Die Vergessenen um Stauffenberg

Stauffenbergs GefährtenDer Widerstand gegen den Nationalsozialismus ist eng verknüpft mit dem Namen Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Unerwähnt bleiben oft all jene Verschwörer aus dem weiteren Umfeld. Die einstige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags Antje Vollmer und der „Welt“-Redakteur Lars-Broder Keil haben jetzt zehn dieser nahezu unbekannten Widerstandskämpfer eindrucksvoll und sehr nahegehend porträtiert. Ein Buch, das Sie gelesen haben sollten.

Das Umschlagfoto des Buches „Stauffenbergs Gefährten“ zeigt einen jungen Mann, einsam und mit nachdenklichem Blick in verschneitem Gebirge sitzend, festgehalten auf einer Schwarz-Weiß-Fotografie. Der junge Mann ist Friedrich Karl Klausing, junger Offizier und späterer Hauptmann und Widerstandskämpfer. Beim Hochverratsprozess im August 1944 vor dem Volksgerichtshof wird er der mit Abstand jüngste Angeklagte aus dem Kreise Stauffenbergs sein. Sein kurzer Abschiedsbrief („So fragt nicht mehr nach mir, sondern laßt mich damit ausgelöscht sein“), mit dem er seine Familie zu schützen versucht und der in dem von Vollmer verfassten Porträt veröffentlicht ist, erreicht die Eltern erst, als der 24-Jährige bereits hingerichtet worden ist.

Berührend veranschaulicht Vollmer, wie gerade Klausing einen einsamen Weg als Verschwörer einschlug. Seine Familie hatte die nationalsozialistische Karriereleiter genutzt. Vor allem der Vater war ein überzeugter Nationalsozialist und Hitler-Verehrer, der unter der Besetzung Prags Rektor der Karls-Universität wurde. Im Elternhaus konnte der junge Klausing also nicht mit Verständnis rechnen. Umso beklemmender ist für den Leser ein vom Vater an den Sohn gerichteter Brief, den dieser nicht mehr erhält. Glücklicherweise, muss man sagen, denn er ist unbelehrbar ideologisch getränkt. Der Vater begeht schließlich Selbstmord, weil er glaubt, er müsse die Ehre der Familie retten.

„Einsam in der Familie, einsam unter Freunden“

Bei der Vorstellung des Buches auf der Leipziger Buchmesse 2013 erklärte Vollmer, warum sie sich bei der Foto-Auswahl für den Buchumschlag ausgerechnet für Klausings Foto entschieden haben: „Das Foto zeigt am besten die Einsamkeit der Verschwörer, denn wer zu so einer Gruppe gehörte, war einsam, einsam in der Familie, einsam unter Freunden – und so ein Attentat machte man auch nicht im Auftrag des deutschen Volkes.“

Es ist eine wichtige Sammlung von Porträts, die Vollmer und Keil vorgelegt haben. Sie räumt auch auf mit der umstrittenen Figur des Hans Bernd Gisevius. Er ist einer der Überlebenden des 20. Juli und Autor des Buches „Bis zum bitteren Ende“, das nach dem Krieg vernichtend und aus sehr subjektiver Sicht über den Stauffenberg-Kreis berichtete – ohne dass sich seine Mitstreiter gegen diese fatale Darstellung der Ereignisse noch hätten wehren können. Die Erklärung, die Vollmer findet, ist so nachvollziehbar wie bitter.

Die beiden Autoren sind bei ihrer Arbeit umfangreich unterstützt worden. „Wir haben teilweise sehr private Aufzeichnungen zu sehen bekommen, vor allem Briefe und Tagebücher, Dokumente also, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, und das hat uns sehr dankbar gemacht“, erklärte Vollmer nachdrücklich im März 2013 in Leipzig. So konnte nicht nur eine Annäherung an die unbekannten Gefährten Stauffenbergs entstehen, sondern eine intensive Beschäftigung mit ihrem Handeln, ihren Beweggründen und dem Schicksal ihrer Familien.

Interesse in der Nachkriegszeit gering

„Uns ging es weniger um eine Neuschreibung des Staatsstreichversuchs, sondern vielmehr darum, das Handeln der Beteiligten erlebbarer, verständlicher, emotionaler zu zeichnen – ohne dabei das historische Geschehen aus den Augen zu verlieren“, heißt es im Vorwort. Den Autoren gelingt es damit auch, den Hinterbliebenen endlich zu ermöglichen, woran sie lange Zeit gehindert waren: über ihre Ehemänner und Väter zu sprechen. Denn das Interesse an den Widerstandskämpfern und ihrer Geschichte war in der Nachkriegszeit mehr als gering.

Als Gastautorin konnten Vollmer und Keil die Historikerin Elisabeth Raiser, geb. von Weizsäcker, gewinnen, die ein berührendes Porträt über Margarethe von Oven verfasste. Von Oven arbeitete im Sommer 1943 als Büroleiterin im Heeresamt und tippte die Worte „Der Führer Adolf Hitler ist tot“, mit denen die Aktion „Walküre“ ausgelöst werden sollte. Das Porträt beleuchtet auch sehr eindrucksvoll, woher sie den Mut nahm und unter welcher Anspannung sie bis zum 20. Juli lebte.

Diese Porträts sind vortrefflich geschrieben. Ihre Emotionalität ist derart nahegehend, dass man sich immer wieder mit der Frage konfrontiert sieht: Hätte ich auch so gehandelt? Hätte ich selbst diesen Mut aufgebracht, nicht nur mein Leben zu riskieren, sondern auch das meiner Familie, meiner Freunde und Mitverschwörer?

„Zivilcourage noch immer etwas Notwendiges“

Karl Heinz Bohrer, Professor für Literaturwissenschaft und ehemaliger Herausgeber der Kulturzeitschrift „Merkur“, hielt am 20. Juli 2013 in Berlin die zentrale Gedenkrede zur Erinnerung an die Widerstandskämpfer. In seinem außergewöhnlichen Text zum Thema „Warum wir die Helden des 20. Juli nicht verstehen“ sagte er:

„Je länger die Zeit wird, in der wir uns von dem Tag, der als 20. Juli 1944 auf unserem historischen Kalender steht, zeitlich entfernen, desto mehr ist das Beispielhafte der Verschwörer jenes Tages zu begründen und zu erinnern. Sie selbst verstanden ihr Beispiel noch im Sinne eines symbolischen Ehrenkodex – sei er christlich-humanistisch oder preußisch-aristokratisch gewesen. (…) In einer so gefahrlosen, aber auch den Konformismus begünstigenden Gesellschaft wie der unseren – seit dem Attentat so friedfertigen Epochen –, ist die Zivilcourage noch immer etwas Notwendiges, wenn auch inzwischen Außergewöhnliches geworden. Um wie viel mehr die existentielle.“

Dem ist nichts hinzuzufügen. (Die Rede ist hier online abrufbar.)

Beide Autoren, sowohl Antje Vollmer als auch Lars-Broder Keil, haben sich wiederholt mit dem Widerstand gegen das Nazi-Regime auseinandergesetzt. Von Vollmer erschien zuvor eine von der Kritik begeistert aufgenommene Doppelbiografie über das Paar Heinrich und Gottliebe von Lehndorff, das ebenfalls zu den Mitwissern im Stauffenberg-Kreis gehörte.

Vollmers und Keils erstes gemeinsames Buch ist unbestreitbar eines der wichtigsten Bücher des Jahres 2013. Lesen Sie es!

Antje Vollmer / Lars-Broder Keil: Stauffenbergs Gefährten. Das Schicksal der unbekannten Verschwörer, Hanser Verlag, Berlin, 2013, 256 Seiten, gebunden, 19,90 Euro, ISBN 978-3446241565

Von der Lesung zum Politgespräch: Gorbatschow und Genscher in der Peterskirche in Leipzig

Schlange stehen für Gorbatschow
Schlange stehen für Gorbatschow
Es war die bewegendste Veranstaltung der Leipziger Buchmesse 2013: In der mit mehr als 1.500 Menschen besetzten Peterskirche traf Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher am zweiten Messetag auf Michail Gorbatschow, den früheren Präsidenten der Sowjetunion. Gorbatschow war zur Buchmesse gereist, um dort seine Memoiren „Alles zu seiner Zeit. Mein Leben“ vorzustellen. Am Vormittag hatte er zwei Termine auf der Buchmesse wegen Erschöpfung kurzfristig absagen müssen. Umso mehr herrschte am Nachmittag großes Interesse in der Stadt, in der 1989 durch die Montagsdemonstrationen die Friedliche Wende begann.

Bereits zwei Stunden vor Beginn der Veranstaltung standen die Menschen bei Temperaturen um den Gefrierpunkt vor der Kirche Schlange. Der Andrang war größer, als die Pfarrkirche Platz bot, so dass viele Besucher draußen bleiben mussten. Moderiert wurde das Gespräch zwischen Genscher und Gorbatschow von Theo Sommer, dem ehemaligen Herausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“, der zu Beginn die Worte sprach, die während der nächsten Stunde gelten sollten: „Das ist ein sehr bewegender Moment, vor allem hier in Leipzig.“ Als Gorbatschow schließlich das Podest betrat, hielt es die Menschen nicht mehr auf ihren Stühlen. Anhaltend klatschten sie Beifall, applaudierten einem sichtlich geschwächten Mann.

Einen beträchtlichen Teil seiner Memoiren nehmen die Erinnerungen an seine geliebte Frau Raissa ein, die 1999 in Deutschland ihrem Krebsleiden erlag. „Sie war eine Frau, die ich über alles liebte, und ich hoffe, dass sie das auch empfand“, antwortete Gorbatschow, als Sommer zu Beginn nach Raissas Bedeutung fragte. „Jeden Tag denke ich daran, dass sie nicht mehr da ist.“ Dann fügte er hinzu: „Raissa hat die Belastungen und Prüfungen, die uns zuteil wurden, einfach nicht ausgehalten – sie ist daran zerbrochen.“ Gemeint sind die Anfeindungen, denen er sich nach seinem Rücktritt als Präsident gegenübersah, weil viele Menschen in Russland der Meinung waren, er habe zum Zerfall der Sowjetunion beigetragen. In seiner Autobiographie geht der ehemalige Kreml-Chef deshalb der Frage nach, ob er den Tod seiner Frau hätte verhindern können.

Der Schlüssel liegt in Moskau

Die deutsche Wiedervereinigung war das beherrschende Thema in der Peterskirche. „Wir können jetzt sagen: Alles ist gut gelaufen“, erklärte Gorbatschow, „aber vorher haben wir uns Sorgen gemacht, wie man das alles löst. Wir mussten die Sowjetunion verändern und den Bürgern zeigen, was Offenheit („Glasnost“) bedeutet – wie viel mussten wir uns streiten! Alles war in Aufruhr, Veränderungen waren überall im Gange, wie sollte Deutschland da abseits bleiben?“ Natürlich habe Deutschland die deutsche Frage klären wollen, und irgendjemand habe gesagt, der Schlüssel dazu liege in Moskau, erinnerte sich Gorbatschow.

Hans-Dietrich Genscher war deutscher Außenminister, als er Gorbatschow zum ersten Mal traf. In Leipzig erzählte Genscher, dass der französische Staatspräsident François Mitterrand ihm vorher erklärt habe, Gorbatschow sei völlig anders als alle, die er bisher kannte. „Der liest ihnen nicht wie Breschnew alles vor“, habe Mitterand gesagt. Daraufhin habe sich Genscher ganz besonders auf das erste Treffen vorbereitet. „Danach habe ich zu meinem Mitarbeiter gesagt: Wenn der das alles schafft, was er vorhat, verändert er die Welt. Heute kann ich sagen: Er ist ein großer Staatsmann unserer Zeit, und als diesen schätze ich ihn.“

Gorbatschow erwiderte: „Ich halte ihm sehr zugute, dass er mir vertraut und sich für mich stark gemacht hat.“ Als erster westlicher Staatsmann hatte Genscher gesagt, man solle Gorbatschow ernst nehmen. Gorbatschow: „Die ganze Entwicklung war mühevoll, und es war unsere gemeinsame Leistung, was wir geschafft haben.“ Das Publikum antwortete mit Applaus.

„Wer zu spät kommt, den bezahlt das Leben“

Der Friedensnobelpreisträger, der das Ende des Kalten Krieges einleitete, wird immer wieder gerne mit dem Spruch zitiert „Wer zu spät kommt, den bezahlt das Leben“. Moderator Theo Sommer versuchte, in der Peterskirche nun endlich Licht in das Dunkle zu bringen, was mit diesem Zitat denn gemeint sei. Gorbatschow erklärte, er habe bei den Feierlichkeiten zum 40-jährigen Bestehen der DDR mit Erich Honecker über das Programm „Perestroika“ („Umgestaltung“) gesprochen und ihm dazu gesagt, wer hinter den Herausforderungen der Zeit hinterherlaufe, der werde bestraft.

Der Mauerfall aber, sagte Gorbatschow deutlich, sei erst durch das deutsche Volk möglich gewesen, gerade in Leipzig: „Eben hier in dieser Stadt fielen die Worte „Wir sind ein Volk“, und diese Worte wurden überall vernommen.“ 300.000 Soldaten seien zu dem Zeitpunkt auf deutschem Boden gewesen, aber sie hätten ihre Kasernen nicht verlassen – „es fiel kein Schuss“. Erneut lang anhaltender Applaus. Doch Theo Sommer ließ nicht locker und fragte nach, ob es im Kreml nicht doch auch Stimmen gegeben habe, die Panzer rollen zu lassen. Darauf reagierte Gorbatschow aber ganz entspannt: „Es wurde viel diskutiert, aber wenn man jetzt mit einem Spaten Geheimnisse ausgraben will, sollte man mit ihm lieber einen Baum pflanzen. Wir können doch alle stolz darauf sein!“

Dass man sich für den Frieden einsetzen müsse, habe er in der Zeit des Zweiten Weltkriegs sowie in den Jahren danach gelernt. Gorbatschow, dessen Eltern Bauern in einem Kolchos waren, hat fünf Monate unter deutscher Besetzung gelebt. „Um uns herum geschahen schreckliche Sachen: In einem Vorort wurden Zehntausende unserer Bürger in einer Schlucht erschossen, das bekamen wir alles mit.“ Als Gorbatschow zum Jurastudium nach Moskau fuhr, hielt der Zug immer im zerstörten Stalingrad. „Ich bin dort oft für einige Stunden ausgestiegen – es sah verheerend aus, aber aus der kurzen Zeit habe ich gelernt, dass man sich für den Frieden einsetzen muss. Und es ist ja schon wieder im Gange. Wir müssen das Wettrüsten verhindern!“

Forderung nach Abrüstung

Genscher pflichtete ihm bei: „Wir dürfen jetzt nicht stehenbleiben, wir können die Waffen am besten beherrschen, wenn wir sie vernichten!“ Und: „Wann werden die atomaren Vernichtungswaffen abgeschafft? Das ist wichtig zum Überleben der Menschheit.“ Das Gespräch, das ursprünglich der Vorstellung der Gorbatschow-Memoiren dienen sollte, wurde mehr und mehr zu einer offenen Forderung beider Staatsmänner nach Abrüstung. Schon vorher hatte Genscher an die doppelte Nulllösung zwischen den USA und der Sowjetunion erinnert: „Eine ganze Generation von Raketen wurde beseitigt, aber wir sollten nicht über Geschichte reden, sondern die nächste Generation beseitigen.“

Als Theo Sommer schließlich den früheren Präsidenten der Sowjetunion fragte, was er sich derzeit von Deutschland wünsche, antwortete der nur verschmitzt: „Das ist ein Thema für mein nächstes Buch.“ Und brachte damit ein überaus gelungenes Gespräch und einen sehr bewegenden Nachmittag zu einem Abschluss.

Michail Gorbatschow: Alles zu seiner Zeit. Mein Leben, Hoffmann und Campe, Hamburg, 2013, 546 Seiten, gebunden, 24,99 Euro, ISBN 978-3455502763

Leipziger Buchmesse 2013: „Stauffenbergs Gefährten“

DSC_0028Im ARD-Hörbuch-Forum der Leipziger Buchmesse waren am Freitagmittag Antje Vollmer und Lars-Broder Keil zu Gast. Die beiden sprachen über ihr gemeinsames Buch „Stauffenbergs Gefährten: Das Schicksal der unbekannten Verschwörer“, das jetzt im Hanser Verlag Berlin erschienen ist. Stauffenberg ist der Name, der mit dem Attentat vom 20. Juli 1944 verbunden ist, die meisten anderen Helfer bleiben stets unerwähnt, ja, gar unbekannt. In zehn Porträts stellen die beiden Autoren einige dieser unbekannten Widerstandskämpfer vor, beschreiben deren Handeln, Beweggründe und das Schicksal ihrer Familien.

Im Gespräch erläuterte Vollmer zunächst, warum sie ausgerechnet ein Foto des jungen Offiziers Friedrich Karl Klausing zum Titelfoto wählten: „Das Foto zeigt am besten die Einsamkeit der Verschwörer, denn wer zu so einer Gruppe gehörte, war einsam, einsam in der Familie, einsam unter Freunden – und so ein Attentat machte man auch nicht im Auftrag des deutschen Volkes.“ Auf der Fotografie aus den 40er Jahren sitzt Klausing allein im Gebirge. Das Foto entstand während einer Winterkampfübung seines Ausbildungslehrgangs auf der Trögel-Hütte in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen, wie aus dem Vorwort des Buches zu erfahren ist.

Zehn Personen haben Antje Vollmer und Lars-Broder Keil aus dem Kreis oder näheren Umfeld jener Männer porträtiert, die einen Staatsstreich zur Entmachtung des NS-Regimes planten, der mit dem Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 seinen Anfang nehmen sollte. „Von diesen zehn Personen konnten wir noch mit zwei interessanten Zeitzeugen sprechen, zum einen mit Richard von Weizsäcker, der viele der Verschwörer persönlich kannte, zum anderen aber auch noch mit Ewald Heinrich von Kleist, dem letzten Überlebenden der Aktionen im Bendlerblock“, erklärte Keil. Noch im vergangenen Jahr führten die Autoren ein langes Interview mit von Kleist, das nun in das Buch eingeflossen ist. Vor wenigen Tagen (8. März 2013) starb von Kleist im Alter von 90 Jahren in München.

Dass die Männer um Stauffenberg tatsächlich unbekannt sind, zeigt ein Beispiel, das Vollmer nannte: Als im Jahr 2008 Philipp von Boeselager starb, habe Frank Schirrmacher in der FAZ geschrieben, der letzte überlebende Beteiligte des Hitler-Attentats sei gestorben. „Es war also völlig unbekannt – sogar in den deutschen Feuilletons -, dass es mit von Kleist noch einen weiteren Überlebenden gab.“

Die Familien der Widerstandskämpfer haben die Autoren bei ihrer Arbeit immens unterstützt. „Wir haben teilweise sehr private Aufzeichnungen zu sehen bekommen, vor allem Briefe und Tagebücher, Dokumente also, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, und das hat uns sehr dankbar gemacht“, erklärte Vollmer nachdrücklich. Es habe zwar schon einige Bücher über den Stauffenberg-Kreis gegeben, aber nie habe man sich die Mühe gemacht, auch die Familien anzusehen. Bei einigen Porträts war es sogar notwendig, falsche historische Einschätzungen zu korrigieren. Als Beispiel nannte Vollmer den Nachrichten-General Erich Fellgiebel, der gerade auch in der Hollywood-Verfilmung mit Tom Cruise völlig falsch dargestellt werde.

Eine Rolle der zehn Porträtierten nannte Vollmer „ganz unheimlich“: Hans Bernd Gisevius. Sein nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichtes Buch „Bis zum bitteren Ende“ habe das Bild des 20. Juli ganz fatal geprägt.

„Unser großer Wunsch ist es, dass unser Buch in Schulklassen gelesen wird, und jeder Schüler sich ein Porträt vornimmt, um zu begreifen, was diese Menschen für ihre Tat gewagt haben – da kommt man näher ran, als durch irgendwelche Feiern“, sagte Vollmer abschließend und erntete Applaus vom Publikum.

Beide Autoren, sowohl Antje Vollmer, als auch Lars-Broder Keil, haben sich wiederholt mit dem Widerstand gegen das Nazi-Regime auseinandergesetzt. Von Vollmer, einst Bundestagsabgeordnete für Bündnis 90/Die Grünen und von 1994 bis 2005 amtierende Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, erschien zuletzt eine von der Kritik begeistert aufgenommene Doppelbiographie über das Paar Heinrich und Gottliebe von Lehndorff, das ebenfalls zu den Mitwissern im Stauffenberg-Kreis gehörte.

Lars-Broder Keil arbeitet als Redakteur im Ressort Innenpolitik der Welt und hat im vergangenen Jahr mit seinem Kollegen Sven Felix Kellerhoff den Fall Peter Fechter aufgearbeitet.

Antje Vollmer / Lars-Broder Keil: Stauffenbergs Gefährten. Das Schicksal der unbekannten Verschwörer, Hanser Verlag, Berlin, 2013, 256 Seiten, gebunden, 19,90 Euro, ISBN 978-3446241565

Bombenalarm? Ingeborg Bachmann liest weiter

Es ist in diesen Tagen 67 Jahre her, dass die damals 18-jährige Ingeborg Bachmann einen jüdischen Soldaten der Britischen Armee kennenlernte. Im Jahr 2010 veröffentlichte der Suhrkamp Verlag erstmals das Kriegstagebuch der späteren Schriftstellerin sowie die erhaltenen Briefe des überaus verliebten Soldaten Jack Hamesh. Was für eine Entdeckung!

„Nein, mit den Erwachsenen kann man nicht mehr reden“, schreibt die junge Ingeborg Bachmann gegen Ende des Zweiten Weltkriegs bitter in ihr Tagebuch. Unverhohlen sprechen ihre Worte von der Abneigung gegenüber der nationalsozialistischen Weltanschauung und Gesinnung. Bachmann schreibt von den letzten Monaten des Krieges und der NS-Diktatur in Klagenfurt, von der „verhassten Lehrerbildungsanstalt“, in der sich sich einschreiben musste, um nicht nur Panzerfaustausbildung nach Polen zu müssen und von den Stunden, die sie bei Bombenalarm mittlerweile lieber lesend im Garten verbringt als in dunklen Luftschutzkellern. Sie liest Rilkes „Stundenbuch“ und Baudelaires „Les Fleurs du Mal“ und ist so ergreifend freiheitsliebend: „Ich habe eines Sessel in den Garten gestellt und lese. Ich habe mir fest vorgenommen, weiterzulesen, wenn die Bomben kommen.“ Zurecht ist diese Passage in den meisten Rezensionen zum „Kriegstagebuch“ zitiert worden.

Und dann ist der Krieg vorbei. Im zweiten Teil ihres jetzt veröffentlichten Tagebuchs begegnet sie dem britischen Soldaten Jack Hamesh, bei dem sie einen Ausweis beantragen muss. „Klein und eher hässlich“ findet sie ihn zunächst. Doch das ändert sich, als sie über Bücher zu sprechen beginnen und er zum Abschied ihre Hand küsst. Es beginnt eine enge Freundschaft zwischen den beiden, eine Freundschaft zwischen den Kindern der Täter und Opfer.

„Jetzt erst recht“

Jack Hamesh ist Jude. Er emigriert 1938 nach England, als seine Eltern bereits Opfer des Holocausts geworden sind. Mit den englischen Truppen kehrt er zum Ende des Krieges nach Österreich zurück und verliebt sich dort in die junge Ingeborg Bachmann. Die bekennt sich ganz offen zu dem jungen Mann, denn schnell wird ihr klar: Alle reden über sie. Und zwar nicht etwa, weil sie sich mit einem Briten trifft, sondern weil er Jude ist. Bachmanns Reaktion darauf? „Jetzt erst recht.“

Bachmanns Tagebuchaufzeichnungen aus den letzten Kriegsmonaten und aus der Zeit der Befreiung durch die britischen Truppen umfassen nur 17 Seiten des Buches. Sie entstammen einem Schreibmaschinentyposkript aus dem Privatnachlass der Geschwister. Es ist die einzige Überlieferung, die erhalten geblieben ist. Der Herausgeber Hans Höller geht in seinem höchst empfehlenswerten Nachwort darauf ein, dass es sich vermutlich um eine Abschrift, vielleicht auch nur um einen Auszug aus den wahrscheinlich handschriftlichen Tagebucheinträgen handelt.

Es folgen die elf Briefe von Jack Hamesh, die im Privatnachlass von Ingeborg Bachmann aufbewahrt werden. Der liebende Hamesh hat sie in der Zeit von Ostern 1946 bis zum Sommer 1947 geschrieben, und sie zeugen von der Zerrissenheit des jungen Mannes, der keine rechte Heimat findet und sich allerorts alleine fühlt. „Doch liebe Inge, dadurch, dass ich Dich kennen lernte habe ich erst gesehen dass es wert ist zu kämpfen und zu Zeiten wenn es auch noch so schwierig sein mag“, schreibt er am 27. Juni 1946. Er ist kurz davor, nach Palästina zu gehen. Dem Nachwort ist zu entnehmen, dass die beiden sich noch ein einziges Mal wiedersehen, bevor Hamesh nach Palästina geht. Danach besteht nur noch der sehr zu Herzen gehende Briefkontakt, der urplötzlich am 16. Juli 1947 endet.

Verschollen wie Hamesh selbst

Bachmanns Antworten auf Hameshs Briefe sind ebenso verschollen wie Hamesh selbst. Was aus dem ehemaligen britischen Soldaten geworden ist, der zum Kriegsende jene historische Begegnung machte, ist unbekannt. Der Herausgeber des „Kriegstagebuchs“, der Salzburger Professor Hans Höller, der bereits Mitherausgeber des großartigen Briefwechsels zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan gewesen ist, schreibt in seinem Nachwort, dass „bis jetzt keine Spuren seines Lebens aufzufinden waren“. Das Nachwort indes sollte unbedingt gelesen werden, denn es ordnet Bachmanns Aufzeichnungen höchst interessant in Bachmanns späteres Werk ein.

Die Edition aus dem Suhrkamp Verlag ist bei Entstehen dieser Rezension zwei Jahre alt. Doch noch immer scheint es keine neuen Hinweise auf das Leben von Jack Hamesh zu geben. In der tiefen Einsamkeit, die aus seinen Briefen klingt, in dieser Sehnsucht nach Heimat, Freunden und einer Familie, die ihm zuvor stets genommen worden sind, lässt sich als Leser nur hoffen, dass er auch in Palästina seine ganz eigene Ingeborg Bachmann gefunden hat. Frühestens bis es davon Nachricht gibt, wird das Buch den Leser nicht wieder loslassen.

Ingeborg Bachmann: Kriegstagebuch, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2010, 108 Seiten, gebunden, 15,80 Euro, ISBN 978-3518421451;
Ingeborg Bachmann: Kriegstagebuch, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2011, 113 Seiten, Taschenbuch, 7,95 Euro, ISBN 978-3518462430

Schuld und Sühne

Wer abends im Bett nur noch die ersten Seiten eines neuen Buches lesen und dann schlafen will, weil man am nächsten Tag früh aufstehen muss, trotzdem aber das Buch bis zum Schluss liest, der hat wahrscheinlich ein gutes Buch erwischt. Ferdinand von Schirachs „Der Fall Collini“ ist ein solches Buch.

Fabrizio Maria Collini, italienischer Staatsbürger, hat vierundreißig Jahre als Werkzeugmacher bei Daimler gearbeiter, zuletzt als Meister, und ist seit vier Monaten pensioniert. Er hat keine Vorstrafen und ist nie auffällig geworden. Doch dann geht er in das Berliner Luxushotel Adlon und tötet einen Mann namens Jean-Baptiste Meyer mit vier Schüssen in den Hinterkopf. Der junge Anwalt Caspar Leinen – erst seit ein paar Tagen hängt sein Kanzleischild am Hauseingang – bekommt den Fall als Pflichtverteidiger. Was Leinen zunächst als Karrierechance sieht, entpuppt sich als Problemfall. Denn der Getötete ist nicht nur der Großvater seines besten Freundes aus der Schulzeit, was Leinen in Gewissenskonflikte bringt, sondern Collini schweigt auch beharrlich zu seinem Motiv. Er ist geständig, will aber partout nicht darüber reden, warum Jean-Baptiste Meyer sterben musste. Um sich an dem Fall nicht die Zähne auszubeißen und zum Gespött der Berliner Anwaltschaft zu werden, muss Leinen tief in die deutsche Vergangenheit eindringen.

Was Ferdinand von Schirach mit seinem ersten Roman zustandebringt, ist ordentlich gut, aber noch nicht außerordentlich gut. Sein Schreibstil ist nüchtern und sachlich, aber weit entfernt von der Spröde eines juristischen Schriftsatzes. Das hat er bereits in seinen Erzählungen bestens unter Beweis gestellt und das macht auch den Roman so schnell und gut lesbar. Seine Figuren schwadronieren nicht, sondern sie erzählen präzise und mit knappen Worten. Der Wochenzeitung „Die Zeit“ hat er in einem Gespräch über seinen Erzählband „Schuld“ gesagt, „er sei kein Freund der Metapher, er suche nach keinem Synonym für „atmen“, wenn einer seiner Protagonisten atme. Wenn einer atme, schreibe er eben, dass dieser atme. Auf den Plot komme es an, wie in amerikanischen Storys.“

Schirach hat mit „Der Fall Collini“ die Nachkriegsjustiz zum Thema gemacht. Wer über diesen Bereich mehr lesen möchte, dem sei das Buch „Furchtbare Juristen“ von Ingo Müller ans Herz gelegt. Auch Schirach ist eng mit der Zeit des Nationalsozialismus‘ und der Nachkriegsjustiz verbunden, ist er doch ein Enkel des NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach. In einem Essay, der im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ veröffentlicht wurde und in dem Schirach über seinen Großvater schreibt, erklärt er jedoch, dass „Der Fall Collini“ keine Aufarbeitung seiner Familiengeschichte sei, sondern er „schreibe über die Nachkriegsjustiz, über die Gerichte in der Bundesrepublik, die grausam urteilten, über die Richter, die für jeden Mord eines NS-Täters nur fünf Minuten Freiheitsstrafe verhängten. Es ist ein Buch über die Verbrechen in unserem Staat, über Rache, Schuld und die Dinge, an denen wir heute noch scheitern.“

Auch im Bundesjustizministerium ist „Der Fall Collini“ offenbar gelesen worden, denn Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat im Januar 2012 die Professoren Manfred Görtemaker von der Uni Potsdam und Christoph Safferling von der Uni Marburg mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit im Bundesministerium der Justiz beauftragt. Ausdrücklich wird „Der Fall Collini“ in der Meldung als Beispiel erwähnt, denn der (rechts-)geschichtliche Hintergrund des Romans ist alles andere als fiktiv.

„Der Fall Collini“ ist sicherlich nicht die literarische Hochkultur, aber wenn ein Buch für eine schlaflose Nacht sorgt, ist das schon Grund genug, es guten Gewissens weiterempfehlen zu können. Es unterhält, es informiert, es rüttelt auch ein wenig auf. Und vielleicht sorgt es ja auch noch für einen Nachhall. Es wäre den Opfern der NS-Täter zu wünschen.

Ferdinand von Schirach: Der Fall Collini, Piper Verlag, München, 2011, 197 Seiten, gebunden, 16,99 Euro, ISBN 978-3492054751