In des Waldes finstern Gründen

WildwoodAls die zwölfjährige Prue nur einen Moment nicht aufpasst, geschieht das Unfassbare: Ein Schwarm Krähen greift sich ihren kleinen Bruder Mac und fliegt mit ihm in die „Undurchdringliche Wildnis“ jenseits der Stadt. Die mutige Prue zögert nicht lang und macht sich auf, ihren Bruder zu retten. So beginnt eines der derzeit schönsten Kinder- und Jugendbücher: „Wildwood“, geschrieben von Colin Meloy und zauberhaft illustriert von dessen Frau Carson Ellis.

Prue lebt mit ihrem einjährigen Bruder Mac und ihren Eltern in Portland im amerikanischen Bundesstaat Oregon. Im Südosten grenzt die Stadt an die „Undurchdringliche Wildnis“, jene finsteren Wälder, die kaum ein Mensch je betreten hat und wovor die Eltern stets warnen. Nur wilde Tiere leben dort, und die gehen wenig zimperlich mit Menschen um, die ihre Grenzen übertreten, heißt es. Doch jetzt sind die Tiere in die Stadt eingedrungen und haben ein Baby entführt, Prues Bruder!

Mit ihrem Klassenkameraden Curtis macht sich Prue auf, ihren kleinen Bruder aus den Fängen der Krähen zu retten. Der Übergang in die „Undurchdringliche Wildnis“ ist wesentlich einfacher als gedacht, denn ganz so undurchdringlich ist sie gar nicht. Doch als sie auf die erste Lichtung stoßen, wird ihnen schnell klar, dass hier einiges anders ist als drüben in der Stadt. Dort auf der Lichtung nämlich hat sich ein Dutzend Kojoten um die Überreste eines Lagerfeuers versammelt – und sie sprechen miteinander und tragen alle die gleichen roten Uniformen!

Eine ganz schön fiese Pflanze

Eine seltsame Welt haben die beiden da betreten. Und auf ihrer Reise erleben sie noch viel eigentümlichere Dinge. Phantasievoll und mit Witz erzählen Meloy und Ellis ein skurriles Märchen über gefiederte Freunde, eine böse Hexe, Kojoten und Räuber. Es geht um Macht, Magie und Politik. Und ganz nebenbei erfährt der Leser, dass Efeu im Grunde eine ganz schön fiese Pflanze sein kann.

Bemerkenswert sind auch die Illustrationen und Farbtafeln von Carson Ellis, die durch die Gestaltung der Alben von „The Decemberists“, der Band ihres Mannes, bekannt wurde. Ihr Stil ist großartig und zeigt ihr deutliches Gespür für Minimalistik. Eindrücke der Illustrationen sind im Buchtrailer des Verlags zu sehen.

Wahrlich eines der schönsten Kinder- und Jugendbücher der heutigen Zeit! Wer schon erwachsen ist, liest es, vielleicht im Lehnstuhl sitzend, Kindern vor. Sobald die im Bett sind, liest man heimlich weiter – garantiert.

Wiedersehen mit der mutigen Portland-Prue

Die Fortsetzung zu „Wildwood“ ist in Amerika schon erschienen, in Deutschland ist noch kein Veröffentlichungsdatum bekannt. Sicher aber ist: Die Abenteuer gehen weiter, und es gibt ein Wiedersehen mit der kleinen, mutigen Portland-Prue. Unbedingt lesen!

Colin Meloy/Carson Ellis: Wildwood, Heyne Verlag, München, 2012, 591 Seiten, gebunden, mit sieben Farbtafeln und 30 Schwarz-weiß-Illustrationen, 19,99 Euro, ISBN 978-3453267145

Hölle, Hölle, Hölle

InfernoIn einem unsäglichen Lied heißt es: „Das ist Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle?“ Dasselbe könnte man Dan Brown fragen, dessen neues Werk „Inferno“ jetzt erschienen ist. Denn Freunde der Literatur leiden Höllenqualen angesichts Browns Idee, mit Dante Alighieris „Göttlicher Komödie“ ein Verbrechen zu rechtfertigen, das den Helden Robert Langdon in sein nächstes Abenteuer schicken soll. Alle anderen aber lesen einen Dan Brown, wie sie ihn erwarten.

Sein neues Werk folgt wieder dem „Robert rennt“-Prinzip: Robert Langdon, der bereits aus den Büchern „Illuminati“, „Sakrileg“ und „Das verlorene Symbol“ bekannte Symbolforscher aus Harvard, wacht in einem Krankenzimmer in Florenz auf. Er kann sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wie er dorthin gekommen ist. Allerdings hat er auch nicht viel Zeit darüber nachzudenken, denn schon nach wenigen Minuten muss er vor einer auf ihn angesetzten Killerin flüchten. Bald kommt er einem Mann auf die Spur, der Dante Alighieris berühmtestes Werk der Weltliteratur, die „Göttliche Komödie“, als Grundlage dafür nutzt, einen zerstörerischen Plan zu verschlüsseln und gleichzeitig zu begründen.

Der Mann, der sich zunächst nur „Der Schatten“ nennt und sich später als der Biochemiker Bertrand Zobrist entpuppt, beschwört das „Inferno“ herauf und will damit die Überbevölkerung der Welt stoppen. Seine Idee: Die Bevölkerung auf vier Milliarden Menschen zu reduzieren. Dazu deponiert er an einem unbekannten unterirdischen Ort eine mysteriöse Substanz, die das Problem schon bald lösen soll. Die Story ist dünn, ohnehin ist der Dan-Brown-Hype vorbei, die Geschichten ähneln sich. Unbestreitbar aber beherrscht Dan Brown es, Städte so detailreich zu beschreiben, dass man sich gleich in den Flieger setzen möchte. Seine Szenen machen reisehungrig.

Es hakt

An einigen Stellen hakt der Roman. Auf Seite 107 etwa ist Robert Langdon weiterhin auf der Flucht und versteckt sich kurze Zeit hinter einem parkenden Lieferwagen. „Der Van jagte vorbei, ohne seine Fahrt zu verlangsamen.“ Und trotzdem kann Langdon einen „flüchtigen Blick auf eine Person im Fond“ werfen. In diesem Bruchteil einer Sekunde erkennt Langdon in der Person nicht nur eine „ältere, attraktive Frau“, sondern auch noch, dass sie zwischen zwei Soldaten sitzt, ihre Augen halb (!) geschlossen hat und ein Amulett um den Hals trägt. Von einer solch schnellen Auffassungsgabe träumen wohl auch so manche Superhelden, denn wirklich realitätsnah ist das nicht.

Über die Arbeit der Übersetzer ist im Vorfeld des Erscheinens werbewirksam berichtet worden: In einem fensterlosen Raum wurde der Stoff innerhalb von zwei Monaten in allerlei Sprachen übersetzt. Vielleicht ist es der Pflicht der Schnelligkeit zuzurechnen, dass sich bei einer Dan-Brown-Übersetzung dann Fehler einschleichen. So entschlüsselt Robert Langdon – so viel darf verraten werden – auf Seite 159 ein Wort, das aus zehn Buchstaben besteht. Die Buchstaben des ursprünglichen Wortes stehen untereinander, ebenso die Buchstaben des neuen, entschlüsselten Wortes. Urplötzlich aber hat sich ein Buchstabe mehr eingeschlichen. Ein Flüchtigkeitsfehler wie dieser muss an einer solchen Stelle bei einer Endkontrolle auffallen. Jetzt fällt er dem aufmerksamen Leser auf und sorgt für Unverständnis.

Ebenfalls ein Beispiel für eine unsaubere Übersetzung ist der folgende Satz: „Langdon grinste innerlich.“ (S. 160) Das erinnert an einen Satz, den der deutsche Komiker Heinz Erhardt geprägt hat: „Äußerlich bin ich völlig ruhig, nur innerlich schlage ich die Hände über dem Kopf zusammen.“

Lieferant der Motivation

Was hat das nun alles mit Dante Alighieri zu tun? Am Ende nicht viel: Anfangs musste die „Göttliche Komödie“ als Grundlage herhalten, dann zur Erklärung der Motivation das Zitat „Die heißesten Orte der Hölle sind reserviert für jene,/die in Zeiten moralischer Krisen nicht Partei ergreifen“ liefern, um dann immer mehr in den Hintergrund zu treten.

Ob jetzt zumindest ein Teil der Brown-Leser auch zu Dante greifen werden – es ist ihm zu wünschen! Ohnehin ist es die bessere Wahl zwischen den beiden Büchern. Immerhin endet Dan Browns „Inferno“ mit dem Wort, mit dem auch Dante Alighieri alle drei Teile seiner „Divina Commedia“ beendet hat: Sterne.

Dan Brown: Inferno, Bastei Lübbe Verlag, Köln, 2013, 685 Seiten, gebunden, 26 Euro, ISBN 978-3785724804

Fallen und Aufrichten. Fallen.

Das Lächeln meiner MutterWer immer dieses Buch zur Hand nimmt, sollte nicht in der schwärzesten Lebensphase stecken, denn schon die ersten Seiten werfen den Leser derart aus der Bahn, dass selbst starke Gemüter den Tränen nahe sein könnten. In ihrem autobiographischen Roman „Das Lächeln meiner Mutter“ sucht Delphine de Vigan nach den Hintergründen für den Freitod ihrer eigenen Mutter. Sie fragt Verwandte, hört alte Tonaufnahmen, findet Fotos und Briefe aus vergangenen Zeiten und zeichnet mehr und mehr ein beeindruckendes Bild einer schwer zu fassenden Frau sowie einer französischen Großfamilie, die mit Schicksalsschlägen zu kämpfen hat, als sei sie von einem Fluch belegt.

Als Lucile Poirier im November 1946 geboren wird, ist sie das dritte Kind der Familie. Weitere sechs Kinder folgen. Es ist die typische Großfamilie, wie wir sie in den leichten französischen Sommerkomödien oft zu sehen bekommen. Mit großen Feiern auf dem Land, wildem Kindergetummel, Gelächter, Weingelagen und Diskussionen bis in die Nacht, alle Generationen an einem großen Tisch vereint.

Lucile wächst in einem Haus in Pierremont auf, einer kleinen Stadt im Département Yonne südöstlich von Paris. Als Kind ist sie ein gefragtes Fotomodell, sie liebt das Fotografiertwerden, genießt aber auch das Kindsein in vollen Zügen. Doch kurz vor ihrem achten Geburtstag muss sie lernen, dass der Tod das Leben mitbestimmt: Im Sommer 1954 stirbt ihr jüngerer Bruder Antonin, nachdem er beim Spielen in einen Brunnenschacht gefallen ist. In der Familienmythologie wird sein Tod zur bezeichnenden Tragödie, mit der das Unglück seinen Anfang nimmt.

Ein Grauen für Eltern und Geschwister

Ihr folgen zwei weitere Todesfälle: Jean-Marc und Milo, Luciles jüngere Brüder, sterben ebenfalls. Jean-Marc wird eines Morgens von seiner Mutter mit einer Plastiktüte über seinem Kopf tot im Bett gefunden – der Auslöser bleibt ein Mysterium, ein Grauen für Eltern und Geschwister.

Milo ist von neun Geschwistern der dritte Bruder, der stirbt. „Ich weiß nicht, ob sich solche Schmerzen addieren oder multiplizieren, aber ich denke, für eine einzige Familie wird das doch recht viel“, schreibt de Vigan. Milo kauft sich eine Pistole und schießt sich in einem Wald eine Kugel in den Kopf. In seinem Taschenkalender findet sich an seinem Todestag der Eintrag: „Bitte verzeiht mir, ich habe nie leben wollen.“

Wie geht ein Geschwisterkind mit diesen die Familie überschattenden Ereignissen um? Wirken sie sich auf das spätere Leben aus? Behutsam versucht die Autorin, sich ihrer Mutter zu nähern, die fast unnahbar war und sich bis zuletzt – oft mit einem Lächeln – entzog. Auch Luciles Geschwister finden keine Antworten: „Sie war ein geheimnisvolles Kind, ein absolutes Geheimnis.“ Später wird klar, dass Lucile an einer bipolaren Störung leidet, die nicht nur Lucile, sondern vor allem ihre beiden Töchter in Gefahr bringt. Sie glaubt, sie könne die Pariser Metro mit ihren Gedanken kontrollieren und stehe in Kontakt mit Claude Monet.

Ein ständiges Fallen und Aufrichten

Sie treibt weiter in ihre eigene Welt. Mehrere Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken folgen. Sie bekommt sich in den Griff, verlebt glückliche Momente mit ihren Enkelkindern und muss den nächsten Schlag einstecken: Bei ihr wird Krebs diagnostiziert. Es ist ein ständiges Fallen und Aufrichten. Fallen und Aufrichten. Am Ende kann die Autorin nur noch resümieren: „Lucile starb, wie sie es sich wünschte: lebendig. Jetzt bin ich in der Lage, ihren Mut zu bewundern.“

Dass die Aufarbeitung einer schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung schon oft literarisch umschrieben wurde, ist auch Delphine de Vigan bewusst. Sie nennt das Gelände „vermint“ und das Thema „abgegriffen“. Und dennoch stellt ihr Buch vieles Zuvorgewesenes in den Schatten. De Vigan ringt mit sich, das wird immer wieder deutlich. Sie unterbricht ihr Schreiben, erzählt von den Schwierigkeiten, allen gerecht werden zu wollen, ihre Mutter nicht zu sehr in die Öffentlichkeit zu zerren und den Geschwistern die Ruhe zu erlauben, die sie sich über Jahre hinweg aufgebaut haben.

Es ist ein großes Familienprojekt, sie alle haben ihren Anteil daran, sie alle haben nicht nur lang verschlossene Kisten wieder geöffnet, sondern vor allem Erinnerungen geteilt und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Allein das ist bewundernswert, mutig, selbstlos, und zeugt von einer tiefen Zuneigung zu einer rätselhaften und zugleich faszinierenden Schwester und Mutter. Diese Faszination ergreift den Leser schon früh, denn der Buchumschlag zeigt ein Originalfoto von Lucile, aufgenommen in Pierremont, dem Ort ihrer Kindheit. Und es ist und bleibt faszinierend.

Fragwürdiger deutscher Titel

Lediglich der deutsche Titel des Buches ist fragwürdig. Im Original heißt das Buch „Rien ne s’oppose à la nuit“ („Nichts steht der Nacht entgegen“). Das Zitat entstammt laut Danksagung Alain Bashungs und Jean Fauques Chanson „Osez Josephine“, der die Autorin beim Schreiben begleitet hat. Muss ein deutscher Verlag im Titel gleich auf die Mutter-Tochter-Beziehung aufmerksam machen? Oder kann nicht auch ein feuilletonistischer Titel Erfolg haben?

Dem „Lächeln meiner Mutter“ sind auch in Deutschland viele Leser zu wünschen. In Frankreich wurde es für alle vier bedeutenden Literaturpreise nominiert.

Delphine de Vigan: Das Lächeln meiner Mutter, Droemer Verlag, München, 2013, 384 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 19,99 Euro, ISBN 978-3426199466

Haut einen um: Der Woodcutter

Rache verjährt nichtLassen Sie sich nicht vom reißerischen Titel täuschen! „Rache verjährt nicht“ ist keiner dieser Krimis, die es zuhauf auf den Tischen der Buchhandlungen zu kaufen gibt. „Rache verjährt nicht“ ist eines der wenigen aktuellen Werke, das den Stempel „Kriminalliteratur“ wirklich verdient. Lesen, lesen, lesen!

Wilfred „Wolf“ Hadda beschreibt sein bisheriges Leben als märchenhaft. Er, einst der einfache Holzfäller, hat sich in die adelige Imogen verliebt, ihr Herz erobert und sie schließlich geheiratet. Wolf kann sein Glück kaum fassen: Mittlerweile ist er ein erfolgreicher Hedgefondsmanager mit einem millionenschweren Vermögen, einem Privatjet und mehreren Wohnsitzen, und er hat diese bezaubernde Frau an seiner Seite. Doch auch in den Märchen leben die Menschen nur glücklich und zufrieden bis an ihr seliges Ende. Dass einen Menschen das schon nach 14 Jahren ereilen kann, erlebt Wolf an einem strahlenden Herbstmorgen im Jahr 2008.

Es klingelt an der Tür. Eine ganze Horde von Polizisten stürmt ins Haus, draußen warten Pressefotografen und ein Fernsehteam, das ganze Programm. Der Inspektor präsentiert selbstgefällig einen Durchsuchungsbefehl, woraufhin Wolf die Sicherungen durchbrennen und er dem Mann die Faust ins Gesicht schlägt. Festnahme. Erst auf dem Polizeirevier erfährt er, dass er Kinderpornografie gehortet und verkauft haben soll. Eine zweite Panikhandlung: Er flüchtet von der Anhörung im Amtsgericht und wird vom Bus überfahren. Als er aus dem Koma erwacht, ist er entstellt. Aus der Traum. Ende vom Märchen. Ab in den Knast.

Zurück in die Wälder von Cumbria

Dass er nach sieben Jahren aus der Haft entlassen wird, verdankt er seiner Psychiaterin Alva Ozigbo. Doch draußen hat er alles verloren: Seine Frau hat sich von ihm scheiden lassen und ist mit seinem Freund und Anwalt liiert, seine Tochter ist an einer Überdosis gestorben und seine Freunde haben sich von ihm abgewandt, obwohl er stets seine Unschuld beteuert hat. Er zieht zurück in die Wälder von Cumbria in Nordengland, wo das Märchen seinen Anfang nahm, und macht sich daran, die Hintergründe seines Falls zu erforschen.

„The Woodcutter“, vom Suhrkamp Verlag nicht nachvollziehbar mit „Rache verjährt nicht“ übersetzt, ist das letzte Werk des 2012 verstorbenen englischen Autors Reginald Hill. Es ist eines jener seltenen Bücher, deren Inhalt man möglichst schnell wieder vergessen will, damit man sie bald mit der Begeisterung des ersten Mals erneut lesen kann.

Der deutsche Titel aber führt in die Irre. Es ist kein Rachefeldzug eines zu Unrecht Verurteilten, sondern eine intelligente Spurensuche nach der Ursache einer perfiden Intrige. Hill hält seine Leser mit Erzählkunst ständig unter Spannung, seine Figuren haben Ecken und Kanten, wirken aber nicht wie so oft am Reißbrett entworfen. Allen voran ist es die Person Wolf Hadda, die den Leser gefangen nimmt. Und dann ist da noch der seltsame, dreiteilige Prolog, der dem Roman vorangestellt ist. Ach, man möchte so vieles darüber schreiben und kann es doch nicht, um nicht zu viel zu verraten.

Lesen Sie den „Woodcutter“, vergessen Sie ihn und lesen Sie ihn wieder. Verschenken und empfehlen Sie ihn, aber lassen Sie ihn nicht liegen. Und freuen Sie sich, dass noch weitere Übersetzungen folgen sollen. Oder wie Wolf Hadda mit Alexandre Dumas sagen würde: „Im Übrigen konnte ein Mensch nur eines tun: warten und hoffen.“ Hoffen wir auf die nächste posthume Veröffentlichung.

Reginald Hill: Rache verjährt nicht, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2012, 686 Seiten, gebunden, 19,95 Euro, ISBN 978-3518463901

Panoptikum des Hochprozentigen

Das Ende der EnthaltsamkeitDas „Golem“ ist eine Bar am Hamburger Fischmarkt, eine vorübergehende Heimstatt für all jene Individuen, die Getränke mit feinen Ingredienzien meist alkoholischer Natur zu schätzen wissen und darüberhinaus eigenwillige Mixturen unterschiedlichster Musikeinflüsse tanzbar finden. Das „Golem“ ist ein Geheimtipp für die Bonvivants und Hedonisten dieser Welt. Das könnte sich ändern. Denn jetzt ist „Das Ende der Enthaltsamkeit“ erschienen. Ein Buch übers Bars, Cocktails, Selbstermächtigung und die Schönheit des Niedergangs, wie es im Untertitel heißt. Ein „Golem“-Buch für die „Golem“-Fanatikerinnen und -Liebhaber und solche, die dazu veranlagt sind.

Wer das „Golem“ betritt, sofern er überhaupt den Eingang findet, könnte meinen, Nick Charles müsse einst zum Stammpublikum gehört haben, dermaßen gekonnt werden dort alkoholische Getränke zubereitet. Nick Charles, Hauptfigur der „Dünne Mann“-Filme aus den 30er Jahren, erklärt in einer Szene von „The Thin Man“ (1934) einem Barkeeper: „The important thing is the rhythm. Always have rhythm in your shaking. Now, a Manhattan you shake to fox-trot time, a Bronx to two-step time, a dry martini you always shake to waltz time.“ (Deutsche Fassung: „Das Allerwichtigste beim Mixen ist der Rhythmus. Auf den müssen Sie unbedingt achten. Ein Manhattan wird selbstverständlich im Fox-Rhythmus gemixt. Und ein Bronx im Two-Step-Rhythmus. Und ein Dry Martini im langsamen Walzertempo.“)

Das Mixen müsste Nick Charles den Barkeepern im „Golem“ nicht mehr beibringen – das beherrschen sie. Nein, Nick Charles würde an der Bar lehnen, einen Dry Martini nach dem anderen trinken und in einem mysteriösen schwarzen Büchlein blättern, das man ihm verschwiegen zugeschoben hat. Ein Leineneinband mit Goldprägung, innen dann und wann illustriert, ein goldenes Lesebändchen zwischen den feinen Seiten.

So wahnwitzig und abgedreht

Es ist ein lesenswertes Panoptikum des Hochprozentigen, das Anselm Lenz, Mitbegründer und Hausdichter des „Golem“, und Betreiber Alvaro Rodrigo Piña Otey auf 270 Seiten versammelt haben. 21 Autorinnen und Autoren, viele von ihnen Gäste der Bar, sorgen mit ihren Beiträgen für mehr oder minder gehaltvolle Unterhaltung, ja, sogar Belehrung. Manches steigt zu Kopf, anderes ist so wahnwitzig und abgedreht, dass es nur im Alkoholrausch zu Papier gebracht worden sein kann. Im Präludium geben die Herausgeber zu bedenken, dass das „Buch als virulente Klolektüre verstanden werden“ will, „im besten Falle noch als Vademecum für Fragen abgehobener und in Schönheit bruchgelandeter Saufkultur“.

Nicht zu ernst nehmen also? Vielleicht. Distanzierte Neugier scheint angebracht, um nicht verschreckt das Büchlein wieder schließen zu müssen. Erwarten Sie nichts, aber lassen Sie sich darauf ein. Laden Sie Freunde zu einem Abend der Alkoholgenüsse, bieten Sie Rauchwaren an und lassen Sie reihum Auszüge aus dem Buch vortragen. Es wird Wirkung zeigen. Ob Heinz Strunk Trinker gegen Abstinenzler antreten lässt, Thomas Ebermann darüber nachdenkt, was Herbert Marcuse Ihnen wohl mitzuteilen hätte, verkehrten tatsächlich Hedonisten im „Golem“, „Tocotronic“-Sänger Dirk von Lowtzow den Song-Text von „Ich will für dich nüchtern bleiben“ beisteuert, der gute Tino Hanekamp einen „Selbstversuch ohne Saufen“ macht, der Künstler und Philosoph Fahim Amir sich dem Thema „Tiere und Alkohol“ widmet oder der Theaterregisseur Nis-Momme Stockmann vom „Prisma-Katapult (Lord der Einhörner)“ erzählt, lassen Sie sich bloß darauf ein!

Lassen Sie sich auch darauf ein, weil sie am Ende von sieben Zirkeln mit einem Appendix belohnt werden, der Ihnen nicht nur bei der Ausstattung und Einrichtung des heimischen Saufkabinetts behilflich sein will (sofern Sie über entsprechende Barmittel verfügen), sondern Sie auch in einige Cocktail-Rezepte des „Golem“ einweiht, die bisher argwöhnisch unter Verschluss gehalten worden sind. Den „Golem“-Fanatikerinnen und -Liebhabern sind die meisten der Rezept-Offenbarungen schon aus den Newslettern „Golem Cogitationes“ bekannt, die Anselm Lenz höchstselbst in regelmäßigen Abständen verfasst. Hier sind sie teilweise gekürzt, bearbeitet und erweitert worden, was sie nicht weniger erhellend macht.

„Was wären wir ohne den magischen Zaubertrank“

Ist das nun bedenklich, ein Buch zu empfehlen, das vom Alkohol handelt und die gepflegte Trinkkultur propagiert? Die Herausgeber versuchen im Präludium einen ersten Vorstoß: „Ist es nicht der Rausch, der kulturelle Höchstleistungen, allen Fortschritt und dazu die Liebe zuerst ermöglicht und bedingt? Was wären wir ohne den magischen Zaubertrank, der, zumindest für einen heidnischen Moment, geeignet ist, uns der rationalen Authentizität unserer beknackten, unbefriedigenden und letztlich doch auch immer nutzlosen Tätigkeit zu entheben?“ Ganz so einfach lassen sich Alkoholgegner aber wohl nicht überzeugen. Wie andere Genussmittel kann auch Alkohol zu einer Sucht führen.

Der Nutzen eines Buchs wie „Das Ende der Enthaltsamkeit“ lässt sich angesichts der Alkoholismusstatistiken nur schwer begründen. Allenfalls kann es dann noch als Kompendium herhalten, wozu Alkoholgenuss auch führen kann. Die Genießer recken das Büchlein in die Höhe und verweisen auf gepflegte Gespräche, philosophische Betrachtungen, die ohne den entfesselnden Geist des Hochprozentigen nicht gedacht worden wären. Aber fürwahr: Bei dem einen oder anderen Text wird sich der Leser fragen, ob der Autor nicht etwas zu tief ins Glas geschaut hat und ihm eine nüchterne Betrachtungsweise besser zu Gesicht gestanden hätte.

Es gibt keine Lösung. „Der Mensch ist frei“, schrieb Clemens Brentano. „Er kann sein Teil sich wählen.“ Dann wähle er: „Das Ende der Enthaltsamkeit“, das Lustwandeln und verschmitzte Lesevergnügen – oder eines der vielen anderen Bücher auf dem Markt.

Anselm Lenz / Alvaro Rodrigo Piña Otey (Hrsg.): Das Ende der Enthaltsamkeit, Verlag Lutz Schulenburg (Edition Nautilus), Hamburg, 2013, 270 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 19,90 Euro, ISBN 978-3894017743