Der Schmerz der Doppelgänger

Im ersten AugenblickDer neue Roman von Grégoire Delacourt, Autor des Bestsellers „Alle meine Wünsche“, wird von den Medien fälschlicherweise nur als Liebesroman gefeiert. Die französische Tageszeitung Le Figaro etwa schreibt: „Grégoire Delacourt hat den Liebesroman neu erfunden.“ Der Atlantik Verlag druckt das Lob gleich auf den Umschlag. Doch „Im ersten Augenblick“ ist auch der bedrückende Roman einer Identitätssuche und gerade deshalb so lesenswert.

Arthur Dreyfuss ist 20 Jahre alt, macht sich als Automechaniker die Hände dreckig und wohnt allein in einem kleinen freistehenden Häuschen am Rand eines französischen Örtchens mit 687 Einwohnern. Während er eines Abends eine Folge der TV-Serie „Die Sopranos“ sieht, klopft es plötzlich an der Haustür. Als er öffnet, steht vor ihm die amerikanische Schauspielerin Scarlett Johansson.

Obwohl ihm schlagartig bewusst wird, dass er nur seinen Lieblingsfernsehaufzug, weißes Unterhemd und Schlumpf-Boxershort, anhat, bittet er sie herein. „Und welcher Mann auf der Welt, selbst in Unterhemd und Schlumpf-Boxershorts, hätte zu der phänomenalen Schauspielerin aus „Lost in Translation“ nicht „Kommen Sie herein“ gesagt?“

Müde vom Licht der Scheinwerfer

Sie gesteht dem völlig verdatterten Arthur, dass sie vom Filmfestival in Deauville geflohen sei, um ein paar Tage zu verschwinden, müde vom Licht der Scheinwerfer. Arthur entscheidet sich, die erschöpfte Schauspielerin bei sich unterzubringen. Während er sich schlaflos auf dem Ikea-Sofa im Wohnzimmer herumwälzt, schlummert Scarlett selig zwei Etagen höher in seinem Jugendzimmer unter den Postern von Michael Schumacher und der nackten Megan Fox.

Am Abend ihres dritten gemeinsamen Tages gesteht die Schönheit in Arthurs Haus schließlich, dass sie nicht Scarlett Johansson, sondern Jeanine Foucamprez heißt. Sie sieht bloß aus wie Scarlett Johansson, haargenau wie Scarlett Johansson. Und sie leidet fürchterlich unter dieser Last, denn für die Öffentlichkeit ist die Person Jeanine Foucamprez eine unsichtbare Frau. Wahrnehmbar ist nur die äußere Hülle, die Scarlett Johansson gleicht wie das eine sprichwörtliche Ei dem anderen.

Wie geht ein Mensch damit um, dass die Öffentlichkeit das eigene Ich verleugnet und es in eine andere Rolle presst? Wie verhält sich ein möglicher Partner? Liebt er den Menschen oder den äußeren Schein? Und welche Auswirkungen hat beides auf ein Liebespaar? Das sind die Fragen, die – ja, mit einer anmutigen Liebesgeschichte verwoben – in diesem sprachlich außergewöhnlichen Roman gestellt werden.

Die Zweifel bleiben

Die echte Scarlett Johansson hat ihre Rolle in der Öffentlichkeit gefunden, Jeanine Foucamprez nicht. Unfreiwilliger Doppelgänger zu sein, macht nicht nur unglücklich, sondern vor allem einsam, denn die Zweifel bleiben, ob das Gegenüber wirklich den Menschen liebt und nicht doch nur das „Sieht aus wie…“.

Die Angst vor dem Verlust der eigenen Identität und das Doppelgängermotiv finden sich immer wieder in der Literatur („Das Bildnis des Dorian Gray“, „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“). Grégoire Delacourt fügt jetzt noch ein weiteres gelungenes Beispiel hinzu, wenngleich man ihn gewiss nicht mit Oscar Wilde oder Robert Louis Stevenson gleichsetzen kann. Literarisch kann Delacourt da nicht mithalten. Eindringlich aber sind all jene Leser davor zu warnen, die aufgrund des Klappentextes und des kitschigen Umschlags nur von einer schönen, unterhaltsamen Liebesgeschichte ausgehen. Dieses Buch vermag viel mehr!

Umso unverständlicher ist es, dass Scarlett Johansson gegen dieses Buch vor Gericht gezogen ist. Der Roman verletzte und nutze betrügerisch ihre Persönlichkeitsrechte aus. Johansson verlangte nicht nur 50.000 Euro Schadensersatz, sondern wollte auch erreichen, dass keine weiteren Rechte an dem Buch verkauft werden, es also zum Beispiel nicht verfilmt werden könnte. Johanssons Anwälte vertraten die Auffassung, Delacourt habe die Person Scarlett Johansson dafür missbraucht, seinen Roman aufzuwerten und zu einer Sensation zu machen.

„Archetyp der heutigen weiblichen Schönheit“

Delacourt war sprachlos, als er davon erfuhr. Er erklärte laut der britischen Tageszeitung The Guardian, er habe Scarlett Johansson ausgewählt, weil sie der „Archetyp der heutigen weiblichen Schönheit“ sei. Seine Hauptperson aber sei Jeanine Foucamprez, nicht Johansson. Es ist also mehr eine Hommage an die amerikanische Schauspielerin – die aber in Übersee nicht verstanden wurde. Vielleicht auch deshalb nicht, weil der Roman zum Zeitpunkt des Prozesses noch nicht ins Englische übersetzt worden war und Johansson ihn deshalb noch nicht gelesen habe, wie Delacourt in einem kurzen Interview mit der franzözischen Tageszeitung Le Figaro erklärte.

„Wenn ein Autor nicht mehr die Dinge erwähnen kann, die uns umgeben, eine Biermarke, ein Denkmal, einen Schauspieler … dann wird es kompliziert, Romane zu schreiben“, sagte Delacourt weiter. Das Problem daran ist: Marken haben einen Marktwert, und Hollywoodschauspieler haben den auch. Bei dem Prozess in Paris ging es also auch darum, welchen Wert die Marke Johansson hat. Den Gefallen tat das Gericht der Schauspielerin allerdings nicht: Delacourt und sein Verlag müssen 2.500 Euro Schadensersatz bezahlen und 2.500 Euro Anwaltskosten übernehmen. Die Rechte blieben unerwähnt.

Ironischerweise wäre es in Johanssons Heimatland gar nicht zum Prozess gekommen, erklärte der New Yorker Anwalt Lloyd Jassin gegenüber dem amerikanischen Nachrichtenmagazin „Time“. Dort ist die Garantie der Meinungsfreiheit im 1. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten („First Amendment“) unantastbar. In Europa aber, sagte Jassin, würden Persönlichkeitsrechte „sehr viel ernster“ genommen – für Johansson die beste Gelegenheit, sich darauf zu berufen und ein wenig Geld einzuheimsen.

Im Interview mit dem Figaro scherzte Delacourt: „Ich dachte, sie könnte mir Blumen schicken, weil es eine Liebeserklärung für sie war, aber sie wollte es nicht verstehen.“ Und weiter: „Sie beschwert sich über das, was ich sage, das ist ein wenig paradox, aber der Prozess ist schließlich sehr amerikanisch.“

Grégoire Delacourt: Im ersten Augenblick, Atlantik Verlag, Hamburg, 2014, 206 Seiten, gebunden, 17,99 Euro, ISBN 978-3455600018, Leseprobe

Keine Zähne, kein Biss

Cry BabyIn Wind Gap, einer kleinen Stadt am Mississippi und im äußersten Südosten von Missouri, ist ein junges Mädchen ermordet worden. Ein zweites Kind wird vermisst, und die Einwohner fürchten, dass es das Schicksal des ersten Opfers teilen wird: erdrosselt und aller Zähne beraubt wird man auch dieses Mädchen finden. Die Daily Post aus Chicago schickt Camille Preaker als Reporterin in das kleine Nest. Es ist ihre Heimatstadt und Wiege traumatischer Erlebnisse.

Camille trägt die Wunden der Vergangenheit tagtäglich mit sich herum. Einst schnitt sie sich mit Rasierklingen Wörter in die Haut. Ihr ganzer Körper ist damit übersät. Nur auf dem Rücken ist eine kreisrunde Stelle verschont geblieben, weil sie mit der Hand nicht hinreichte. Die äußeren Narben weiß sie gut zu verbergen. Mit langer Kleidung. Mit Vorsicht. Die inneren betäubt sie mit Alkohol.

Das Verhältnis zur Mutter ist distanziert. Kein Wunder: Sie reagiert kühl, ja, fast eisig und macht keinen Hehl daraus, dass Camille nicht herzlich willkommen ist. Die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung belastet die Recherchen in Wind Gap von Anfang an. Die örtliche Polizei kommt mit dem Fall ebenfalls nicht so recht voran, auch der eigens aus der Großstadt gerufene Profiler stochert im Nebel, macht Camille aber schöne Augen.

Es dümpelt dahin und kommt nicht in Fahrt

Dann wird plötzlich das zweite Mädchen gefunden. Erdrosselt und zwischen zwei Hauswände gesteckt. Auch diesem Mädchen fehlen die Zähne. Wer war es denn nun? Das möchte auch der Leser endlich wissen, doch das Buch „Cry Baby“ verliert sich. Es dümpelt dahin und kommt nicht in Fahrt.

Dabei hat der Buchumschlag etwas anderes versprochen. Auf der Buchrückseite wird Stephen King zitiert: „Dies ist ein absolut grandioser Roman. Mir grauste es vor den letzten dreißig Seiten, aber ich konnte nicht anders, ich musste umblättern. Dann, nachdem ich das Licht gelöscht hatte, merkte ich, dass die Geschichte in meinem Kopf blieb, zusammengerollt und zischend wie eine Schlange in einer Höhle.“ Auf den Marketing-Trick des Verlags fiel offensichtlich auch die Zeitschrift Bild + Funk aus dem Gong-Verlag herein, die in einer Rezension schrieb: „Selbst Steven King lobte es in höchsten Tönen!“ Na, dann kann es ja nur gut sein.

So übermäßig gelobt worden ist das Debüt der Bestsellerautorin Gillian Flynn, die erst mit ihrem dritten Roman „Gone Girl“ den weltweiten Durchbruch erlebte. Von der Klasse jenes Bestsellers ist Flynn in „Cry Baby“ aber noch meilenweit entfernt. Eine begabte Schreiberin ist hier beileibe nicht am Werk.

Der Geschichte fehlt der Biss

Die Figuren sind schwach und zu klischeehaft gezeichnet, und der Geschichte fehlt der Biss. Sie bleibt hinter ihren Möglichkeiten zurück. In einem Interview mit dem Fischer Verlag sagte Flynn: „Bei „Cry Baby“ war ich mir lange Zeit nicht darüber im Klaren, wer eigentlich der Mörder sein sollte.“ Das merkt man dem Buch leider an.

So bleibt Flynns erstes Werk eine Enttäuschung für den Leser. Auf dem deutschen Buchmarkt ist es wohl nur aufgrund des enormen Erfolgs von „Gone Girl“, das von David Fincher verfilmt wurde und im Herbst 2014 in die deutschen Kinos kommt. Neben „Cry Baby“ (erste deutsche Veröffentlichung im Jahr 2007) ist auch Flynns zweites Buch „Dark Places“ (erste Veröffentlichung 2010 unter dem Titel „Finstere Orte“) nun wieder neu aufgelegt worden. „Cry Baby“ ist aber ein Buch, das das Regal nicht braucht.

Gillian Flynn: Cry Baby – Scharfe Schnitte, Fischer Scherz Verlag, Frankfurt, 2014, 332 Seiten, broschiert, 12,99 Euro, ISBN 978-3651011649, Leseprobe

Ein Erzähler macht noch keinen Romancier

TabuDass der deutsche Strafverteidiger Ferdinand von Schirach neben juristischen Schriftsätzen auch Literarisches verfassen kann, hat er mit seinen zwei Erzählbänden „Verbrechen“ und „Schuld“ bereits bewiesen. Das vernachlässigte Feld der Gerichtsreportage hat er damit neu belebt. Von Schirach ist ein Erzähler alter Klasse, wie man sie lange nicht mehr gelesen hat. „Tabu“, sein zweiter Roman, der jetzt erschienen ist, zeigt aber, dass von Schirach deshalb noch lange kein Autor von Romanen ist.

Bis zu einem Urteil gilt die Unschuldsvermutung. Aber was ist Schuld? Mit der Frage beschäftigt sich von Schirach schon seit seinem ersten Kriminalroman „Der Fall Collini“. Der neue Fall handelt von einem Mann namens Sebastian von Eschburg, Sprössling einer verarmten Adelsfamilie.

Seine Kindheit verbringt er überwiegend in einem Internat. Der Vater erschießt sich, die Mutter zeigt mehr Interesse an ihren Reitpferden als an ihrem Sohn. Die Vermutung liegt nahe, dass das beim Filius zu einem fiesen Charakter führt, eine bösartige Neurose hervorbildet oder ähnliche Folgen hat. Doch weit gefehlt. Sebastian berappelt sich und wird ein gefeierter Fotograf.

Nackte Haut und ein Pornoproduzent

Geradezu ermüdend genau beschreibt von Schirach, wie Eschburgs Kunst entsteht. Erstaunlicherweise bemüht er sogar nackte Haut und einen Pornoproduzenten, um das Bild eines extravaganten Künstlers zu zeichnen. Leider hangelt sich von Schirach dabei von Klischee zu Klischee. Der Pornoproduzent etwa trägt natürlich Lederjacke und Sonnenbrille.

Während aber geradezu detailverliebt von unterschiedlichen Kameramodellen und Fotografie-Kniffen die Rede ist, muss anderes zurückstehen. Zum Beispiel ist von Eschburg Synästhesist. Er sieht die Welt in anderen Farben als die Allgemeinheit. „Die Hände des Kindermädchens waren aus Cyan und Amber, seine Haare leuchteten für ihn violett mit einer Spur Ocker, die Haut des Vaters war eine blasse, grünblaue Fläche.“ Davon wird anfänglich viel erzählt, doch dann verliert sich die Spur im Lauf der Geschichte. Lediglich die Kapitel werden noch in Farben zusammengefasst. Interessante Aspekte vergehen also, während die üblichen Teile einer Schirach-Erzählung Bestand haben: der Strafverteidiger, das Gericht, die Schuldfrage, die anwaltliche Intervention.

Und so wird am Fall von Eschburg die Schuldfrage erklärt. Allerdings eher wie in einem mäßigen Repetitorium für Jurastudenten vor dem ersten Staatsexamen. Dem gefeierten Fotografen wird zur Last gelegt, eine Frau vergewaltigt und getötet zu haben. Die Leiche jedoch ist nicht auffindbar, macht aber nichts, denn der Angeschuldigte legt in seiner polizeilichen Vernehmung ein Geständnis ab. Die Presse hat ihr Urteil längst gesprochen.

Grantiger Advokat mit Burn-Out-Syndrom

Doch jetzt endlich tritt der Anwalt auf die Bühne des Geschehens. Es dauert 148 Seiten, bis die Leser Konrad Biegler endlich kennenlernen dürfen, jenen grantigen Advokaten mit Burn-Out-Syndrom, der von Eschburg aus dem Gefängnis holen und ihn zu einem freien Mann machen soll. Erster Anknüpfungspunkt: Das Geständnis. Erzwungen war es nämlich und erinnert an den Fall Magnus Gäfgen. Zweiter Anknüpfungspunkt: Die Schuld. Und dann auch noch das Auseinanderfallen von Wahrheit und Wirklichkeit.

Den Personen des Romans fehlt es an Tiefe und Eindringlichkeit. Sogar der Erlöser der Geschichte, Anwalt Biegler, ist alles andere als ein Charakterkopf. Er hat ja auch kaum Zeit, sich zu entwickeln. Im Grunde ist er eine arme Figur: Nur geschaffen und kurz umrissen für den letzten großen Auftritt. Eine Marionette in einem Stück, das von der Kunst des Erzählens weit entfernt ist.

Man kann nur hoffen, dass von Schirach sich wieder auf einen neuen Erzählband konzentriert. In einem Interview mit der Legal Tribune Online erklärte er im Oktober 2013: „An ‚Tabu‘ habe ich 19 Monate geschrieben, jeden Tag sechs Stunden. In dieser Zeit war ich nicht mehr in der Kanzlei. Bei den Kurzgeschichten war es einfacher, sie konnte ich nachts oder in den Ferien schreiben.“ Dieser Mann braucht Nächte und Ferien! Niemand muss doch auch noch ein großer Romancier werden, wenn er schon ein großer Erzähler ist.

Die Rezension von Anna Prizkau in der FAZ vergleicht „Tabu“ mit einer „gar nicht so schlechten Tatort-Folge“. Dem ist zu widersprechen. Diesen Tatort hätten die meisten abgeschaltet.

Ferdinand von Schirach: Tabu, Piper Verlag, München, 2013, 254 Seiten, gebunden, 17,99 Euro, ISBN 978-3492055697, Leseprobe

Das perfide Verbrechen

Gone GirlEs gibt Bücher, über die ein Leser zuvor nicht zu viel wissen sollte. So können sie ihn unvorbereitet und mit voller Wucht treffen. Der Roman „Gone Girl“ ist ein solches Buch. Wer es nicht gelesen hat, hat eines der aufregendsten Bücher des Jahres 2013 verpasst. Das perfekte Verbrechen ist überholt. Es lebe das perfide Verbrechen!

Ausgerechnet an ihrem fünften Hochzeitstag verschwindet Nicks Frau Amy. Die Haustür steht sperrangelweit offen, im Wohnzimmer liegt der Couchtisch in Scherben, Möbelstücke sind umgeworfen, alles sieht nach einem Kampf aus. Und Amy ist nicht da. Sie ist weg, verschwunden.

Die Polizei entdeckt in der Küche Reste von Blutspuren. Sie sind fortgewischt worden, nachdem dort jemand viel Blut verloren haben muss. Schnell konzentrieren sich die Ermittlungen auf Nick, der teilweise erschreckend dümmlich reagiert. Amys Eltern, die einst Millionen mit einer Kinderbuchserie über ihre Tochter verdient haben, fangen an, ihrem Schwiegersohn zu misstrauen. Und auch der Leser hat es schwer mit Nick.

Eine der Größen dieses Romans

Gerade das aber ist eine der Größen dieses Romans, der weniger Thriller oder Krimi, als vielmehr die erschreckende psychologische Studie einer Ehe ist. Die Autorin Gillian Flynn lässt Nick und Amy abwechselnd erzählen. Von Nick erfährt der Leser den aktuellen Fortgang der Geschichte, angefangen mit Amys Verschwinden.

Amy aber lässt den Leser ihre Tagebucheinträge vom Beginn ihrer Beziehung lesen. Anfangs sprüht aus ihren Zeilen die unbedingte Verliebtheit, die Schwärmerei, das Glück. Nick und Amy leben und arbeiten in New York und genießen den angenehmen Mittelklassen-„way of life“.

Doch dann geraten Leben und Liebe in Schieflage. Beide verlieren ihre Jobs als Journalisten, und Nicks Mutter liegt im Sterben. Der beschließt für Amy gleich mit, dass sie in seine Heimatstadt ziehen. Nach North Carthage, Missouri, in ein Haus direkt am Mississippi River.

Weder Glück noch Freunde

Dort findet Amy weder Glück noch Freunde. Das geht auch nicht spurlos an der Beziehung vorbei. Beide reiben sich aneinander und gegenseitig auf. Und plötzlich ist Amy weg. Nachbarn berichten der Polizei von lauten Streitereien. Der Verdacht fällt unweigerlich auf Nick.

Doch das Verschwinden Amys ist nicht das einzige Mysterium des Romans. Rätselhaft ist auch, wie sich ein auf den ersten Blick so perfektes Paar nach nur wenigen Jahren derart voneinander entfernen kann. Die Bezeichnung „Entfremdung“ wäre noch euphemistisch. Der Roman berührt damit auch die ureigenen Ängste, die jeder romantischen Beziehung zugrundeliegen, ohne dass man sie offen zu Tage treten lässt: Können wir das anfängliche Glück, die Liebe, das unbedingte Vertrauen über Jahre hinweg erhalten? Oder sind die Geheimnisse, die wir voreinander haben, wie ein schwarzes Loch, das uns unaufhaltsam ins Nichts zieht?

In den USA war Flynns Roman ein Bestseller. Die Rezensenten der großen Zeitungen überboten sich in ihren begeisterten Lobeshymnen. Regisseur David Fincher verfilmt das Buch derzeit mit Ben Affleck und Rosamunde Pike. Schon 2014 soll es in die Kinos kommen.

Auch in Deutschland wurde das Buch bereits sehr hofiert. Der Fischer Verlag begleitete das Erscheinen mit einer großen Werbekampagne. In den meisten Fällen mutet ein solcher Aufwand seltsam an. Der Verdacht liegt nahe, dass es dieses Buch ohne Werbung niemals in die Hände deutscher Leser schaffen würde. Doch in diesem Fall ist das Brimborium berechtigt. „Gone Girl“ ist eine Wucht.

Gillian Flynn: Gone Girl – Das perfekte Opfer, Fischer Scherz Verlag, Frankfurt, 2013, 576 Seiten, broschiert, 16,99 Euro, ISBN 978-3502102229, Leseprobe

In des Waldes finstern Gründen

WildwoodAls die zwölfjährige Prue nur einen Moment nicht aufpasst, geschieht das Unfassbare: Ein Schwarm Krähen greift sich ihren kleinen Bruder Mac und fliegt mit ihm in die „Undurchdringliche Wildnis“ jenseits der Stadt. Die mutige Prue zögert nicht lang und macht sich auf, ihren Bruder zu retten. So beginnt eines der derzeit schönsten Kinder- und Jugendbücher: „Wildwood“, geschrieben von Colin Meloy und zauberhaft illustriert von dessen Frau Carson Ellis.

Prue lebt mit ihrem einjährigen Bruder Mac und ihren Eltern in Portland im amerikanischen Bundesstaat Oregon. Im Südosten grenzt die Stadt an die „Undurchdringliche Wildnis“, jene finsteren Wälder, die kaum ein Mensch je betreten hat und wovor die Eltern stets warnen. Nur wilde Tiere leben dort, und die gehen wenig zimperlich mit Menschen um, die ihre Grenzen übertreten, heißt es. Doch jetzt sind die Tiere in die Stadt eingedrungen und haben ein Baby entführt, Prues Bruder!

Mit ihrem Klassenkameraden Curtis macht sich Prue auf, ihren kleinen Bruder aus den Fängen der Krähen zu retten. Der Übergang in die „Undurchdringliche Wildnis“ ist wesentlich einfacher als gedacht, denn ganz so undurchdringlich ist sie gar nicht. Doch als sie auf die erste Lichtung stoßen, wird ihnen schnell klar, dass hier einiges anders ist als drüben in der Stadt. Dort auf der Lichtung nämlich hat sich ein Dutzend Kojoten um die Überreste eines Lagerfeuers versammelt – und sie sprechen miteinander und tragen alle die gleichen roten Uniformen!

Eine ganz schön fiese Pflanze

Eine seltsame Welt haben die beiden da betreten. Und auf ihrer Reise erleben sie noch viel eigentümlichere Dinge. Phantasievoll und mit Witz erzählen Meloy und Ellis ein skurriles Märchen über gefiederte Freunde, eine böse Hexe, Kojoten und Räuber. Es geht um Macht, Magie und Politik. Und ganz nebenbei erfährt der Leser, dass Efeu im Grunde eine ganz schön fiese Pflanze sein kann.

Bemerkenswert sind auch die Illustrationen und Farbtafeln von Carson Ellis, die durch die Gestaltung der Alben von „The Decemberists“, der Band ihres Mannes, bekannt wurde. Ihr Stil ist großartig und zeigt ihr deutliches Gespür für Minimalistik. Eindrücke der Illustrationen sind im Buchtrailer des Verlags zu sehen.

Wahrlich eines der schönsten Kinder- und Jugendbücher der heutigen Zeit! Wer schon erwachsen ist, liest es, vielleicht im Lehnstuhl sitzend, Kindern vor. Sobald die im Bett sind, liest man heimlich weiter – garantiert.

Wiedersehen mit der mutigen Portland-Prue

Die Fortsetzung zu „Wildwood“ ist in Amerika schon erschienen, in Deutschland ist noch kein Veröffentlichungsdatum bekannt. Sicher aber ist: Die Abenteuer gehen weiter, und es gibt ein Wiedersehen mit der kleinen, mutigen Portland-Prue. Unbedingt lesen!

Colin Meloy/Carson Ellis: Wildwood, Heyne Verlag, München, 2012, 591 Seiten, gebunden, mit sieben Farbtafeln und 30 Schwarz-weiß-Illustrationen, 19,99 Euro, ISBN 978-3453267145