Die Mode- und Porträtfotografin Kerstin Ehmer hat sich in Berlin besonders wegen ihrer „Victoria Bar“ einen Namen gemacht. Seit 2001 führt sie mit ihrem Mann diesen Hort für alle Connaisseure der gepflegten und ernsthaften Trinkkultur. Jetzt hat sie ihren ersten Kriminalroman geschrieben. „Endlich!“, möchte man rufen, denn was Ehmer da unter dem Titel „Der weiße Affe“ vorgelegt hat, ist ein wahrlich kluges und raffiniertes Kriminalstück aus der Zeit der Weimarer Republik, sprachlich umwerfend dazu.
Der junge Kommissar Ariel Spiro ist soeben aus dem brandenburgischen Wittenberge nach Berlin gezogen. Noch nicht einmal seinen Koffer kann er auspacken, da ermittelt er schon in seinem ersten Fall in dieser berauschenden Großstadt. Der jüdische Bankier Eduard Fromm liegt mit eingeschlagenem Kopf auf der Stiege im Hinterhaus, kurz vor der Tür seiner Geliebten. Mund offen, Blick starr geradeaus, als habe ihn der Schlag getroffen.
Kurz zuvor hatte er noch seine Hilde besucht. Viermal in der Woche kam er und war der ehemaligen Tänzerin ein Gönner und Geliebter. Hatte ihr nach seinen peniblen Vorstellungen die Wohnung eingerichtet und ein ganz besonderes Schmuckstück als Dauerleihgabe gebracht: einen weißen Porzellan-Affen. Und allzu gern überfraß der Bankier sich an Schweinewürsten, erzählt man sich.
Zeit der nationalsozialistischen Emporkömmlinge
Nicht nur Spiro ist bass erstaunt, sondern auch Fromms Ehefrau Charlotte, eine zartgliedrige Konzertpianistin, sowie die beiden Kinder Ambros und Nike, beide nicht weniger anmutig. Spiro, der sonst immer wieder betont, er sei kein Jude – seine Mutter habe Shakespeare verehrt, Lieblingsstück „Der Sturm“, und Ariel ein Luftgeist – verschweigt das vor der Familie geflissentlich. Es ist die Zeit, wo mit den nationalsozialistischen Emporkömmlingen auch der Antisemitismus erstarkt. Spiro ist kein Antisemit; er erhofft sich mehr Offenheit, wenn die Familie glaubt, auch er sei Jude.
Spiro verfolgt so manche falsche Fährte, die ihn tief in den Morast der zwanziger Jahre der deutschen Hauptstadt bringt, in die Bars und Spelunken, auf die grellen Prachtstraßen und in die finsteren Gassen mit ihrem löcherigen Kopfsteinpflaster. „Diese Stadt ist ein Sumpf“, sagt ihm ein Kollege der Berliner Polizei. „Wo immer Sie hier hintreten, Spiro, da ist Modder.“
Eine Schönheit par excellence
Kerstin Ehmer vermag diesen Modder und Zauber der Großstadt und der damaligen Zeit so grandios einzufangen, dass es eine Freude ist. Trotz düsterem Sujet sind die Worte, ist die Sprache eine Schönheit par excellence. Schon der Duktus führt den Leser in die damalige Zeit. Die Phantasie eines jeden tut ihr übriges.
Die Figuren sind bis in die Nebenrollen hervorragend besetzt. Spiros Mitbewohner Jack etwa, den man sich wirklich ans Herz liest, arbeitet in der Bar „La Cocotte“ und nennt einen Hund namens „Erbse“ sein Eigen. Oder die grünäugige Bankierstochter Nike, der Spiro blauäugig verfällt, die Medizin studiert und nebenbei als Sexualtherapeutin im berühmten Hirschfeld-Institut arbeitet. Und dann sei auch noch die rätselhafte Figur erwähnt, der wir in kursiv gesetzter Schrift dann und wann folgen, einem Kind, das unter Drogen gesetzt irgendwo in Berlin in einem Verschlag sein Leben fristet und 14 Jahre keine Schule von innen gesehen hat.
Eine Fährte, eine Fährte!
Dieser Fall, dieser Roman ist spannend gewoben, fürwahr – und man darf nicht mehr erzählen, um nicht Gefahr zu laufen, zu viel zu verraten. Sie wollen wissen, was es mit dem titelgebenden weißen Affen auf sich hat? Eine Fährte, eine Fährte. Wie so viele!
Die Zeit der Goldenen Zwanziger findet seit einigen Jahren wieder zurück in die heutige Kultur. Maßgeblichen Anteil daran hat Volker Kutscher mit seinen Romanen um den Kriminalkommissar Gereon Rath. Ihm folgten etwa eine ebenso lesenswerte Graphic-Novel-Bearbeitung von Arne Jysch sowie die gefeierte Serien-Adaption „Babylon Berlin“. Kerstin Ehmers Krimi sollte man jedoch nicht als kleinen Nachen sehen, der im Fahrwasser von Kutschers Romanen im Landwehrkanal dümpelt. „Der weiße Affe“ schlägt seine ganz eigenen Wellen. So sehr, dass wir am Ende nur hoffen und bitten, dass Ariel Spiro zurückkommen möge und „Der weiße Affe“ der phänomenale Auftakt einer neuen Krimi-Reihe ist. Darauf einen Charleston!
Kerstin Ehmer: Der weiße Affe, Pendragon Verlag, Bielefeld, 2017, 280 Seiten, broschiert, 17 Euro, ISBN 978-3865325846, Leseprobe
Seitengang dankt dem Pendragon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.