Der eintauchende Penis

Es ist die große Geschichte vom Scheitern der Liebe. Uah, mag man jetzt denken, tausendfach gelesen. Aber nein, niemals so wie in „Zärtlich ist die Nacht“. Dick und Nicole Diver sind auf den ersten Blick ein harmonisches Pärchen, das in den Roaring Twenties an der französischen Riviera ein mondänes, ausschweifendes Leben führt.

In ihrer Villa gehen Künstler ein und aus, am Strand treffen sich die Reichen, die Schauspieler und Lebenskünstler, schlürfen Gin zur Mittagsstunde, gehen dann und wann im Mittelmeer schwimmen und sind stets bestrebt, den Tag und die Nacht bestmöglich zu genießen. So trifft eines Tages auch die attraktive 18-jährige Schauspielerin Rosemary am Strand ein. Unbedarft und naiv verliebt sie sich sogleich in Dick Diver und will ihn unbedingt verführen. Sie hätte womöglich von ihrem Plan Abstand genommen, hätte sie gewusst, welches Geheimnis Dick und seine Frau Nicole verbergen. Und wie das alles enden würde.

F. Scott Fitzgerald hat an diesem Roman neun Jahre gearbeitet. Als er dann im Jahre 1934 erschien, wurde er von den Kritikern zurückhaltend kritisiert, nicht aber gefeiert. Fitzgerald schreibt den Roman noch einmal um, gibt ihm eine andere Chronologie. Das Konzept, den Roman in drei Bücher aufzuteilen, zerschlägt er und macht daraus fünf Kapitel. Fitzgerald nennt die neue Version seine „final version“. Doch Ernest Hemingway ist fassungslos: „Es ist, als hätte man einem Schmetterling die Flügel ausgerissen und sie so wieder angesetzt, dass er wie eine Biene geradeaus fliegen kann. All der Staub, aus dem die Farben sind – die Magie des Schmetterlings -, ist verloren.“

Erstmals die ursprüngliche Fassung

Doch es bleibt bei dieser Fassung – laut des wirklich großartigen Nachworts von Heinrich Detering – in Amerika bis in die sechziger Jahre, dann setzt sich dort wieder die Fassung von 1934 durch. In Deutschland haben die Leser bis 2006 nur die „final version“ gekannt. Im Diogenes Verlag ist jetzt erstmals die ursprüngliche Fassung von 1934 erschienen, übersetzt von Renate Orth-Guttmann. Es ist ein Genuss.

Es ist schon deshalb ein Genuss, weil diese Sprache so wundervoll zu lesen ist. Der Leser fühlt sich wie einer jener Schwimmer an der Riviera: Er durchkrault dieses Wörtermeer und aalt sich in den Wogen der Sprachkunst. Nun braucht der Leser aber wie jeder Schwimmer auch etwas Atem und Durchhaltevermögen, denn dem Leser erschließt sich nicht sogleich, warum dieses Buch gelesen werden muss. Seitenweise ergeht sich Fitzgerald in der Schilderung der Szenerie, der Partys und Amüsements. Dabei schildert er die Ereignisse gerne aus Sicht unterschiedlicher Personen. Immer wieder lässt er Textzeilen bekannter Schlager und Jazzstücke aus der Zeit einfließen, die Schönen und Reichen unterhalten sich oberflächlich und ohne tieferen Sinn. Szenen, wie man sie heute aus Büchern von Bret Easton Ellis kennt: Eine spaßorientierte Gesellschaft, die sich intellektuell gibt und dabei doch nichts zu sagen hat.

Hier braucht der Leser seinen Atem, denn es ist mitunter mühsam, dem Spaß der handelnden Personen einen Lesespaß abzuringen. Doch das ist alles mit feinem Sinn konzipiert, denn es schleicht sich nach und nach der Gedanke ein, dass hier doch nicht alles so ganz und gar wunderbar ist, wie es scheint. Mehrere Male lockt Fitzgerald den Leser auf die falsche Fährte, lässt ihn in dem Irrglauben, das Geheimnis zu erahnen. Doch worum es wirklich geht, erfährt man erst am Schluss.

Obszöner Hinweis auf die sexuelle Lust des Helden

Dick Diver – hier ist der Name Programm. Der eintauchende Penis als obszöner Hinweis auf die sexuelle Lust des Helden, vielleicht aber auch schon als Omen des Endes, wenn nur der Nachname als Vorzeichen gesehen wird. Das Buch ist reich an Symbolen, wenn man Fitzgeralds Biographie kennt. Dass der Roman durch und durch autobiographisch ist, ist bekannt. Vor diesem Hintergrund liest er sich wie eine psychoanalytische Studie über Fitzgerald selbst. Denn Dick Diver ist Fitzgerald, und Fitzgerald ist Dick Diver. Und Nicole Diver trägt sichtbare Züge und Wesenszustände von Fitzgeralds Frau Zelda.

Doch auch unabhängig von Fitzgeralds Biographie ist dieses Buch ein so intensives Leseerlebnis, dass man es wagen sollte. Atem schöpfen und losschwimmen. Wer das Buch zu Ende gelesen hat, wird sicher noch einige Zeit auf dem Steg oder Beckenrand sitzen bleiben und mit den Füßen im Wasser baumeln.

Francis Scott Fitzgerald: Zärtlich ist die Nacht, Diogenes Verlag, Zürich, 2006, 553 Seiten, gebunden, 24,90 Euro, ISBN 978-3257065213
Diogenes Verlag, Zürich, 2007, 552 Seiten, Taschenbuch, 11,90 Euro, ISBN 978-3257236958

Ganz seicht entführt

Der neunjährigen Sarah stehen alles andere als schöne Ferien bevor, als sie in den Kleinbus einsteigt, der sie und andere Kinder in ein Sommercamp bringen soll. Ihre Mutter Lena ahnt zunächst nichts – erst als wenige Minuten später die echten Mitarbeiter des Camps vor ihrer Haustür stehen und Sarah abholen wollen. Einen weiteren Fahrer für die Tour gebe es nicht, sagen die. Doch auch bei drei anderen Familien war der nette Fahrer namens J. D. und hat die Kinder abgeholt, ohne dass die Eltern argwöhnisch geworden sind. Der Beginn eines Albtraums.

Was da passiert ist, weiß der Leser längst, weil es auf dem Klappentext des Buches steht. Aber auch Lena weiß es schnell: „Ich glaube, die Mädchen wurden gekidnappt.“ Was dann folgt, ist eine seichte und mäßig spannende Handlung. Die Figuren bleiben blass und haben zu wenige Konturen. Das Potential der menschlichen Konflikte untereinander kommt auch viel zu kurz. Sarahs Vater etwa, David, war nicht zu Hause, als sie von dem Fremden abgeholt wurde. Lena vermutet, dass er eine Affäre hat, spricht ihn aber nicht darauf an; er dagegen macht ihr Vorwürfe, dass sie diesem Typen ihre Tochter mitgegeben hat. Es dauert sehr lange, bis der Autor sich auch auf diese ehelichen Spannungen besinnt und sie entwickelt. Mit den Ermittlungen der Polizei, die sehr behäbig beschrieben werden und kaum die Unruhe erzeugen, die der Leser erwartet, beginnt auch das Rätselraten der Eltern, wer hinter der Entführung stecken könnte. Möglicherweise sogar jemand der Eltern selbst?

Wesentlich mehr in Atem halten die Kapitel, in denen Doug Magee über das Schicksal der Kinder erzählt. Die nämlich werden tief in die Wildnis verschleppt. Bei der Schilderung, wie jedes einzelne Kind unterschiedlich mit der Bedrohung umgeht, schafft Magee endlich diese Nähe des Lesers zu den Figuren, die man in den übrigen Kapiteln so arg vermisst.

Das Buch hält nicht, was der Klappentext verspricht. Im Gegenteil, der er führt sogar etwas in die Irre, aber vielleicht muss das bei einem so schwachen Erstlingswerk sein, um den Verkauf anzukurbeln. Doug Magee, laut Klappentext Fotograf, Journalist, Drehbuchautor und Regisseur, wünscht man für sein nächstes Buch jedenfalls mehr Geschick. „Schöne Ferien“ ist ein Buch geworden, das das Regal nicht braucht.

Doug Magee: Schöne Ferien, Rütten & Loening Verlag, Berlin, 2010, 366 Seiten, broschiert, 14,95 Euro, ISBN 978-3352007934

Ein Albtraum

Ein Lehrer geht in eine Schulvollversammlung und erschießt drei Schüler sowie eine Kollegin. Danach richtet er sich selbst. Das Motiv ist rätselhaft. Was wie der Beginn eines Krimis klingt, ist ein zutiefst erschütterndes menschliches Drama. Man sollte es gelesen haben.

Samuel Szajkowski ist der neue Geschichtslehrer an einer renommierten Londoner Schule. Dort hat er es von Anfang an schwer. Der ignorante Schulleiter, der ihn einstellt, weil er „der am wenigsten unterqualifizierte einer wahrlich nicht begeisternden Truppe“ von Bewerbern war, hält ihn zunächst für wichtigtuerisch und arrogant, später ist er nur noch genervt von ihm, lässt sich verleugnen, nur um nicht mehr von Szajkowski behelligt zu werden.

Eine ganz üble Figur von Lehrerpersönlichkeit an der Schule ist der Sportlehrer TJ, der schon beim ersten Kennenlernen an die Decke geht, als Szajkowski vermutet, er unterrichte Physik oder Latein und nicht etwa Sport. Schon bald schikaniert er Szajkowski, wo es nur geht. TJ versteht auch nicht, warum der Neue sich partout nicht Sam nennen lassen wollte. Denn TJ lässt sich selbst von seinen Schülern ganz kumpelhaft mit seinem Spitznamen ansprechen, sieht dabei aber nicht, dass die dessen Masche durchschaut haben. Für die Schüler ist TJ nur eine Abkürzung für illustre Spitznamen wie TittenJones und TeJakulator.

Mit Szajkowski aber gehen auch die Schüler nicht gerade zimperlich um. Schon in der ersten Schulstunde schlägt Ober-Rowdy Donovan den neuen Geschichtslehrer in die Flucht – weinend. Man kann sicherlich behaupten, dass Szajkowski der Lehrerrolle nicht unbedingt gewachsen ist und er wahrscheinlich den falschen Beruf ergriffen hat, aber was den Leser wirklich tief erschüttert, ist nicht nur Szajkowskis Hilflosigkeit, sondern vor allem das Versagen der Schule, das sich nach und nach entrollt. Und hier ist dem Autor wirklich ein Glanzstück gelungen: Es wechseln sich die Tonbandaufnahmen der Zeugenaussagen mit den Erzählungen über die Ermittlungen der Polizistin Lucia May ab, und so entspannt sich vor den Augen der Leser die ganze grauenhafte Geschichte, ohne jemals blutig zu werden.

May selbst wird im Büro von einem Kollegen drangsaliert und gemobbt, der Chief Inspector schaut zu und tut nichts – ein Spiegel zur Schule, denn dort ist es Szajkowski, dem das Leben zur Hölle gemacht wird, während der Schuldirektor wegschaut, weil ihm sein Posten und die Zukunft der Schule wichtiger sind. Und es ist nicht Szajkowski allein, der Opfer eines Systems wird. Es ist ungeheuerlich, so ungeheuerlich.

Mehr als die unbedingte Aufforderung auszusprechen, dieses Buch zu lesen, kann man als Rezensent nicht tun. Warum der Verlag allerdings den englischen Original-Titel „Rupture“ trivial mit „Ein toter Lehrer“ übersetzt hat, ist befremdlich. Auch für einen deutschen Titel wäre ein Wort wie „Bersten“ oder „Platzen“ treffender gewesen.

Von dem 1976 geborenen Simon Lelic dürfen wir indes bald mehr erwarten. Laut Angaben des Verlags schreibt er derzeit an seinem dritten Buch. „Ein toter Lehrer“ ist sein Debüt. Was für ein Wurf!

Simon Lelic: Ein toter Lehrer, Droemer Verlag, München, 2011, 349 Seiten, gebunden, 16,99 Euro, ISBN 978-3426198698
Knaur Taschebuch Verlag, München, 2012, 352 Seiten, Taschenbuch, 9,99 Euro, ISBN 978-3426505199

Trari, trara, der Sarg ist da

Ein Serienmörder geht um, und kein Opfer kann sagen, es sei nicht gewarnt worden: Die Post liefert einen kleinen Sarg ins Haus, handgeschnitzt, im Inneren ein heimlich aufgenommenes Foto des Empfängers. Wenige oder einige Zeit später kommt der Tod. Jake Pepper, Detective beim State Bureau of Investigation eines kleinen Bundesstaates im Westen der USA, steht vor einem Rätsel. So beginnt Truman Capotes Novelle „Handgeschnitzte Särge“, die der Verlag Kein & Aber jetzt in der Reihe „Große Literatur im kleinen Format“ veröffentlicht hat.

Die Novelle, die Capote als „Tatsachenbericht über ein amerikanisches Verbrechen“ benannt hat, ist kein neu entdecktes Werk, sondern der Sammlung von Reportagen und Porträts entnommen, die erstmals 1974 unter dem Titel „Wenn die Hunde bellen“ erschienen ist. Und es ist egal, ob es sich wirklich um einen Tatsachenbericht handelt, oder ob Capote Fakten und Erfundenes kombiniert hat, wie vom Verlag zu erfahren ist – entstanden ist eine spannend gestrickte Kriminalgeschichte.

Eines Tages schreibt der Detective den bekannten Schriftsteller an – Capote und Pepper kennen sich über einen gemeinsamen Freund – und berichtet von dem seltsamen Fall, den er derzeit bearbeitet. Es entwickelt sich eine regelmäßige Telefonkonferenz zwischen den beiden. „Drei Jahre lang telefonierten wir alle paar Monate miteinander. Die Spuren in diesem Fall waren so komplex wie ein Rattenbau und führten irgendwann gar nicht mehr weiter. Schließlich sagte ich: Na, dann haben Sie ja nichts mehr zu verlieren. Dann kann ich ja auch kommen und mich ein bisschen umsehen.“ Capote reist also an. Mittlerweile hat der Mörder sieben Menschen umgebracht, immer auf raffinierte Art und Weise. Die ersten beiden Opfer, ein Ehepaar, das stets gemeinsam zur Arbeit fährt, ereilt der Tod, als sie in ihr Auto steigen und wütende Klapperschlangen über sie herfallen. Ein anderer rast mit seinem offenen Jeep heimwärts, als ihn ein gespannter Draht einen Kopf kürzer macht. Was verbindet diese Menschen? Wo ist das Motiv? Bald hegen die beiden Männer einen ersten Verdacht, doch es fehlt an Beweisen. Die Zeit drängt, denn auch Peppers Zukünftige hat schon einen dieser Särge bekommen…

Capote schreibt mit seiner üblich feinen Beobachtungsgabe, die schon in „Kaltblütig“ so hervorragend funktioniert hat. Kein Wort zu viel, kein Ausstaffieren von Szenen. Vielfach sind es nur die Dialoge der beiden Männer, die den Text ausmachen, durchzogen von wenigen Absätzen, die an die Regieanweisungen in Drehbüchern und Theaterstücken erinnern.

Von Capote sind in der Reihe „Große Literatur im kleinen Format“ schon mehrere wunderschöne Ausgaben erschienen. Das kleine Format ist von einigen Verlagen längst wiederentdeckt worden, andere haben es nie aufgegeben. Kein & Aber legt die „Handgeschnitzten Särge“ in silbernem Leinen vor, dazu ein silbernes Lesebändchen – schön, wenn ein Verlag so viel Mühe auf das Äußere verwendet.

Unbedingt kaufen und lesen!

Truman Capote: Handgeschnitzte Särge, Kein & Aber Verlag, Zürich, 2011, 160 Seiten, gebunden, 14,90 Euro, ISBN 978-3036955889

Zweisam, dreisam, einsam

„Der letzte Cowboy kommt aus Gütersloh“ – so hieß der Song, mit dem Thommie Bayers Band einst einen Riesenerfolg hatte. In „Aprilwetter“ schickt der Schriftsteller zwei innig befreundete Musiker in die leidvolle Erfahrung, sich in die selbe Frau zu verlieben.

Zu Beginn des Romans ist die Geschichte des erfolgreichen Gitarren-Duos Tanner & Krantz längst passé. In Rückblenden erfährt der Leser vor allem aus Bennos Sicht, wie das damals so war. Mit Daniel und ihm. Und mit Christine.

Daniel und Benno, das sind Tanner & Krantz. „Daniel und Benno waren ein Hirn in zwei Köpfen. Oder eine Seele in zwei Körpern. Oder ein vierhändiger Mensch (…). Manchmal wurden sie für ein Liebespaar gehalten, weil sie immer zusammen waren, zusammen wohnten und ausgingen, sogar die Ferien gemeinsam verbrachten, aber das war Unsinn (…). Sie waren alles zu zweit und nichts allein.“

Über vierzehn Jahre ist es her, da liefert Benno seinen Freund Daniel in der Nervenklinik ab, weil der „bis zum Kragen unter Drogen“ steht. Christine ist dort Krankenschwester. Es beginnt eine Dreiecksgeschichte, die schnell scheitert. Benno flüchtet in die USA, tourt mit drittklassigen Country-Combos durch die Landschaft und hat schon bald ein Alkoholproblem. Nach vielen Jahren steht eines Abends plötzlich Daniel in der Tür und holt ihn zurück nach Deutschland. Doch auch Christine gibt es dort noch. Und so nimmt das Schicksal erneut seinen Lauf.

Es ist dem Buch schon anzumerken, dass Thommie Bayer früher selbst Musiker gewesen ist. Ohne ins Fachsimpeln zu geraten und den Nicht-Musiker zu langweilen, ist so viel Musik zwischen den Zeilen, dass man geneigt ist, das eine oder andere genannte und unbekannte Lied mal anzuhören.

Der Stil ist einfach, aber nicht vorwerfbar einfach. Ein Bayer lässt sich überall lesen, auch zwischen Tür und Angel oder in der Straßenbahn auf dem Weg zu Arbeit. Bayer erfindet die Tragik der Dreiecksgeschichte nicht neu, doch das muss er auch nicht. „Aprilwetter“ funktioniert auch so. Und das ohne jegliche Säusel-Romantik.

Thommie Bayer: Aprilwetter, Piper Verlag, München, 2009, 220 Seiten, gebunden, 16,95 Euro, ISBN 978-3492051637

%d Bloggern gefällt das: