Buch Wien: New York, New York

Die "Buch Wien" 2016 von oben. © LCM Fotostudio Richard Schuster
Die „Buch Wien“ 2016 von oben. © LCM Fotostudio Richard Schuster
Auch der zweite Messetag der „Buch Wien“ 2016 stand für mich erneut unter dem Eindruck von zwei herausragenden Lesungen. Zunächst stellte am Nachmittag der Schweizer Schriftsteller und Psychologe Catalin Dorian Florescu seinen bereits im Februar veröffentlichten Auswanderer-Roman „Der Mann, der das Glück bringt“ vor. Der C. H. Beck-Verlag bewirbt ihn als „Roman voller Komik und Tragik, der gleichzeitig eine literarische Reverenz an die Kraft des Menschen ist, sein Glück zu suchen und zu überleben“. Der Autor mit den rumänischen Wurzeln, 1967 wird er im westlichen Rumänien geboren, erzählt von Ray und Elena, deren Wege sich in einer dramatischen Nacht treffen. Den Leser führt der Roman sowohl ins New York des Fin-de-Siècle als auch ins magische Donaudelta.

Von dort nämlich stammt die Fischerstochter Elena. Sie ist nach New York gekommen, um die Asche ihrer Mutter zu verstreuen. Ray dagegen ist ein erfolgloser Künstler, der noch immer auf den Durchbruch hofft. Insgeheim versucht er den Lebensweg zu nehmen, den sein Großvater für sich selbst erhoffte, als der 1899 nach Amerika auswanderte. Ausgerechnet am 11. September 2001 treffen Elena und Ray zufällig in einem Kellertheater aufeinander. „Sie nutzen die Möglichkeit und Notwendigkeit, sich ihre Familiengeschichten zu erzählen und Nähe zu finden“, erklärte Florescu. Ob die Nacht damit zur Stifterin einer Beziehung werde, lasse er offen, aber sie müssten zunächst zu erzählen beginnen. Im Roman wechseln sich beide Figuren kapitelweise ab, jede Figur spricht für sich, für ihre Geschichte, aber auch für die ihrer Eltern und Großeltern.

Die Auswanderung und die Reise nach New York – immer wieder ist der Mensch in Florescus Büchern auf der Suche nach einem Platz, wo er ohne Angst und mit Würde leben kann. Sein sechster Roman scheint deshalb zur rechten Zeit zu erscheinen, denn auch jetzt sind wieder Hunderttausende auf der Flucht, um in Europa Schutz zu suchen. Damals dagegen, und das spielt in Rays Geschichte eine wesentliche Rolle, waren es Millionen aus Europa, die nach Amerika flüchteten. Hinter den Themen Flucht und Migration steht aber auch die persönliche Erfahrung des Autors, als der damals 15-Jährige im Jahr 1982 mit seiner Familie aus dem kommunistischen Rumänien floh.

Inbrünstig und mit Herzensliebe

Florescu war es deutlich anzusehen, wie sehr er seine Figuren und deren Geschichten liebt. Während er das zweite Kapitel des Buches las, in dem Elena zum ersten Mal zu Worte kommt, saß er recht weit vorne auf der Stuhlkante, dem Publikum nah, der Rücken gerade, als hebe er zum Rezitieren, nicht nur zum Vorlesen an. Wohl selten hat man einen Autor derart inbrünstig und mit Herzensliebe seinen Text vortragen sehen und hören. Vier Jahre hat er für seinen Roman recherchiert. Alles auf Englisch, sagte er und lachte, als er ein deutsches Wort versehentlich mit englischem Akzent aussprach.

Florescu sprudelt, er ist ein wahrer Erzähler, nicht nur in seinen Büchern. Die Lesung hatte noch nicht begonnen, da sprach er schon vorbeihastende Messebesucher an, sie mögen doch Platz nehmen, hier reise man nach New York. Die vorderen Plätze seien die erste Klasse, die hinteren die zweite und dritte Klasse. Er sprach davon, dass er zwar in Zürich lebt, aber in einem Multi-Kulti-Eck von Rumänien aufgewachsen sei, und dieses „Durcheinander der Kulturen“ habe auch seine Art zu schreiben beeinflusst. Florescu sieht den Künstler, den Schriftsteller als „guten Zeugen seiner Zeit“, der literarisch Zeugnis ablege, mit Gefühlen und großem Herzen. Das war ihm deutlichst anzumerken, denn dieser Autor trägt sein Herz auf der Zunge.

Catalin Dorian Florescu: Der Mann, der das Glück bringt, C. H. Beck, München, 2016, 327 Seiten, gebunden, 19,95 Euro, ISBN 978-3406691126, Leseprobe

Am Abend las nicht nur die US-amerikanische Autorin Cynthia D’Aprix Sweeney (Loriot hätte an diesem Namen seine Freude gehabt!) aus ihrem zum Bestseller gewordenen Debütroman „Das Nest“, sondern sie hatte auch noch den deutschen Schauspieler Johann von Bülow („Nach fünf im Urwald“, „Tatort“, „Mord mit Aussicht“) im Schlepptau. Der las die deutsche Übersetzung in einer Vortrefflichkeit, dass es eine Wonne war, ihm zu lauschen. Nicht umsonst hat von Bülow (der übrigens ein entfernter Verwandter von Loriot ist) die Hörbuchfassung des Romans eingelesen.

Das Buch handelt von den vier Geschwistern Melody, Jack, Bea und Leo. Sie alle sind in den Vierzigern, stehen mitten im Leben und haben immer gewusst, dass sie eines Tages erben würden. Also, sagen wir es so: sie haben damit gerechnet. Was aber, wenn die Erbschaft ausbleibt? Was geschieht mit den Träumen, die sie hatten? Was ist mit dem Geld, das sie bereits ausgegeben haben, weil sie sich zu sicher waren? Denn ihre Mutter hat das Geld kurzerhand gebraucht, um dem Playboy Leo aus einer Notlage zu helfen. Die Geschwister sind außer Rand und Band und lassen erzürnt den alten Groll untereinander wieder aufleben. Agatha Christie hätte daraus vermutlich einen Fall für Miss Marple oder Hercule Poirot gemacht. D’Aprix Sweeney aber schreibt damit den Roman einer dysfunktionalen Familie, legt genüsslich den Finger in so manche Wunde, ein bisschen böse, aber vor allem scharfsinnig und sehr humorvoll.

„Das Nest“ ist D’Aprix Sweeneys erster Roman. Im Literaturhaus Wien erzählte sie, wie sie in den späten 20er Jahren ihres Lebens eine vage Idee vom Romaneschreiben hatte. Sie sei immer eine große Leserin gewesen, habe auch Autoren und Journalisten gekannt, aber was sie selbst damals zu Papier gebracht habe, seien allenfalls halbherzige Versuche gewesen. „Ich dachte, es sei eher meine Rolle, andere Autoren zu unterstützen und zu ihren Lesungen zu gehen und ihre Bücher zu kaufen, nicht aber, selbst zu schreiben.“

Studium im kreativen Schreiben

Erst als die Kinder im College-Alter waren und die Familie nach Los Angeles zog, wollte sie eine andere Arbeit haben (zuvor hat sie 27 Jahre als PR-Beraterin in New York City gearbeitet) und versuchte es dann mit dem Schreiben. Sie nahm ein Studium im kreativen Schreiben am Bennington College auf, das sie mit dem Master of Fine Arts (MFA) abschloss. Während des Studiums begann sie bereits mit dem „Nest“. Das Wichtigste, was sie am College gelernt habe, seien das Einhalten von Abgabeterminen und Struktur gewesen. „Und eine gewisse Priorisierung im Leben, denn wenn man auch noch familiäre Verpflichtungen hat, kann das Schreiben auf der To-do-Liste ganz schnell auf dem letzten Platz landen – ich aber habe gelernt, es ganz nach oben zu setzen.“

Der Erfolg gibt ihr Recht. „Das Nest“ (der Originaltitel heißt unglaublicherweise „The Nest“ – ein Glücksgriff in der Titelübersetzung!) ist ein wahrer Verkaufshit. Seit es im Frühjahr in Amerika und nun auch auf Deutsch erschienen ist, erklimmt es die Bestsellerlisten, auch die der New York Times (Platz 3). Auch in Deutschland wird es bejubelt: „Die Amerikanerin Cynthia D’Aprix Sweeney hat einen hinreißenden und klugen Familienroman geschrieben … glänzende Unterhaltung und ein literarischer Wurf“, urteilt etwa Denis Scheck in der ARD-Sendung Druckfrisch.

D’Aprix Sweeney reagiert bescheiden, wenn sie gefragt wird, warum sie glaube, dass das Buch so einschlage. In Wien sagte sie, es sei ein Glücksfall gewesen und es treffe offenbar einen Nerv: „Dieses Buch gibt den Menschen die Möglichkeit, mit den Menschen, die sie mögen, über Geld zu reden.“ An der Schnittstelle zwischen Familien und Geld komme es unweigerlich zu Streitigkeiten, wenn die Geschwister sich nicht leiden können. „Und man muss seine Familie nicht lieben, nur weil sie Familie ist. Natürlich haben wir eine Verantwortung als Menschen, uns zu kümmern und freundlich zueinander zu sein, aber nicht nur deshalb, weil man sich die DNA teilt.“

„Tradition des zivilen Ungehorsams“

Zum Ende der Lesung sprach Moderator Klaus Nüchtern D’Aprix Sweeney auf die US-Wahl an. Für sie sei es seltsam gewesen, erklärte sie, weil sie zu der Zeit in Deutschland auf Lesereise gewesen sei. „Ich finde, etwas Schlimmes passiert in der Welt. Die Wahl von Donald Trump ist für mich sehr erschütternd, und das Ereignis hängt zusammen mit der Brexit-Entscheidung und den Hassäußerungen in Deutschland, Österreich und Frankreich. Es macht mir Angst.“ Aber: „Meine Hoffnung als US-Bürgerin und als Weltbürgerin ist, dass die Leute Angst genug bekommen, um dagegen zu protestieren und sich dem zu widersetzen. Wir haben in den USA eine Tradition des zivilen Ungehorsams, und ich hoffe, wir stehen jetzt wieder an der Schwelle dazu.“

Cynthia D’Aprix Sweeney: Das Nest, Klett-Cotta, Stuttgart, 2016, 410 Seiten, gebunden, 19,95 Euro, ISBN 978-3608980004, Leseprobe

Tomáš Sedláček und Oliver Tanzer eröffnen die Wiener Lesefestwoche

Moderatorin Renata Schmidtkunz und Tomáš Sedláček. © LCM Fotostudio Richard Schuster
Moderatorin Renata Schmidtkunz und Tomáš Sedláček. © LCM Fotostudio Richard Schuster
Der Prager Ökonom Tomáš Sedláček und der Wirtschaftsjournalist Oliver Tanzer haben am Montagabend die Wiener Lesefestwoche 2015 eröffnet. Im altehrwürdigen Stadtsenatssitzungssaal des Wiener Rathauses diskutierten die beiden mit der ORF-Moderatorin Renata Schmidtkunz über ihr neues Buch „Lilith und die Dämonen des Kapitals“ (Leseprobe). Nach Angaben des Verlags (Hanser, München) seziere es unser Wirtschaftssystem und zeige, dass es gestört und krank sei. Nicht umsonst trägt das Buch den Untertitel „Die Ökonomie auf Freuds Couch“.

Die rund eineinhalbstündige Diskussion in englischer Sprache war interessant, solange der redegewandte Sedláček sprach. Er fand populäre Vergleiche für seine Thesen einer kranken Weltwirtschaft und ihrer möglichen Therapien, wohingegen Tanzer eher ungenau formulierte und das Publikum nicht so sehr in seinen Bann schlagen konnte.

Sedláček machte deutlich, dass Wirtschaftswissenschaftler nichts anderes seien als Geschichtenerzähler: Bei Zombie- und Vampirfilmen wisse man schließlich genau, dass es keine Untoten gibt. Aber für die Dauer des Films glaube man fest daran. Auch danach sei man noch zu Tode erschrocken, wenn in der Nacht irgendwo etwas wispert oder ein Ast knackt. Der Wirtschaftswissenschaftler erschaffe ähnlich festen Glauben in den Menschen, erklärte Sedláček. Alles beginne mit einer Annahme. Angenommen, es gibt Vampire und Untote… Angenommen, die bunten Papierscheine in unseren Geldtaschen hätten unterschiedliche Geldwerte… Verliert der Glaube an die Untoten seine Macht, lache man schließlich darüber. Verliere man den Glauben an den Wert des Geldes, nenne man das Inflation.

Oliver Tanzer. © LCM Fotostudio Richard Schuster
Oliver Tanzer.
© LCM Fotostudio Richard Schuster
Zwei Jahre haben Sedláček und Tanzer an dem Buch geschrieben, erklärten sie am Montagabend. Beide lernten sich in einem der berühmtesten Wiener Kaffeehäuser kennen, dem Café Bräunerhof – ursprünglich zu einem Interview. „Wir haben das Interview nie gemacht, oder?“ fragte Sedláček seinen Mitautoren. „Doch, ich hab’s veröffentlicht“, konterte Tanzer und sorgte damit für Gelächter im Publikum. Nach dem Treffen im Bräunerhof kommunizierten sie zunächst über Whatsapp, und als die Texte immer länger wurden, seien sie schließlich auf E-Mails ausgewichen, erzählte Sedláček.

Warum man das Buch lesen sollte, „die typisch amerikanische Frage“, wie Sedláček Schmidtkunz‘ Vorstoß definierte, beantwortete vor allem Tanzer sehr gefällig: Er habe das größte Lob von seiner eigenen Mutter bekommen, die seine bisherigen Bücher nie gelesen habe. Das jetzige habe sie immerhin bis zur 255. Seite gelesen und ihm dann gesagt: „Ich habe beim Lesen über mich und mein Leben nachgedacht.“ Einen besseren Erfolg könne ein Buch wohl kaum erzielen, schloss Tanzer.

Noch bis Sonntagabend geht es bei mehr als 300 Veranstaltungen in Österreichs Hauptstadt um Bücher, Bücher und noch mehr Bücher. Am Donnerstag beginnt auch die achte Internationale Buchmesse “Buch Wien”. Dort wird am Vorabend der Schriftsteller Adolf Muschg aus der Schweiz als Festredner erwartet, der über die Zukunft des Lesens sprechen wird.

Seitengang wird in den kommenden Tagen sowohl von der Lesefestwoche als auch von der “Buch Wien” berichten.

Clemens Meyer : „Sexualität ist wie ein Überraschungsei“

DSC_0260Am Donnerstagabend las der Leipziger Kult-Autor Clemens Meyer in Wien aus seinem gefeierten Roman „Im Stein“, den er selbst als „Lebensstoff“ bezeichnet. Dabei zeigte er sich nicht nur als offener und sympathischer Interviewpartner, sondern auch als ernsthafter Vorleser des eigenen Stoffes.

„Sexualität ist wie ein Überraschungsei, nur dass es nicht ganz so gut schmeckt am Ende“, sagt Clemens Meyer in Wien. Sein Roman offenbart das Rotlichtmilieu in all seinen Facetten. „Kaum jemand unter den Schriftstellern seiner Generation weiß so viel wie Clemens Meyer“, schreibt Ina Hartwig in der Süddeutschen Zeitung. Die Feuilletonisten überschlagen sich, begeisterte Synonyme für diesen Roman, dieses Panoptikum und Sittenbild zu finden.

Der Roman erzählt nicht linear, sondern ist voller Zeitsprünge. „Mein Roman ist schwierige Literatur, auch für den Leser nicht leicht“, hat er Gerrit Bartels vom Tagesspiegel in einem lesenswerten Interview gesagt. Meyer ist ein Kunstschaffender, ein Suchender. Und er hat ein surreales Epos geschrieben, das schonungslos und dennoch mit Herz von der Subkultur der käuflichen Liebe erzählt, von Gewalt und Konkurrenz, aber auch vom Geld, das mit der Prostitution verdient wird.

Das „steinere Geschäft“ der Baulöwen

Eine Vielzahl von Gründen haben zum Titel des Buches geführt, erklärt Meyer in Wien. Zum einen versinnbildliche der Stein diese unbekannte Großstadt, in der der Roman angesiedelt ist. Rund 600.000 Einwohner seien in einem Hybrid aus Halle/Saale und Leipzig gefangen. Der „Schweinehans“ lebt teilweise in Katakomben, eine andere Figur im Krematorium. „Es ist auch der archäologische Blick – wir leben ja auch alle auf früheren Städten, und vielleicht werden auch wir irgendwann eine Schicht unter einer Stadt sein.“ „Im Stein“ meine aber auch das „steinere Geschäft“ der Baulöwen und Wohnungsvermieter.

„Wir leben in einer Zeit, in der die Gier nach dem Geld üblich ist, aber in diesem Bereich kommt plötzlich die Moral ins Spiel“, erklärt er. Das fände er interessant. Es gehe um Körper, um das Körperliche an sich, das sich zu Geld machen lasse. „So wie Badelatschen, und doch sind es keine. Ich dachte, hier kannst du mit Sprache, mit Struktur etwas zeigen, die Welt, in der wir leben.“ Auch die Geschleusten, die Geschleppten kommen im Roman vor. Clemens Meyer formuliert es so: „Die Stimmen der Frauen füllen den Stein.“

Reale Vorbilder für die Figuren gibt es indes nicht. „Es gab aber im Jahr 1998 einen Zündfunken.“ Ein Zeitungsartikel über einen Rotlichtboss in Leipzig, dem beide Beine weggeschossen worden sind. „Da habe ich gedacht: Das ist ein interessanter Fall – wenn der das überlebt und zurückkommt, ist der stärker als zuvor, ein König, fast schon von shakespeareschen Ausmaßen.“ Und trotzdem sei er nicht der Rotlichtboss seines Romans geworden. „Der würde mich auch verklagen“, sagt er und lacht. „Nein, er ist es nicht. Er hat das Buch auch gelesen und gemerkt, dass er das nicht ist.“

„Man muss viel zuhören können“

Seit 1998 hat Meyer an seinem Roman gearbeitet. Da war er Anfang 20, und der Roman trug noch den Arbeitstitel „Das Hurenhaus“. Er traf sich mit Leuten, sprach mit Frauen aus dem Gewerbe und hörte vor allem viel zu. „Man muss viel zuhören können“, wiederholt er. Erst im Jahr 2008 begann er mit dem Schreiben. „Zwischendurch habe ich dann „Gewalten“ geschrieben, weil ich mit dem „Stein“ nicht weiterkam.“

Als er am „Stein“ schrieb, war der Schreibtisch mit Notizen bedeckt, Zeitungsausschnitte und Bücher stapelten sich, rundherum standen Pinnwände. Jetzt hat er wie in einem Akt der Loslösung und der Trennung von seinen Romanfiguren alle seine Notizen und Bücher vernichtet. „Ich habe alles weggeworfen – in so eine Aschetonne und musste sogar mehrfach draufspringen“, erzählt er dem Publikum in der Wiener Hauptbücherei. Er habe sogar die Bücher weggeworfen, solche von Sexarbeiterinnen und Bordellkönigen. Milieuliteratur.

Nur zwei Bücher hat er aufgehoben: „Im Strich“, ein Buch, das in Wien spielt und „gar nicht leicht zu kriegen“ war sowie ein Callgirlführer aus München vom Anfang der 70er Jahre. „Das ist sehr schön, dieses Buch, das hat eine ganz eigene Philosophie, und früher konnte ich die Sprüche daraus auswendig.“ Außerdem habe er natürlich den „Zündfunken“ aufgehoben, den Zeitungsausschnitt, mit dem alles begann.

Jetlag in Tokio mit Whisky bekämpft

Meyer ist einer jener Schriftsteller, die an den Schauplätzen ihrer Romane gewesen sein müssen, sofern sie nicht völlig der Phantasie entspringen. Deshalb flog er 2002 nach Tokio. Er habe versucht, den Jetlag mit Whisky zu bekämpfen. „Aber der kam zurück und schlug mich wieder mehrere Stunden zurück – vielleicht hätte ich so viel trinken müssen, dass ich da angekommen wäre, wo ich herkam.“ Er lacht.

Als die Moderatorin und Standard-Kulturchefin Andrea Schurian erklärt, Meyer würden schriftstellerische Vorbilder wie Daniel Woodrell unterstellt, sagt der: „Wer? Den kenn‘ ich gar nicht.“ Uwe Johnson, Alfred Döblin, Hubert Fichte oder Wolfgang Hilbig, die hätten ihn beeindruckt. Und dann: „Wie hieß der Amerikaner?“ „Woodrell.“ „Kenn ich gar nicht!“ Er klappt sein Leseexemplar auf und notiert sich den Namen.

Seinem Lieblingsbuch von Fichte hat Meyer in seinem Roman ein kleines Denkmal gesetzt: „Ecki geht über den Naschmarkt: Der Tote Eisenbahner ist genau null Komma neun Kilometer vom Naschmarkt entfernt“, heißt es da. Bei Fichtes „Die Palette“ geht Jäcki über den Gänsemarkt. Es ist eine Huldigung an Meyers Vorbild. Und es ist einer der drei Teile des Romans, die Meyer in Wien seinem Publikum vorliest.

„Dann las ich das und dachte: Mensch, das ist ja gut!“

„Letztens habe ich ein Kapitel in meinem Buch entdeckt“, fängt er später wieder an zu erzählen. Das Publikum lacht und Meyer merkt, wie seltsam das klingt. „Ich saß in Greifswald bei einer Lesung, und der Moderator sagte, er wollte die Tokio-Szene hören.“ Da habe er erstmal suchen müssen in seinem 560 Seiten starken Buch. „Dann las ich das und dachte: Mensch, das ist ja gut!“ Man nimmt sie ihm ab, diese bescheidene Überraschung über die eigene Sprachgewalt und Kunstfertigkeit.

„15 Jahre habe ich an diesem Roman gearbeitet, es war einer meiner Lebensstoffe, das nächste Buch auch, obwohl das Thema schwieriger ist.“ Kroatisch müsse er nächstes Jahr lernen, so wie er für den „Stein“ habe BWL lernen müssen, weil eine seiner Figuren BWL studiert habe. Der neue Roman, so viel verrät er schon, werde in Kroatien spielen, an den alten Winnetou-Film-Schauplätzen und im Krieg der 90er. „Es gibt ein Kino zwischen den Fronten, das immer diese alten Filme zeigt – was man daraus machen kann, weiß ich aber noch nicht.“

Meyers erster Roman „Als wir träumten“ wird in der Zukunft auf deutschen Kinoleinwänden zu sehen sein. Regisseur Andreas Dresen („Halt auf freier Strecke“) verfilmt den Stoff derzeit, das Drehbuch stammt von Wolfgang Kohlhaase („Die Stille nach dem Schuss“). In Wien erzählt Meyer, dass er gerade erst am Set gewesen sei und seinen Hitchcock-Auftritt gehabt habe: „Ich habe einen Polizisten gespielt und meine Rolle sehr ernst genommen.“ Aber es sei schon seltsam, die Figuren seines Romans in Fleisch und Blut verkörpert zu sehen.

Bei Verfilmung am Drehbuch mitschreiben

Er habe auch schon darüber nachgedacht, „Im Stein“ verfilmen zu lassen. „Es gab eine Anfrage von einer Produktionsfirma, die eine Art amerikanische Serie daraus machen wollte.“ In jedem Fall wolle er aber bei dieser Verfilmung am Drehbuch mitschreiben, das sei ihm sehr wichtig.

„Aber jetzt ist erstmal das Buch da, das war auch schon schwierig genug. Und manchmal kann man sein Buch schon nicht mehr sehen“, sagt er und liest trotzdem noch eine Szene vor.

Der 1977 geborene Clemens Meyer ist bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Mitte November wurde bekannt, dass er für seinen neuen Roman am 27. Januar mit dem Bremer Literaturpreis 2014 ausgezeichnet wird. In diesem Jahr war er auch für den Deutschen Buchpreis nominiert, den Preis aber bekam Terézia Mora für ihren Roman „Das Ungeheuer“.

Die nächsten Lese-Termine von Clemens Meyer und weitere Informationen sind auf seiner Autoren-Homepage abrufbar. Eine Lesung von ihm ist in jedem Fall empfehlenswert. Nicht nur in Wien.

Clemens Meyer: Im Stein, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2013, 560 Seiten, gebunden, 22,99 Euro, mit Lesebändchen, ISBN 978-3100486028, Leseprobe

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