Der Schmerz der Doppelgänger

Im ersten AugenblickDer neue Roman von Grégoire Delacourt, Autor des Bestsellers „Alle meine Wünsche“, wird von den Medien fälschlicherweise nur als Liebesroman gefeiert. Die französische Tageszeitung Le Figaro etwa schreibt: „Grégoire Delacourt hat den Liebesroman neu erfunden.“ Der Atlantik Verlag druckt das Lob gleich auf den Umschlag. Doch „Im ersten Augenblick“ ist auch der bedrückende Roman einer Identitätssuche und gerade deshalb so lesenswert.

Arthur Dreyfuss ist 20 Jahre alt, macht sich als Automechaniker die Hände dreckig und wohnt allein in einem kleinen freistehenden Häuschen am Rand eines französischen Örtchens mit 687 Einwohnern. Während er eines Abends eine Folge der TV-Serie „Die Sopranos“ sieht, klopft es plötzlich an der Haustür. Als er öffnet, steht vor ihm die amerikanische Schauspielerin Scarlett Johansson.

Obwohl ihm schlagartig bewusst wird, dass er nur seinen Lieblingsfernsehaufzug, weißes Unterhemd und Schlumpf-Boxershort, anhat, bittet er sie herein. „Und welcher Mann auf der Welt, selbst in Unterhemd und Schlumpf-Boxershorts, hätte zu der phänomenalen Schauspielerin aus „Lost in Translation“ nicht „Kommen Sie herein“ gesagt?“

Müde vom Licht der Scheinwerfer

Sie gesteht dem völlig verdatterten Arthur, dass sie vom Filmfestival in Deauville geflohen sei, um ein paar Tage zu verschwinden, müde vom Licht der Scheinwerfer. Arthur entscheidet sich, die erschöpfte Schauspielerin bei sich unterzubringen. Während er sich schlaflos auf dem Ikea-Sofa im Wohnzimmer herumwälzt, schlummert Scarlett selig zwei Etagen höher in seinem Jugendzimmer unter den Postern von Michael Schumacher und der nackten Megan Fox.

Am Abend ihres dritten gemeinsamen Tages gesteht die Schönheit in Arthurs Haus schließlich, dass sie nicht Scarlett Johansson, sondern Jeanine Foucamprez heißt. Sie sieht bloß aus wie Scarlett Johansson, haargenau wie Scarlett Johansson. Und sie leidet fürchterlich unter dieser Last, denn für die Öffentlichkeit ist die Person Jeanine Foucamprez eine unsichtbare Frau. Wahrnehmbar ist nur die äußere Hülle, die Scarlett Johansson gleicht wie das eine sprichwörtliche Ei dem anderen.

Wie geht ein Mensch damit um, dass die Öffentlichkeit das eigene Ich verleugnet und es in eine andere Rolle presst? Wie verhält sich ein möglicher Partner? Liebt er den Menschen oder den äußeren Schein? Und welche Auswirkungen hat beides auf ein Liebespaar? Das sind die Fragen, die – ja, mit einer anmutigen Liebesgeschichte verwoben – in diesem sprachlich außergewöhnlichen Roman gestellt werden.

Die Zweifel bleiben

Die echte Scarlett Johansson hat ihre Rolle in der Öffentlichkeit gefunden, Jeanine Foucamprez nicht. Unfreiwilliger Doppelgänger zu sein, macht nicht nur unglücklich, sondern vor allem einsam, denn die Zweifel bleiben, ob das Gegenüber wirklich den Menschen liebt und nicht doch nur das „Sieht aus wie…“.

Die Angst vor dem Verlust der eigenen Identität und das Doppelgängermotiv finden sich immer wieder in der Literatur („Das Bildnis des Dorian Gray“, „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“). Grégoire Delacourt fügt jetzt noch ein weiteres gelungenes Beispiel hinzu, wenngleich man ihn gewiss nicht mit Oscar Wilde oder Robert Louis Stevenson gleichsetzen kann. Literarisch kann Delacourt da nicht mithalten. Eindringlich aber sind all jene Leser davor zu warnen, die aufgrund des Klappentextes und des kitschigen Umschlags nur von einer schönen, unterhaltsamen Liebesgeschichte ausgehen. Dieses Buch vermag viel mehr!

Umso unverständlicher ist es, dass Scarlett Johansson gegen dieses Buch vor Gericht gezogen ist. Der Roman verletzte und nutze betrügerisch ihre Persönlichkeitsrechte aus. Johansson verlangte nicht nur 50.000 Euro Schadensersatz, sondern wollte auch erreichen, dass keine weiteren Rechte an dem Buch verkauft werden, es also zum Beispiel nicht verfilmt werden könnte. Johanssons Anwälte vertraten die Auffassung, Delacourt habe die Person Scarlett Johansson dafür missbraucht, seinen Roman aufzuwerten und zu einer Sensation zu machen.

„Archetyp der heutigen weiblichen Schönheit“

Delacourt war sprachlos, als er davon erfuhr. Er erklärte laut der britischen Tageszeitung The Guardian, er habe Scarlett Johansson ausgewählt, weil sie der „Archetyp der heutigen weiblichen Schönheit“ sei. Seine Hauptperson aber sei Jeanine Foucamprez, nicht Johansson. Es ist also mehr eine Hommage an die amerikanische Schauspielerin – die aber in Übersee nicht verstanden wurde. Vielleicht auch deshalb nicht, weil der Roman zum Zeitpunkt des Prozesses noch nicht ins Englische übersetzt worden war und Johansson ihn deshalb noch nicht gelesen habe, wie Delacourt in einem kurzen Interview mit der franzözischen Tageszeitung Le Figaro erklärte.

„Wenn ein Autor nicht mehr die Dinge erwähnen kann, die uns umgeben, eine Biermarke, ein Denkmal, einen Schauspieler … dann wird es kompliziert, Romane zu schreiben“, sagte Delacourt weiter. Das Problem daran ist: Marken haben einen Marktwert, und Hollywoodschauspieler haben den auch. Bei dem Prozess in Paris ging es also auch darum, welchen Wert die Marke Johansson hat. Den Gefallen tat das Gericht der Schauspielerin allerdings nicht: Delacourt und sein Verlag müssen 2.500 Euro Schadensersatz bezahlen und 2.500 Euro Anwaltskosten übernehmen. Die Rechte blieben unerwähnt.

Ironischerweise wäre es in Johanssons Heimatland gar nicht zum Prozess gekommen, erklärte der New Yorker Anwalt Lloyd Jassin gegenüber dem amerikanischen Nachrichtenmagazin „Time“. Dort ist die Garantie der Meinungsfreiheit im 1. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten („First Amendment“) unantastbar. In Europa aber, sagte Jassin, würden Persönlichkeitsrechte „sehr viel ernster“ genommen – für Johansson die beste Gelegenheit, sich darauf zu berufen und ein wenig Geld einzuheimsen.

Im Interview mit dem Figaro scherzte Delacourt: „Ich dachte, sie könnte mir Blumen schicken, weil es eine Liebeserklärung für sie war, aber sie wollte es nicht verstehen.“ Und weiter: „Sie beschwert sich über das, was ich sage, das ist ein wenig paradox, aber der Prozess ist schließlich sehr amerikanisch.“

Grégoire Delacourt: Im ersten Augenblick, Atlantik Verlag, Hamburg, 2014, 206 Seiten, gebunden, 17,99 Euro, ISBN 978-3455600018, Leseprobe

Hugo oder: Die Magie des frühen Films

Paris im Jahr 1931: Hugo Cabret ist ein wundersamer Junge, der versteckt hinter den dicken Mauern des Bahnhofs Montparnasse lebt. Wenn er nicht gerade die Bahnhofsuhren aufzieht, auf dass sie weiterlaufen können, tüftelt er an einem Geheimnis, das er von seinem Vater übernommen hat: Der mechanische Mann.

Hugos Vater war Uhrmacher und arbeitete neben seinem Hauptgeschäft in einem Museum. Dort entdeckte er auf dem Dachboden den mechanischen Mann und erzählte seinem Sohn von dem Wunderwerk, wie er ihm auch von den Anfängen des Kinos erzählte. Es war die Zeit, als die Pioniere der Filmgeschichte die Idee der Kinos gebaren. Doch Hugos Vater fiel eines Tages einem tragischen Brand im Museum zum Opfer, und Hugo barg später als letzte Verbindung zum Vater den mechanischen Mann aus den Trümmern.

Fortan sollte er in der Obhut seines Onkels Claude bleiben und ihm helfen, die Bahnhofsuhren zu kontrollieren und aufzuziehen. Er lernte, wie man durch das alte Gemäuer kletterte, wie die Uhren funktionierten und wie sie zu reparieren waren. Er lernte aber auch, wie man stahl, denn bei Onkel Claude gab es kaum etwas zu essen. Bald überließ Onkel Claude seinem Neffen gänzlich die Aufgabe, nach den Uhren zu sehen. Er selbst blieb oft stundenlang weg und roch nach seiner Rückkehr nach Alkohol. Und dann kam der Tag, an dem Onkel Claude gar nicht mehr wiederkam. Und obwohl Hugo wusste, dass das Spiel gefährlich war, blieb er im Bahnhof, kontrollierte die Uhren, holte die Gehaltsschecks seines Onkels ab und hielt sich ansonsten hinter den Mauern versteckt – niemand sollte bemerken, dass sein Onkel nicht mehr da war. Denn jetzt konnte Hugo sich dem mechanischen Mann widmen.

„‚Reparier ihn.‘ Als er den Automaten ansah, glaubte er nicht, dass er es schaffen würde. Der mechanische Mann war in weitaus schlimmerem Zustand als vorher. Doch Hugo hatte noch das Notizbuch seines Vaters. Vielleicht konnte er ja die Zeichnungen seines Vaters als Anleitung benutzen, um die fehlenden Teile nachzubauen.“

Damit beginnt die Geschichte um den mechanischen Mann und ein noch viel faszinierenderes Geheimnis, dem Hugo auf die Spur kommen wird. Und er ist nicht allein: ein belesenes Mädchen mit einem seltsamen Schlüssel hilft ihm bei der Suche nach dem verborgenen Geheimnis seines Vaters und des mechanischen Mannes.

„Die Entdeckung des Hugo Cabret“ von Brian Selznick lässt sich mit Recht als eines der schönsten Kinder- und Jugendbücher bezeichnen, denn hier verweben sich Wort und Bild auf eine unnachahmliche Art und Weise. Textpassagen wechseln sich mit illustrierten Seiten ab, doch die Illustrationen begleiten nicht nur die Geschichte – sie führen sie fort. Es ist, als flimmere ein Film vor den Augen des Lesers. Dabei sind die Kohlezeichnungen teilweise sehr detailliert, doch Zeit zum Verweilen bleibt kaum, denn die Spannung lässt den Leser unentwegt nach der nächsten Seite greifen. Der New-York-Times-Illustrator Selznick hat hier wahrlich ein eindrucksvolles Buch geschaffen, das in einer Verfilmung von Martin Scorsese jetzt auch in den deutschen Kinos angelaufen ist. Der Film ist für insgesamt elf Oscars nominiert und gilt als einer der Hauptfavouriten. Für zehn Oscars nominiert ist zudem der Stummfilm „The Artist“ – es scheint, als träfe die Hommage an die Anfänge des Films einen Geschmack. Scorsese sagt in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit: „Das alte Kino des Zelluloids verschwindet, das bewegte Bild verändert sich grundlegend durch neue Techniken. Aber erzählt wird immer noch eine Handlung in bewegten Bildern. Und ich bin ganz sicher, dass eines immer bleiben wird: das tiefe, fast archaische Bedürfnis, mit einer Gruppe von Menschen gemeinsam in einem Raum eine Geschichte erzählt zu bekommen.“

Das hätte ein schönes Schlusswort für eine Rezension geben können, doch es ist noch etwas anzufügen. So wunderschön dieses Buch ist, so vergriffen ist es in der gebundenen Ausgabe leider auch. Im cbj-Verlag ist im Jahr 2010 die aktuelle Taschenbuchausgabe erschienen, die gebundene jedoch wurde bis jetzt nicht wieder aufgelegt. Das ist wahrlich schade und unbegreiflich. Vielleicht aber kann der eine oder andere Oscar-Erfolg den Verlag dazu bringen, das Buch auch in der gebundenen Ausgabe wieder auf den Markt zu bringen. Bis dahin steht die Wahl zwischen einem Taschenbuch aus der Buchhandlung oder einem Hardcover aus dem Antiquariat.

Brian Selznick: Die Entdeckung des Hugo Cabret, cbj-Verlag, München, 2008, 544 Seiten, gebunden, derzeit vergriffen, ISBN 978-3570133002;
als Taschenbuchausgabe: cbj-verlag, München, 2010, 544 Seiten, Taschenbuch, 12,95 Euro, ISBN 978-3570221181

Update: Sowohl „The Artist“ als auch „Hugo“ räumten bei der Oscar-Verleihung 2012 jeweils fünf Oscars ab, Scorseses Film jedoch nur in den Nebenkategorien.

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