Was Frauen nicht wollen

Wer den Erzählband „Ihr Körper und andere Teilhaber“ der US-amerikanischen Autorin Carmen Maria Machado gelesen hat, bleibt mit Gefühlen von Leere, Wut, Beschämen, aber vor allem mit Ratlosigkeit zurück. Denn allen Geschichten ist gemein, dass es im Grunde keine (Er-)Lösung, keine Antwort gibt, nur ein alles beherrschendes Thema: Die oft erschreckende Lebensrealität von Frauen und welches Leid sie und ihre Körper erfahren müssen.

In den acht Geschichten geht es schlichtweg um Macht und das Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen. In „Der Extrastich“ muss sich eine Frau ihres übergriffigen Mannes erwehren, der nicht akzeptieren will, dass er das seltsame, grüne Band, das sie um ihren Hals trägt, nicht lösen darf. Eine andere Frau, Opfer eines gewalttätigen Übergriffs, stellt fest, dass sie die Gedanken von Schauspielern in Pornofilmen hören kann. Andere verblassen oder lassen sich in ihre Ballkleider einnähen. Eine Frau muss im Wochenbett mit anhören, wie ihr Mann den Arzt fragt, ob der die Vagina seiner Frau nach dem Dammriss nicht noch enger zunähen könne.

Das Buch erschien in den USA Ende 2017; wenige Tage später kamen die Vorwürfe gegen Harry Weinstein ans Licht, er habe zahlreiche Frauen vergewaltigt oder sexuell belästigt. Es folgte die MeToo-Bewegung, und Machados literarisches Debüt erschien als mehr als treffsicherer Kommentar zu den Diskussionen. Den Erfolg ihres Buches nur darauf zu reduzieren, würde aber die hohe literarische Qualität verleugnen. Die New York Times setzte „Ihr Körper und andere Teilhaber“ im Jahr 2018 auf die Liste von „15 bemerkenswerten Büchern von Frauen, die im 21. Jahrhundert die Art und Weise, wie wir Fiktion lesen und schreiben, prägen“.

Bemerkenswert – diese vorsichtig zum Lob anstimmende Meinung werden viele Leser unterschreiben können. Auch jene, die von den allzu phantasiereichen Darstellungen verwirrt oder abgestoßen sind. Manchenorts erinnert Machado an Melissa Broder und ihren ersten märchenhaften Roman „Fische“ (zur Rezension). Dann und wann ist „Ihr Körper und andere Teilhaber“ verstörend oder voller Horror, aber fast immer ist dieses Buch einfach nur brillant und originell. Wie sie über das (teilweise queere) Lieben und Leben mit Männern und Frauen schreibt, über Sex und Verlangen, Körper und Brutalität, ist sonderbar, bizarr, immer sehr deutlich und ohne falsche Scheu, aber auch oft herzerwärmend.

Dem Band ist ein Zitat der Poetin Elisabeth Hewer vorangestellt, das gleich zu Beginn deutlich macht, was hier zu erwarten ist: „Gott hätte Frauen zu Gifttieren machen sollen, als er aus Männern Monster machte.“ Machados Erzählband ist ein erschreckender Erlebnispark, aus dem es kein Entrinnen gibt, denn auch die Jobs der Karussellbremser sind hier allesamt mit Männern besetzt, die einem leise Angst machen und die Kehle zuschnüren.

Machado hat in den USA viel Aufmerksamkeit erregt, und sie hat noch so viel mehr davon auch in anderen Ländern verdient. Offen und mutig für den Feminismus eintretend, so sind die literarischen Stimmen, die diese Welt für Frauen positiv verändern können. Machados ist darunter eine der lautesten und beeindruckendsten.

Carmen Maria Machado: Ihr Körper und andere Teilhaber, Tropen Verlag, Stuttgart, 2019, 300 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3608503975, Leseprobe

Es war einmal – verschollen

Es ist wieder diese Zeit angebrochen, in der sich manch Familie in der Stube um den großen Ohrensessel sammelt, und jemand aus ihrer Mitte aus alten Büchern vorliest. Währenddessen prasselt ein Feuer im Kamin, und draußen ist es unwirtlich, stürmisch und kalt. In der Anderen Bibliothek sind jetzt die „Verschollenen Märchen“ von Johann Wilhelm Wolf in einem feinen Extradruck erschienen, die sich vortrefflich für solche Stunden eignen. Zum Lesen und Vorlesen – ein wahrlich hinreißender Genuss!

Märchen sind im deutschsprachigen Raum vornehmlich mit den Brüdern Grimm verbunden. Deren berühmte Sammlung der „Kinder- und Hausmärchen“ dürfte in vielen Bücherregalen zu finden sein. Als Jacob und Wilhelm Grimm im 19. Jahrhundert schon die ersten Auflagen unters Volk gebracht hatten, machte sich in Hessen auch ein bis heute weitgehend unbekannt gebliebener Mann namens Johann Wilhelm Wolf auf, um seinerseits Erzählungen von gar wundersamen Begebenheiten zu sammeln.

„In Darmstadt war nichts zu gewinnen“

„In unserem Wohnort Darmstadt war natürlich (…) nichts zu gewinnen, darum zogen wir in den Odenwald, um dort in der noch weniger von der sogenannten ‚Aufklärung‘ und dem ‚Fortschritt‘ angesteckten Bevölkerung die frisch duftenden Blüthen zu lesen“, schreibt Wolf in seiner Vorrede.

Das Material für seine „Deutschen Hausmärchen“ trug er mit seinem Schwager, dem in Darmstadt stationierten Lieutenant und Millitärschriftsteller Wilhelm von Ploennies, Sohn der Dichterin Luise von Ploennies, zusammen. Sie befragten die Soldaten der Kompanie, besuchten die Spinnstuben des Odenwaldes und die Wirtshäuser an der Bergstraße. Und allerorten erzählten die Menschen ihnen ihre Geschichten. Darunter die „von einem Pfarrer, der zu kräftig predigte“, von der „Schlange im brennenden Wald“, den „13 verwünschten Prinzessinnen“, „von der schönen Schwanenjungfer“ sowie jene über „die eisernen Stiefel“. Die beiden letzten lobt Wolf in seiner Vorrede als „zwei der schönsten Märchen“.

Puff! Aus der Traum!

Die Geschichte von der Schwanenjungfer, ausgearbeitet von Wilhelm von Ploennies, erzählt von einem jungen Jägerburschen, dem auf der Pirsch eine „wunderherrliche Jungfrau“ begegnet, die ihr Leben jedoch als Schwan fristen muss. Um sie zu erlösen, soll der Jäger jeden Sonntag ein Vaterunser für sie beten und nie wieder von ihrer Schönheit sprechen. Das alles gelingt ihm recht prächtig, bis er die Prinzessin von Frankreich heiraten soll – und die Ehre einem anderen Mann zubilligt.

Da wünscht der König zu erfahren, warum der Jäger seine Tochter verschmäht. Und der erzählt kurzerhand von seiner Braut, die noch tausendmal schöner sei als die Prinzessin. Puff! Aus der Traum! Um die Schwanenjungfer dennoch zu erlösen, muss der liebestolle Jäger jetzt noch viel härtere Prüfungen überstehen und seine Braut auf dem gläsernen Berg und in der finsteren Welt suchen gehen. Er macht Bekanntschaft mit den Klauen des Vogels Greif und erleidet während dreier Nächte manche schauderliche Pein.

Gelebte Wortschatzpflege

Die Andere Bibliothek hat die Märchensammlung glücklicherweise nicht in den Duktus der Jetztzeit übertragen, wie viele Verlage derzeit Klassiker neu zu beleben versuchen, sondern sie im Urzustand belassen. Wir können also Wörter lesen, die der „Verein deutsche Sprache“ (früher: „Verein zur Rettung der deutschen Sprache“) vermutlich schon auf die Rote Liste gesetzt hat. Dieses Märchenlesen ist also auch gelebte Wortschatzpflege.

Dazu hat der Verlag das Buch gewohnt bibliophil editiert. Ein bezaubernd gestalteter Leineneinband schmeichelt der Hand, die ihn hält, und den Augen, die ihn betrachten. Schon hier begegnen wir dem ersten Schwan. Er trägt die Krone, die wir auch über dem Titel jedes Märchens wieder aufgegriffen sehen. Und mit dem farblich passenden Lesebändchen findet der Vorleser gleich zur zuletzt vorgetragenen Seite zurück.

Gestaltet hat das alles die Berliner Typografin Manja Hellpap, die für die Andere Bibliothek bereits mehrere Werke bearbeitet hat. Darunter findet sich unter anderem Selma Lagerlöfs „Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden“. Bereits 1988 hatte der Verlag die „Verschollenen Märchen“ als limitierte Ausgabe und im Schuber veröffentlicht. Da die Ausgabe jedoch inzwischen vergriffen ist, war es an der Zeit, dass Wolfs Märchen erneut gedruckt wurden. Solche Sprache, solch ein Schatz darf nicht verschollen sein!

Johann Wilhelm Wolf: Verschollene Märchen, Die Andere Bibliothek, Berlin, 2016, 348 Seiten, gebunden, Lesebändchen, 16 Euro, ISBN 978-3847740322

„Jaaa. Weihnachten. Jaja.“

(c) Insel VerlagBereits vor drei Jahren ist im Insel-Verlag das Büchlein „Dezembergeschichten“ erschienen: eine Sammlung von zehn Kurzgeschichten von Peter Bichsel, dem Schweizer Meister der literarischen Kleinode. Es ist Dezember, wir stehen kurz vor dem Weihnachtsfest – keine Zeit eignet sich besser, um dieses famose Buch aufzuschlagen.

Peter Bichsel ist international für seine hervorragende Kurzprosa, aber auch für seine Romane bekannt. In dem nur 60 Seiten umfassenden Bändlein der Insel-Bücherei hat Herausgeberin Adrienne Schneider zehn Texte aus dem großen Werk Bichsels ausgewählt, die thematisch in den Dezember und zur Weihnachtszeit passen. Es sind Geschichten, fürwahr, doch würde Bichsel sie bloß „Kolumnen“ nennen. Einige davon sind auch als solche in der Schweizer Illustrierten erschienen, wo er noch immer publiziert.

Sie erzählen von belauschten Gesprächen in der Eisenbahn, von der Arroganz der Erwachsenen gegenüber Kindern, von Fremdenfeindlichkeit oder auch von Bichsels Großvater und dessen Bananenbaum. Das klingt, abgesehen von der Fremdenfeindlichkeit, in erster Linie sehr vergnüglich, doch mitunter beschleicht den Leser ein ungutes Gefühl, wabernd und wie Nebelschwaden. Denn Bichsel schreibt nicht nur auf, was er beobachtet oder hört. Er ist nicht bloß Chronist des Alltags, sondern legt den Finger in manche Wunden und drückt dann zu.

Beispielhaft sei hier die erste Kurzgeschichte erwähnt, die den schlichten Titel „Feiertage“ trägt. Hier bemerkt Bichsel nicht ohne Ironie unseren nachlässigen Umgang mit christlichen Feiertagen wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten: „Die Feiertage sind nicht besonders, weil sie uns zur Gewohnheit geworden sind, zu einer noch größeren Gewohnheit als der Alltag.“ Solche Sätze schmerzen, weil sie so wahr sind. Und der Rest stimmt wohl leider auch.

Bichsels Miniaturen sind reizvoll schlicht und lassen sich dennoch nicht hintereinander weglesen. So ist das Bändchen „Dezembergeschichten“ eher ein Buch zum Innehalten und Nachdenken. Weniger zum Nachdenken als zum Stirnrunzeln verführt jedoch eine Passage in der Kurzgeschichte „Die heilige Zeit“, wo sich der Schweizer ordentlich in der deutschen Grammatik vertut: „Eine Geschichte hat seine Zeit, hat einen Anfang und ein Ende, wie das Leben.“ Von wem da die Rede ist, bleibt offen. Möglicherweise meint Bichsel mit dem Pronomen sich selbst und nicht etwa die Geschichte. Wohl eher aber liegt er dem Irrglauben auf, wenn alles seine Zeit habe, habe auch eine Geschichte seine Zeit und nicht etwa ihre.

Lehrerkindern und genauen Lesern fallen solche Fehler sofort auf, andere überlesen sie vielleicht. Allen aber sei trotz des kleinen Fehlers dieses Büchlein ans Herz gelegt, für die Weihnachtszeit ebenso, wie für die Zeit davor und danach. Die Herausgeberin schreibt in ihrem Nachwort, dass in nur wenigen Worten eine „detailgenaue Bichselwelt“ entsteht. Bichsels Antwort etwa auf die Frage, was er an Weihnachten mache, sei lapidar: „Jaaa. Weihnachten. Jaja.“ Mehr nicht. Treten Sie also ein in diese Bichselwelt!

Peter Bichsel: Dezembergeschichten, Insel Verlag, Berlin, 2013, 60 Seiten, gebunden, 8 Euro, ISBN 978-3458193883, Leseprobe

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