Der jüdische Bankier Eduard Fromm liegt mit eingeschlagenem Kopf auf der Stiege im Hinterhaus, kurz vor der Tür seiner Geliebten. Mund offen, Blick starr geradeaus, als habe ihn der Schlag getroffen.

Kurz zuvor hatte er noch seine Hilde besucht. Viermal in der Woche kam er und war der ehemaligen Tänzerin ein Gönner und Geliebter. Hatte ihr nach seinen peniblen Vorstellungen die Wohnung eingerichtet und ein ganz besonderes Schmuckstück als Dauerleihgabe gebracht: einen weißen Porzellan-Affen. Und allzu gern überfraß der Bankier sich an Schweinewürsten, erzählt man sich.

Zeit der nationalsozialistischen Emporkömmlinge

Nicht nur Spiro ist bass erstaunt, sondern auch Fromms Ehefrau Charlotte, eine zartgliedrige Konzertpianistin, sowie die beiden Kinder Ambros und Nike, beide nicht weniger anmutig. Spiro, der sonst immer wieder betont, er sei kein Jude – seine Mutter habe Shakespeare verehrt, Lieblingsstück „Der Sturm“, und Ariel ein Luftgeist – verschweigt das vor der Familie geflissentlich. Es ist die Zeit, wo mit den nationalsozialistischen Emporkömmlingen auch der Antisemitismus erstarkt. Spiro ist kein Antisemit; er erhofft sich mehr Offenheit, wenn die Familie glaubt, auch er sei Jude.

Spiro verfolgt so manche falsche Fährte, die ihn tief in den Morast der zwanziger Jahre der deutschen Hauptstadt bringt, in die Bars und Spelunken, auf die grellen Prachtstraßen und in die finsteren Gassen mit ihrem löcherigen Kopfsteinpflaster. „Diese Stadt ist ein Sumpf“, sagt ihm ein Kollege der Berliner Polizei. „Wo immer Sie hier hintreten, Spiro, da ist Modder.“

Eine Schönheit par excellence

Kerstin Ehmer vermag diesen Modder und Zauber der Großstadt und der damaligen Zeit so grandios einzufangen, dass es eine Freude ist. Trotz düsterem Sujet sind die Worte, ist die Sprache eine Schönheit par excellence. Schon der Duktus führt den Leser in die damalige Zeit. Die Phantasie eines jeden tut ihr übriges.

Die Figuren sind bis in die Nebenrollen hervorragend besetzt. Spiros Mitbewohner Jack etwa, den man sich wirklich ans Herz liest, arbeitet in der Bar „La Cocotte“ und nennt einen Hund namens „Erbse“ sein Eigen. Oder die grünäugige Bankierstochter Nike, der Spiro blauäugig verfällt, die Medizin studiert und nebenbei als Sexualtherapeutin im berühmten Hirschfeld-Institut arbeitet. Und dann sei auch noch die rätselhafte Figur erwähnt, der wir in kursiv gesetzter Schrift dann und wann folgen, einem Kind, das unter Drogen gesetzt irgendwo in Berlin in einem Verschlag sein Leben fristet und 14 Jahre keine Schule von innen gesehen hat.

Eine Fährte, eine Fährte!

Dieser Fall, dieser Roman ist spannend gewoben, fürwahr – und man darf nicht mehr erzählen, um nicht Gefahr zu laufen, zu viel zu verraten. Sie wollen wissen, was es mit dem titelgebenden weißen Affen auf sich hat? Eine Fährte, eine Fährte. Wie so viele!

Die Zeit der Goldenen Zwanziger findet seit einigen Jahren wieder zurück in die heutige Kultur. Maßgeblichen Anteil daran hat Volker Kutscher mit seinen Romanen um den Kriminalkommissar Gereon Rath. Ihm folgten etwa eine ebenso lesenswerte Graphic-Novel-Bearbeitung von Arne Jysch sowie die gefeierte Serien-Adaption „Babylon Berlin“. Kerstin Ehmers Krimi sollte man jedoch nicht als kleinen Nachen sehen, der im Fahrwasser von Kutschers Romanen im Landwehrkanal dümpelt. „Der weiße Affe“ schlägt seine ganz eigenen Wellen. So sehr, dass wir am Ende nur hoffen und bitten, dass Ariel Spiro zurückkommen möge und „Der weiße Affe“ der phänomenale Auftakt einer neuen Krimi-Reihe ist. Darauf einen Charleston!

Kerstin Ehmer: Der weiße Affe, Pendragon Verlag, Bielefeld, 2017, 280 Seiten, broschiert, 17 Euro, ISBN 978-3865325846, Leseprobe

Seitengang dankt dem Pendragon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Der eintauchende Penis

Es ist die große Geschichte vom Scheitern der Liebe. Uah, mag man jetzt denken, tausendfach gelesen. Aber nein, niemals so wie in „Zärtlich ist die Nacht“. Dick und Nicole Diver sind auf den ersten Blick ein harmonisches Pärchen, das in den Roaring Twenties an der französischen Riviera ein mondänes, ausschweifendes Leben führt.

In ihrer Villa gehen Künstler ein und aus, am Strand treffen sich die Reichen, die Schauspieler und Lebenskünstler, schlürfen Gin zur Mittagsstunde, gehen dann und wann im Mittelmeer schwimmen und sind stets bestrebt, den Tag und die Nacht bestmöglich zu genießen. So trifft eines Tages auch die attraktive 18-jährige Schauspielerin Rosemary am Strand ein. Unbedarft und naiv verliebt sie sich sogleich in Dick Diver und will ihn unbedingt verführen. Sie hätte womöglich von ihrem Plan Abstand genommen, hätte sie gewusst, welches Geheimnis Dick und seine Frau Nicole verbergen. Und wie das alles enden würde.

F. Scott Fitzgerald hat an diesem Roman neun Jahre gearbeitet. Als er dann im Jahre 1934 erschien, wurde er von den Kritikern zurückhaltend kritisiert, nicht aber gefeiert. Fitzgerald schreibt den Roman noch einmal um, gibt ihm eine andere Chronologie. Das Konzept, den Roman in drei Bücher aufzuteilen, zerschlägt er und macht daraus fünf Kapitel. Fitzgerald nennt die neue Version seine „final version“. Doch Ernest Hemingway ist fassungslos: „Es ist, als hätte man einem Schmetterling die Flügel ausgerissen und sie so wieder angesetzt, dass er wie eine Biene geradeaus fliegen kann. All der Staub, aus dem die Farben sind – die Magie des Schmetterlings -, ist verloren.“

Erstmals die ursprüngliche Fassung

Doch es bleibt bei dieser Fassung – laut des wirklich großartigen Nachworts von Heinrich Detering – in Amerika bis in die sechziger Jahre, dann setzt sich dort wieder die Fassung von 1934 durch. In Deutschland haben die Leser bis 2006 nur die „final version“ gekannt. Im Diogenes Verlag ist jetzt erstmals die ursprüngliche Fassung von 1934 erschienen, übersetzt von Renate Orth-Guttmann. Es ist ein Genuss.

Es ist schon deshalb ein Genuss, weil diese Sprache so wundervoll zu lesen ist. Der Leser fühlt sich wie einer jener Schwimmer an der Riviera: Er durchkrault dieses Wörtermeer und aalt sich in den Wogen der Sprachkunst. Nun braucht der Leser aber wie jeder Schwimmer auch etwas Atem und Durchhaltevermögen, denn dem Leser erschließt sich nicht sogleich, warum dieses Buch gelesen werden muss. Seitenweise ergeht sich Fitzgerald in der Schilderung der Szenerie, der Partys und Amüsements. Dabei schildert er die Ereignisse gerne aus Sicht unterschiedlicher Personen. Immer wieder lässt er Textzeilen bekannter Schlager und Jazzstücke aus der Zeit einfließen, die Schönen und Reichen unterhalten sich oberflächlich und ohne tieferen Sinn. Szenen, wie man sie heute aus Büchern von Bret Easton Ellis kennt: Eine spaßorientierte Gesellschaft, die sich intellektuell gibt und dabei doch nichts zu sagen hat.

Hier braucht der Leser seinen Atem, denn es ist mitunter mühsam, dem Spaß der handelnden Personen einen Lesespaß abzuringen. Doch das ist alles mit feinem Sinn konzipiert, denn es schleicht sich nach und nach der Gedanke ein, dass hier doch nicht alles so ganz und gar wunderbar ist, wie es scheint. Mehrere Male lockt Fitzgerald den Leser auf die falsche Fährte, lässt ihn in dem Irrglauben, das Geheimnis zu erahnen. Doch worum es wirklich geht, erfährt man erst am Schluss.

Obszöner Hinweis auf die sexuelle Lust des Helden

Dick Diver – hier ist der Name Programm. Der eintauchende Penis als obszöner Hinweis auf die sexuelle Lust des Helden, vielleicht aber auch schon als Omen des Endes, wenn nur der Nachname als Vorzeichen gesehen wird. Das Buch ist reich an Symbolen, wenn man Fitzgeralds Biographie kennt. Dass der Roman durch und durch autobiographisch ist, ist bekannt. Vor diesem Hintergrund liest er sich wie eine psychoanalytische Studie über Fitzgerald selbst. Denn Dick Diver ist Fitzgerald, und Fitzgerald ist Dick Diver. Und Nicole Diver trägt sichtbare Züge und Wesenszustände von Fitzgeralds Frau Zelda.

Doch auch unabhängig von Fitzgeralds Biographie ist dieses Buch ein so intensives Leseerlebnis, dass man es wagen sollte. Atem schöpfen und losschwimmen. Wer das Buch zu Ende gelesen hat, wird sicher noch einige Zeit auf dem Steg oder Beckenrand sitzen bleiben und mit den Füßen im Wasser baumeln.

Francis Scott Fitzgerald: Zärtlich ist die Nacht, Diogenes Verlag, Zürich, 2006, 553 Seiten, gebunden, 24,90 Euro, ISBN 978-3257065213
Diogenes Verlag, Zürich, 2007, 552 Seiten, Taschenbuch, 11,90 Euro, ISBN 978-3257236958

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