„Jaaa. Weihnachten. Jaja.“

(c) Insel VerlagBereits vor drei Jahren ist im Insel-Verlag das Büchlein „Dezembergeschichten“ erschienen: eine Sammlung von zehn Kurzgeschichten von Peter Bichsel, dem Schweizer Meister der literarischen Kleinode. Es ist Dezember, wir stehen kurz vor dem Weihnachtsfest – keine Zeit eignet sich besser, um dieses famose Buch aufzuschlagen.

Peter Bichsel ist international für seine hervorragende Kurzprosa, aber auch für seine Romane bekannt. In dem nur 60 Seiten umfassenden Bändlein der Insel-Bücherei hat Herausgeberin Adrienne Schneider zehn Texte aus dem großen Werk Bichsels ausgewählt, die thematisch in den Dezember und zur Weihnachtszeit passen. Es sind Geschichten, fürwahr, doch würde Bichsel sie bloß „Kolumnen“ nennen. Einige davon sind auch als solche in der Schweizer Illustrierten erschienen, wo er noch immer publiziert.

Sie erzählen von belauschten Gesprächen in der Eisenbahn, von der Arroganz der Erwachsenen gegenüber Kindern, von Fremdenfeindlichkeit oder auch von Bichsels Großvater und dessen Bananenbaum. Das klingt, abgesehen von der Fremdenfeindlichkeit, in erster Linie sehr vergnüglich, doch mitunter beschleicht den Leser ein ungutes Gefühl, wabernd und wie Nebelschwaden. Denn Bichsel schreibt nicht nur auf, was er beobachtet oder hört. Er ist nicht bloß Chronist des Alltags, sondern legt den Finger in manche Wunden und drückt dann zu.

Beispielhaft sei hier die erste Kurzgeschichte erwähnt, die den schlichten Titel „Feiertage“ trägt. Hier bemerkt Bichsel nicht ohne Ironie unseren nachlässigen Umgang mit christlichen Feiertagen wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten: „Die Feiertage sind nicht besonders, weil sie uns zur Gewohnheit geworden sind, zu einer noch größeren Gewohnheit als der Alltag.“ Solche Sätze schmerzen, weil sie so wahr sind. Und der Rest stimmt wohl leider auch.

Bichsels Miniaturen sind reizvoll schlicht und lassen sich dennoch nicht hintereinander weglesen. So ist das Bändchen „Dezembergeschichten“ eher ein Buch zum Innehalten und Nachdenken. Weniger zum Nachdenken als zum Stirnrunzeln verführt jedoch eine Passage in der Kurzgeschichte „Die heilige Zeit“, wo sich der Schweizer ordentlich in der deutschen Grammatik vertut: „Eine Geschichte hat seine Zeit, hat einen Anfang und ein Ende, wie das Leben.“ Von wem da die Rede ist, bleibt offen. Möglicherweise meint Bichsel mit dem Pronomen sich selbst und nicht etwa die Geschichte. Wohl eher aber liegt er dem Irrglauben auf, wenn alles seine Zeit habe, habe auch eine Geschichte seine Zeit und nicht etwa ihre.

Lehrerkindern und genauen Lesern fallen solche Fehler sofort auf, andere überlesen sie vielleicht. Allen aber sei trotz des kleinen Fehlers dieses Büchlein ans Herz gelegt, für die Weihnachtszeit ebenso, wie für die Zeit davor und danach. Die Herausgeberin schreibt in ihrem Nachwort, dass in nur wenigen Worten eine „detailgenaue Bichselwelt“ entsteht. Bichsels Antwort etwa auf die Frage, was er an Weihnachten mache, sei lapidar: „Jaaa. Weihnachten. Jaja.“ Mehr nicht. Treten Sie also ein in diese Bichselwelt!

Peter Bichsel: Dezembergeschichten, Insel Verlag, Berlin, 2013, 60 Seiten, gebunden, 8 Euro, ISBN 978-3458193883, Leseprobe

„Lichthupe Vollgas“ durchs Theaterleben

Foto: Insel-Verlag„Kellner, Nutten, Taxifahrer und Schauspieler. Alles dasselbe. Dienstleistendes Gewerbe.“ In dem Insel-Bändchen „Alles Theater“ erzählen Berliner Schauspieler wie Ulrich Matthes, Fritzi Haberlandt oder Martin Wuttke sehr persönlich vom Theaterleben, vom Zauber der Bühne und von anderen Dingen. Brigitte Landes hat sie reden lassen und ihre Worte notiert, die Schauspielerin und ehemalige Theaterfotografin Margarita Broich hat zum Fotoapparat gegriffen und sie zum Teil noch in Kostüm und Maske abgelichtet, kurz nachdem sie die Bühne verlassen haben. Entstanden sind 32 Kurz-Porträts, die ein kleiner Schatz sind.

Der 2013 verstorbene Schauspieler Otto Sander ist nur mit dem eingangs erwähnten Bonmot vertreten. Auf der Fotografie trägt er noch sein Bühnenoutfit aus Samuel Becketts „Das letzte Band“, gespielt am Renaissance-Theater in Berlin im Jahre 2009. Auf dem Tisch steht eine Dose Taft-Haarspray, in der rechten Hand hält Sander eine Zigarette. Es sind diese Fotos von Margarita Broich, Ehefrau von Martin Wuttke und neue Kommissarin im „Tatort“ Frankfurt, die für den besonderen Reiz des Büchleins sorgen: Sie hat oft genau im richtigen Moment abgedrückt, bevor die Theaterrolle abfällt und sich die Alltagsrolle wieder an den Leib schmiegt. Das Foto von Otto Sander ist die schlichte Verbildlichung seines Bonmots. Treffender kann ein Porträt kaum sein. Und es ist eine wahre Kunst, diesen Augenblick abzupassen. Das ist Broich gelungen. Sehenswert sind hier übrigens auch Lars Eidinger, Corinna Harfouch und Ben Becker.

Das Buch lässt die Porträtierten zu Wort kommen, aufgeschrieben von Brigitte Landes. Sie hat dabei die Wortwahl und den Duktus ihrer Gesprächspartner löblicherweise übernommen. So schnoddert Alexander Scheer über die „Castorf-Knochenmühle“: „Da merkst du erst nach ein paar Shows, wie geil Castorf das Ding gebaut hat.“ Und das Ensemble geht dabei „Lichthupe Vollgas“ und „voll auf die Zwölf“, muss sich völlig „aufrauchen“.

Auf der anderen Seite philosophiert Burghart Klaußner über den Schutz der „Ersatzwelt der Bühne vor der Erstwelt“, und Fritzi Haberlandt spricht über das Erleben von Glück auf der Bühne, während man eigentlich nur dankbar sein müsse, dass immer noch so viele Menschen ins Theater kommen, um selbst zu erleben und in den Bann geschlagen zu werden.

Auch „Alles Theater“ vermag in den Bann zu schlagen. Es ist zwar nur eine kleine Auswahl von Schauspielern, aber sie ist fein, sie ist in den meisten Fällen interessant, und sie ist vor allem eine gelungene Komposition aus Fotografie und Text.

Margarita Broich/Brigitte Landes: Alles Theater, Insel Verlag, Berlin, 2015, 79 Seiten, gebunden, 18 Euro, ISBN 978-3458200161, Leseprobe

Die verrätselte Frau und der Schurke im gelben Pullover

Roses Lächeln„Roses Lächeln“ war eigentlich eine Fortsetzungsgeschichte. Im digitalen Comic-Magazin „Professor Zyklop“, das im deutsch-französischen Kulturkanal Arte einen Unterstützer hat, erschienen die einzelnen Folgen. Jetzt gibt es alle Teile der Serie von Sacha Goerg in einem handgeletterten Sammelband beim Berliner Reprodukt-Verlag. Der zu Herzen gehende Graphic-Novel-Thriller schafft damit den Sprung in die analoge Welt. Zu Recht, muss man sagen, denn erst als Buch kann er zum Pageturner werden, und erst als Buch lässt er sich mit allen Sinnen erleben.

Goergs Held heißt Desmond, er ist 32 Jahre alt und hat nicht nur seinen Job verloren, sondern ist auf dem besten Wege, auch noch seinen einzigen Sohn Theo an seine Ex-Frau zu verlieren. Die hat sich nach acht Jahren von ihm getrennt und sich gleich einen neuen Mann geangelt. Desmond wird nun das Gefühl nicht los, dass seine Ex-Frau alles dafür tut, dass er seinen Sohn nicht mehr zu Gesicht bekommt.

So ist es nicht gerade sein Glückstag, als Desmond Theo von der Schule abholen will, dort aber nur erfährt, dass seine Ex-Frau ihm schon zuvorgekommen ist. Es schneit, und die Freitreppe vor der Schule ist so spiegelglatt, dass Desmond ausrutscht und sich ordentlich auf den Rücken legt. Der Wind reißt ihm das Foto seines Sohnes aus der Hand, und als er dem durch die Luft wirbelnden Andenken hinterherstürmt, prallt er mit einer fremden Frau zusammen: Rose. Sie entpuppt sich als eine eigentümliche, mysteriöse Person. Die Lösungen der Rätsel, die sie umgeben, halten einige Überraschungen bereit. Eines der Geheimnisse, die es zu lüften gilt, hängt mit der Reliquienjagd eines alternden Industriellen zusammen. Er verfolgt Rose unerbittlich und bringt damit auch Desmond und den kleinen Theo in Gefahr.

Fantastisch gelöst

„Roses Lächeln“ ist ein toll gezeichneter Thriller für die kalten Tage des Jahres. Panelrahmen werden durch Goergs Aquarellzeichnungen völlig überflüssig – das ist hier fantastisch gelöst. Zudem wechselt er immer wieder zu freigestellten Szenen, die die dargestellten Personen noch eindringlicher ins Blickfeld rücken. Manchmal sind die Figuren etwas klischeehaft, aber das stört überhaupt nicht, denn ansonsten haben sie ganz nachvollziehbare Ecken und Kanten. Gelungen sind vor allem die Charaktere Desmond, Rose sowie der gelbe Pullover tragende, homosexuelle Großindustrielle, der vor nichts zurückschreckt.

Sacha Goerg, 1975 in Genf geboren, hat den belgischen Autorenverlags „L’Employé du Moi“ mitbegründet und ist in Deutschland auch als einer der Zeichner der Graphicnovela „Sechs aus 49“ (als Buch bei Schreiber & Leser) bekannt geworden. „Roses Lächeln“ dürfte den Belgier nun noch bekannter machen – es wird Zeit, dass er nachlegt.

Sacha Goerg: Roses Lächeln, Reprodukt Verlag, Berlin, 2015, 102 Seiten, broschiert, 20 Euro, ISBN 978-3956400681, Leseprobe

Seitengang dankt dem Reprodukt-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Der mörderische Leser

FinderlohnIn der Literaturgeschichte finden sich mehrere Beispiele von Schriftstellern, die nur wenige Werke geschrieben haben und dann für ewige Zeiten verstummt sind: Jerome David Salinger, Margaret Mitchell, Emily Brontë oder auch Ralph Ellison. Glücklicherweise war bisher keinem von ihnen das Schicksal beschert, das John Rothstein ereilt hat. Denn der fiktive Autor von nur drei Romanen wird in Stephen Kings neuem Thriller „Finderlohn“ von einem glühenden Fan überfallen und ermordet. King hat damit nicht nur den erzählerisch mitreißenden zweiten Band seiner Trilogie um den alternden Ex-Detective Bill Hodges geschrieben, sondern auch eine lesenswerte Abhandlung über das Spannungsverhältnis zwischen Leser und Autor verfasst.

In King-Kennern wird der Roman schnell Erinnerungen an „Misery“ (in der deutschen Übersetzung hieß der Roman schlicht „Sie“) wachrufen. Darin ließ King eine geistesgestörte Leserin ihren Lieblingsautor gefangenhalten und zum Schreiben zwingen. Ihr gefiel nämlich gar nicht, dass ihre Lieblingsfigur sterben sollte. Ähnlich verhält es sich auch in Kings aktuellem Roman: Morris Bellamy vergöttert John Rothstein, der in den Sechzigerjahren eine berühmte Trilogie geschrieben hat. Im letzten Band geht der Held dieser drei Bücher, Jimmy Gold, in die Werbebranche – für Bellamy ein unfassbares Ende. Seine Identifikationsfigur endet im bürgerlichen Leben. Das hätte nicht geschrieben werden dürfen. Rothstein muss sterben, findet Bellamy. „‚Sie haben eine der größten Gestalten der amerikanischen Literatur erschaffen und dann einfach darauf geschissen‘, sagte Morrie. ‚Ein Mensch, der so etwas tut, verdient es nicht, weiterzuleben.“

Morris Bellamy bringt den Autor, den das Time-Magazin mal „Amerikas scheues Genie“ genannt hat, um und räumt dessen Tresor aus. Darin: Bargeld und Dutzende von Notizbüchern mit zwei weiteren Romanen über Jimmy Gold – für den großen Fan ein unglaublicher Schatz. Doch das Schicksal will es, dass er die Beute zunächst in einem Koffer versteckt vergraben muss, weil er für 30 Jahre wegen einer gänzlich anderen Sache in den Knast wandert. In der Zwischenzeit findet der jugendliche Peter Saubers – ebenfalls Verehrer von John Rothstein – den Koffer. Als Bellamy kurz darauf frei kommt, beginnt die wahrlich nervenaufreibende Hatz.

Kings eigene Leidenschaft für Literatur

Doch die wirkliche Stärke dieses Romans ist die erzählerische Kraft, die er entwickelt, ein Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Viel mehr als der Vorgänger „Mr. Mercedes“ ist „Finderlohn“ auch ein Stoff für’s Kino. Das liegt schon daran, dass King seinen beiden Hauptcharakteren genügend Raum gibt, sich zu entwickeln. Und das ist wirklich fabelhaft erzählt. Privatermittler Bill Hodges tritt erst sehr viel später auf den Plan. Bis dahin macht King keinen Hehl aus seiner eigenen Leidenschaft für Literatur: Immer wieder entwickeln sich Literaturgespräche zwischen handelnden Personen, Lesebekenntnisse werden ausgestoßen, die Welt der Bücher gelobpreist.

Das Verhältnis zwischen Leser und Autor ist ein immer wiederkehrendes Motiv in Kings Werk. Das beste Beispiel ist der bereits eingangs erwähnte Roman „Misery“. Aber auch in seinem Interview mit dem Musikmagazin Rolling Stone (Ausgabe 245 / März 2015) erklärt King, dass er selbst den Ehrgeiz habe, Leuten zu gefallen. „Aber irgendwann kommt auch der Punkt, wo man sich sagt: Ich werde mich nicht prostituieren und genau das schreiben, was man von mir erwartet.“ Insbesondere als er „Mr. Mercedes“ geschrieben habe, was schließlich nichts anderes als ein klassischer Krimi gewesen sei, habe er sich gefragt: „Willst du das machen, wozu dir dein Herz rät – oder das, was Leute von dir erwarten? (…) Schreib besser, was du selbst schreiben willst.“ Zuletzt hat er sein Verständnis von Autor und Leser in einem lesenswerten Aufsatz für die New York Times noch einmal spezifiziert.

„Finderlohn“ ist der erzählerisch besser gelungene, zweite Teil der Hodges-Trilogie, eine Hymne auf Büchernarren dieser Welt und die Mächte der Literatur. Nicht ganz so dramatisch spannend wie „Mr. Mercedes“, aber wie so oft im King-Universum mit dem ersten Teil verknüpft. Bedauerlicherweise lähmt der Auftritt des skurrilen Ermittlertrios die Klasse der Erzählung etwas – dabei sind Hodges und seine zwei Helfer eigentümlich genug, um einen Roman lesenswert zu machen. In „Mr. Mercedes“ haben sie das bewiesen, in „Finderlohn“ leider nicht. Aber das Duell zwischen dem mörderischen Leser Morris Bellamy und dem jungen Fan Peter Saubers entschädigt für alle Schwächen dieses Romans. Im Jahr 2016 soll der abschließende Teil der Trilogie erscheinen. Einen englischen Titel gibt es schon: „Suicide Prince“.

Stephen King: Finderlohn, Heyne Verlag, München, 2015, 544 Seiten, gebunden, 22,99 Euro, ISBN 978-3453270091, Leseprobe

Die Zitate aus dem Rolling Stone-Interview entstammen der deutschen Übersetzung aus der deutschen Magazin-Ausgabe (März 2015). Das Interview führte der US-Autor Andy Greene für die amerikanische Ausgabe des Rolling Stone im Jahr 2014. Veröffentlicht wurde es am 31. Oktober 2014. Zum Zeitpunkt der Rezension ist das Interview im Internet nur auf Englisch vollständig abrufbar.

Reif für die Insel

Der Mann der Inseln liebteAbgesehen vom „Mitternachtsweg“ (2014) ist es zuletzt ruhig geworden um Benjamin Lebert, den einstigen Shootingstar der jungen deutschen Literaturszene. Mit dem autobiografischen Internatsroman „Crazy“ ist er 1999 bekannt geworden, konnte aber nie wieder an diesen Erfolg anknüpfen. Jetzt hat Lebert D. H. Lawrences Erzählung „Der Mann, der Inseln liebte“ neu übersetzt und ein lesenswertes, kluges Vorwort dazu geschrieben. Bibliophil aufgemacht ist das Büchlein im August bei Hoffmann und Campe erschienen und trifft einen aktuellen Nerv.

Man ist reif für die Insel, wenn man Abstand braucht. Vom Arbeitsstress, vom Alltag, von alledem, was unsere moderne Welt so mit sich bringt. Auch die Forderung des Soziologen Hartmut Rosa nach Entschleunigung ist ein Indiz dafür. Die Neuübersetzung von „Der Mann, der Inseln liebte“ kommt deshalb zur rechten Zeit. Denn was der Inseln liebende Mann da treibt, möchte manch einer sicher auch tun: Ausbrechen und den Rückzug wagen, die Abkehr von der allumfassend vernetzten Welt.

Der namenlose Mann, von dem Lawrence erzählt, ist fasziniert von der Idee, eine Insel ganz für sich zu haben und sie seinen Vorstellungen entsprechend anzupassen. „Ist eine Insel groß genug, dann ist sie nicht besser als das Festland. Sie muss wirklich klein sein, damit sie sich auch wie eine Insel anfühlt; und diese Geschichte wird zeigen, wie winzig sie sein muss, bis man sich anmaßen kann, sie mit dem eigenen Wesen auszufüllen“, schreibt Lawrence.

Geister der Vergangenheit

Es ist eine Anti-Robinsonade, die Lawrence da verfasst hat. Zwar ist jede Insel für den Protagonisten zunächst so etwas wie ein Paradies. Er genießt die Abgeschiedenheit von der Welt, liebt den Geruch von Salzwasser, die unterschiedlichen Geräusche des Meeres und die teilweise üppige Flora. Auf der ersten Insel aber stören ihn bald die Geister der Vergangenheit, auf der nächsten sind es plötzliche Vaterfreuden und die ungebändigte Liebe und Bewunderung der Kindsmutter, die ihn förmlich zu Boden drücken und bewegungslos machen. Und so flüchtet er auf die nächste Insel, und die Suche nach der Stille entwickelt sich auch einer Geschichte der Vereinsamung.

D. H. Lawrence ist den meisten Lesern eher durch den skandalumwobenen Roman „Lady Chatterleys Liebhaber“ bekannt. Mit „Der Mann, der Inseln liebte“ gelingt ihm die bestechende Darstellung eines Mannes, der immer wieder versucht, zu sich selbst zu finden, und es doch nicht recht vermag, weil die Außenwelt seinem Plan stets etwas entgegenzusetzen hat. Lawrence zeigt feines Gespür, diesen Mann nicht der Lächerlichkeit preiszugeben. Auf der anderen Seite skizziert er dann und wann auch mit Humor jene Momente, in denen der Inselbewohner sich der störenden Einflüsse bewusst wird. So etwa das plötzliche Erkennen auf der dritten Insel, dass ein Schafblöken genügt, um Widerwillen zu erzeugen. „Er wollte nichts anderes hören als das Wispern des Ozeans und die spitzen Schreie der Möwen, die aus einer anderen Welt zu stammen schienen. Und am liebsten war es ihm, wenn absolute Stille herrschte.“

Lebert hat die Erzählung und Lawrences bildhafte, ausdrucksstarke Sprache sensibel und überzeugend ins Deutsche übertragen. Auch wenn „Der Mann, der Inseln liebte“ zum ersten Mal bereits 1927 erschienen ist, so bleibt der Text auch heute noch immer eine fesselnde Lektüre über das Spannungsverhältnis zwischen der Suche nach Freiheit und der Gefahr der Vereinsamung.

D. H. Lawrence: Der Mann, der Inseln liebte, Hoffmann und Campe, Hamburg, 2015, 80 Seiten, gebunden, 15 Euro, ISBN 978-3455405491