Eden im Jenseits

„Lass uns jeden Tag das Leben endlos spüren / Und uns niemals unsre Ehrlichkeit verlieren“, heißt es in dem deutschen Schlager „Jenseits von Eden“ von Nino de Angelo. In dem neuen Kriminalroman „Das Ende von Eden“ des US-amerikanischen Autors Stephen Amidon ist Eden kein (biblischer) Ort, sondern eine junge Frau von 20 Jahren, und trotzdem passt das Schlager-Zitat. Irgendwer hat Eden zwischen Abend und Morgen in der idyllischen Bostoner Vorstadt Emerson ins Jenseits befördert. Dorothy Gates, Detective bei der State Police, sagt es Edens Mutter, wie es ist: „Man kann das einfach nicht schonend sagen. Eden ist tot.“ Was danach in dem Örtchen geschieht, ist perfekte Serienvorlage, ist Zeugnis für menschliche Abgründe, für Klassenunterschiede und die Macht des Geldes. Und es ist gut geschrieben.

Der 1959 geborene Stephen Amidon ist in Deutschland leider ein völlig unbekannter Autor. Abgesehen von „Das Ende von Eden“ (im Original: „Locust Lane“), das in diesem Jahr erschienen ist, haben es nur „The New City“ im Jahr 2000 als „Traumstadt“ sowie „Human Capital“ 2006 als „Der Sündenfall“ in eine deutsche Übersetzung geschafft (2019 mit Liev Schreiber verfilmt). In den USA dagegen ist Amidon durchaus ein Name. Wendy Smith schrieb im Januar in der Washington Post über ihn: „Stephen Amidon hat in den letzten drei Jahrzehnten eine Reihe von ebenso fesselnd lesbaren wie scharfkantigen Romanen über so unbequeme Fakten des amerikanischen Lebens wie Rasse, Klasse und Geld geschrieben.“ Auch in „Das Ende von Eden“ bleibt er dieser Linie treu. Opfer dieser Geschichte ist am Ende nicht nur das Mord-Opfer.

Eden, die in voller Pracht Eden Angela Perry heißt, liegt – offenbar erschlagen – im Haus der Bondurants. Dort war Eden seit drei Monaten als eine Art Haushälterin und Hundesitterin angestellt, dabei sind Eden und ihre Mutter Danielle mit der wohlhabenden Familie über mehrere Ecken verwandt. Danielle und Eden hatten eine Auszeit vereinbart, so wie auch Partnerschaften manchmal eine Auszeit brauchen, damit sich alle Beteiligten besinnen können. Eden, die hin und wieder dummes Zeug macht, weil das einfacher ist, die aber keiner Fliege was zuleide tun kann. Eden, die Menschen allzu leichtherzig vertraut. Eden, die ihre Mutter zum Wahnsinn getrieben hat, die von ihrer Mutter jedoch im selben Atemzug als Engel beschrieben wird. „Es ist schwer zu erklären. Dafür muss man sie kennen“, sagt Danielle. Was nun schwierig geworden ist.

Aber glaubt man ihm?

Ihren letzten Abend hat Eden mit drei Leuten von ihrer Schule verbracht: Christopher Mahoun, der schwer in sie verknallt war, sowie Jack Parrish und Hannah Holt, die beide ein Paar sind. Die Polizei hat schnell einen Verdächtigen ausgemacht, der es gewesen sein kann. Gewesen sein muss. Christopher Mahoun, Sohn eines libanesischen Einwanderers und bekannten Gastronoms in der Stadt, war von ihnen allen der letzte, der Eden lebend gesehen hat. Er beteuert jedoch, dass er sie nicht angefasst, dass sie noch gelebt hat, als er sie in der Nacht verließ. Und er kann auch die Kratzer an seinem Hals erklären. Aber glaubt man ihm?

Alle drei Jugendlichen fallen zu Hause auf. Noch in der Nacht oder am nächsten Morgen. Sie alle haben etwas zu verbergen. Auch die mitunter schwerreichen Eltern. Da ist Lug und Betrug, da sind Alkohol und Drogen im Spiel, falsche Freundschaften brechen auf und moralische Grenzen verschwimmen. Manch einer rächt sich, andere halten aus vermeintlich hehren Motiven schützend ihre teuren Hände über die Köpfe ihres Nachwuchses.

Für die Polizei passt es bei Christopher Mahoun einfach am besten. Für die Kommentatoren in den Sozialen Medien ohnehin: ein Dunkelhäutiger, der ein weißes Mädchen aus der privilegierten Schicht killt, weil sie ihn abblitzen lässt? Da ist der Schuldige also schnell gefunden, und die Hexenjagd beginnt mit all ihren hässlichen Fratzen.

Kluger Wechsel der Erzählstimmen

Stephen Amidon schreibt seinen Kriminalroman aus der Sicht von fünf Erwachsenen: Hannahs Stiefmutter, Jacks Mutter, Christophers Vater, Edens Mutter und aus der Sicht eines eigentlich unbeteiligten Dritten, der in der besagten Nacht etwas gesehen hat, sich aber aufgrund eines Alkoholproblems nicht traut, zur Polizei zu gehen. Geschickt rationiert Amidon die Häppchen, die er uns vorlegt und mit denen wir der Lösung immer wieder nahe zu kommen glauben. Nur um uns gleich danach wieder auf eine völlig neue Fährte zu bringen. Klug lässt der Autor seine fünf Erzählstimmen die Blickwinkel wechseln – und wir wissen nie sicher, welcher davon wie zu trauen ist.

Die Figurenzeichnung ist in ihrer Tiefe fast ausschließlich gut gelungen, vor allem die der Frauen. Oberflächlich gesehen bedient sich Amidon zwar gängiger Klischees von Klassenunterschieden. So ist Danielle, die Mutter der getöteten Eden, mit ihren Tattoos („Ich bin die illustrierte Ausgabe“) und den schwarz gefärbten Haaren der Arbeiterklasse zuzurechnen, während die anderen Frauen aus der oberen Mittelschicht edel wohnen, nicht arbeiten müssen und sich mit Geld ein paar Probleme vom Leib schaffen können. Amidon darauf zu relativieren, wäre aber falsch. Denn der Autor versteht es, die Innensicht seiner Figuren psychologisch nachvollziehbar darzustellen. Nur Michel, der Vater des Hauptverdächtigen, sowie die beiden Detectives bleiben ungewöhnlich blass. Im Hinblick auf seine wichtige Rolle im Innenverhältnis zu seinem Sohn ist das vor allem bei Michel unverständlich.

Sorgfältig ausstaffiert

Amidon schreibt gut, und Alice Jakubeit hat seinen Text in ein flüssiges Deutsch übertragen, das auch den Sarkasmus transportiert, mit dem Amidon seine Figuren manchmal sprechen oder denken lässt. Der Autor gibt seiner Geschichte viel Zeit, sich zu entwickeln. „Das Ende von Eden“ ist also kein atemloser Pageturner, der mit Cliffhangern arbeitet, sondern eine gesellschaftskritische Kriminalgeschichte, die nach und nach sorgfältig ausstaffiert wird.

Die Auflösung kommt schließlich unerwartet, heftig und erschütternd und öffnet uns in diesem Roman einmal mehr die Augen, wie Gerechtigkeit zurechtgebogen wird, wenn Menschen mit Geld ihre Macht und ihren Einfluss ausnutzen. Das Ende ist kein versöhnliches. Mit seiner Bitterkeit wird es nicht allen schmecken. Aber es hinterlässt uns nicht ohne Hoffnung, trotz der noch offenen Fragen.

Hoffen wir außerdem, dass der Droemer-Verlag mit „Das Ende von Eden“ genug Aufmerksamkeit auf dem deutschsprachigen Buchmarkt erzeugen kann, damit auch die anderen Romane von Stephen Amidon eine deutsche (Neu-)Übersetzung erfahren. Ansonsten bleibt uns nichts anderes übrig, als die Bücher im Original zu lesen. Entdecken Sie Stephen Amidon!

Stephen Amidon: Das Ende von Eden, Droemer-Verlag, München, 2023, 381 Seiten, broschiert, 16,99 Euro, ISBN 978-3426283929, Leseprobe

Vertraue niemandem – außer dieser Rezension

„Bühne“ sagt man. Nicht „Theater“. Das ist die erste Lektion, die die neuen Schauspielschülerinnen und -schüler an der Elite-Schule CAPA von dem berüchtigten, unkonventionellen Lehrer Mr. Kingsley lernen. Bühne. Die Bretter, die die Welt bedeuten. An der CAPA bedeuten sie auch Schmerz und Macht.

Das erfahren ganz besonders die beiden Hauptfiguren in Susan Chois fünftem Roman „Vertrauensübung“, der jetzt erstmalig auf Deutsch im Kjona-Verlag erschienen ist, toll übersetzt von Tanja Handels und Katharina Martl. Man sollte ihn jedoch nicht bloß „Roman“ nennen. Man nenne ihn „Kunst“. Oder auch: „Kaleidoskop“. Das sah auch die Jury des wichtigsten US-Literaturpreises so: Choi wurde für diesen Roman 2019 mit dem National Book Award ausgezeichnet.

Lassen Sie sich fallen

Haben Sie schon einmal an einer Vertrauensübung teilgenommen? Die einfachste ist: Sie stellen sich vor eine Person, der Sie vertrauen, und lassen sich rückwärts fallen. Werden Sie aufgefangen, ist die Vertrauensübung geglückt. Andernfalls sollten Sie möglicherweise Ihr Vertrauen zu der anderen Person überdenken.

An der CAPA, der Citywide Academy for the Performing Arts, die Teenager aufnimmt, die schon in jungen Jahren als Darsteller vielversprechend scheinen, gehören solche Vertrauensübungen zum Lehrprogramm, allerdings in scheinbar endlosen Variationen.

Im Jahr 1982 begleiten wir Sarah und David, zwei 15-Jährige, die gerade neu an der CAPA angenommen worden sind, durch ihr erstes Schuljahr. Sarah, die aus einfachen Verhältnissen stammt, und David, Spross eines wohlhabenden Elternhauses, ein „rich kid“, verlieben sich trotz aller Unterschiede und Ungereimtheiten ineinander. Doch diese Vertrauensübung geht schief. Sarah tritt hinter Davids Rücken zur Seite, als der sich gerade öffentlich fallen lassen will.

Grausam demütigende Bühnenarbeit

Stattdessen tritt nun Mr. Kingsley hinter Sarah und wird ihr Vertrauenslehrer. Ganz ohne sexuelle Konnotation. Vielleicht. Denn Mr. Kingsley ist doch schwul, erinnert sich Sarah immer wieder. Sie erzählt von ihrer misslungenen Liebesgeschichte, und Mr. Kingsley tritt hinter ihr zur Seite, lässt sie fallen und nutzt das Gehörte für grausam demütigende Bühnenarbeit und Zurschaustellung von Sarah und David. Wie sehr aber kann Mr. Kingsley seiner eigenen Macht vertrauen? Als er sich einem Jungen namens Manuel zuwendet, reagiert Sarah.

Und wie sicher sind Sie als Leserin, als Leser, dass die Autorin Sie auffängt, wenn Sie sich rücklings fallen lassen? Seien Sie nicht zu beruhigt. Denn der ganze Roman ist eine Vertrauensübung, die Sie nicht bestehen werden. Haben Sie Seite 178 erreicht, beginnt ein neuer Teil des Buches, der überschrieben ist mit „Vertrauensübung“. Und haben Sie Seite 316 gelesen, beginnt der dritte Akt. Er heißt: „Vertrauensübung“. Ich werde mich hüten, Ihnen genau zu erzählen, was es mit diesem meta-fiktionalen Teil auf sich hat – Ihnen entgeht am Ende noch der Genuss des Fallens.

Psychologisch wie strukturell raffiniert aufgebaut

Susan Choi schafft mit ihrem Roman ein vielschichtiges, zu Diskussionen und Interpretationen anstiftendes Werk, das wie ein Kaleidoskop immer neue Facetten aufblitzen lässt. Psychologisch wie strukturell ist der Roman raffiniert aufgebaut, das Dasein an einer Schauspielschule treffend gezeichnet; und das ist ja noch längst nicht alles.

Die Autorin war einst selbst Schülerin an einer solchen High School, wie sie in ihrer Danksagung schreibt: „Ganz ausdrücklich das positive Gegenstück zu meiner fiktiven CAPA und ein Hort der Träume, nicht der Albträume.“

Susan Choi, die 1969 als Tochter eines koreanischen Vaters und einer jüdischen Mutter in South Bend im US-Bundesstaat Indiana zur Welt kam, erzählte dem New York Magazine 2019 (sehr lesenswert!), beim Schreiben habe sie eine verrückte Wut angetrieben. Zum einen über die Trennung von ihrem Ehemann nach 13 Jahren. Zum anderen über die erfolgreiche Präsidentschaftskandidatur von Donald Trump, ganz besonders aber über dessen Prahlereien mit sexueller Gewalt („grab’em by the pussy“).

Lesen Sie dieses Buch. Geben Sie es auch Freundinnen und Freunden, denn Sie werden Vertraute suchen, mit denen Sie darüber sprechen können. Es ist ein Roman, dem Sie nicht vertrauen können, der jede Leserin und jeden Leser auf Loyalität testet und zugleich Lügen und Wahrheiten kunstvoll verstrickt, um daraus etwas Neues zu schöpfen. Aber ist es eine Lüge? Ist es Wahrheit? Was ist es? Keine leichte Kost, aber dennoch: unbedingt lesen! Doch gestatten Sie mir noch eine Frage: Vertrauen Sie mir?

Susan Choi: Vertrauensübung, Kjona-Verlag, München, 2023, 349 Seiten, gebunden, 25 Euro, ISBN 978-3910372115

Seitengang dankt dem Kjona-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Flucht ins Ungewisse – brillant erzählt

Sind Sie schon einmal in einer Citroën DS gefahren? Wie sie dahinschwebt, leicht und vergnüglich. So liest sich zeitweilig „Villa Royale“, das außergewöhnliche und wundervoll geschriebene Romandebüt der Französin Emmanuelle Fournier-Lorentz.

Scheinbar leicht. Denn: Wenn man den Kofferraum öffnet, ist darin das schwere Gepäck. Daran hat Palma schwer zu schleppen, denn sie ist gerade erst elf Jahre alt, als ihr Vater unerwartet stirbt. Man sagt, jeder hat sein Päckchen zu tragen. Palmas Familie trägt jetzt aber auch noch das des Verstorbenen. Es ist keine Backsteinsammlung, die da so schwer wiegt, sondern das Leben eines nahen Menschen, das unbekannt geblieben ist, und das jetzt nach und nach ausgepackt wird. Mit allen Konsequenzen, die das haben kann.

Eine DS gibt’s in diesem Roman nicht, stattdessen einen orangefarbenen Renault R5. In diesem flüchten Palma, ihre beiden Brüder Charles und Victor sowie ihre Mutter quer durch Frankreich, nachdem der Vater eines Morgens tot auf dem Teppich lag. Alle drei Monate packt ihre Mutter wieder die Sachen zusammen, und dann geht es weiter, mit Sack und Pack, mit Kind und Kegel, im eigentlich viel zu engen Rennbrötchen.

Da machen die Präsidenten Urlaub

Von La Réunion reisen sie zu Palmas Großmutter nach Marseille, von dort in ein Kaff im Aveyron, wo die Mutter einen Job gefunden hat. Die Großmutter flunkert, da machten die Präsidenten Urlaub. „Dass das gar nicht stimmte, wussten wir ja nicht, und waren begeistert. Sie hat wohl selbst daran geglaubt.“

Das Auto, der R5, diese französische Knutschkugel, sie wird zum heimlichen Hort, an dem die Familie über das bisher Ungesagte sprechen kann. Wo die Kinder fragen und die Mutter manchmal mehr sagt, weil sie den Blick auf der Straße hat. Wo sie gemeinsam einen Weg aus der Trauer suchen, der nicht nur aus Wegfahren besteht.

Wir erleben das alles aus Sicht der anfangs elfjährigen Palma, die so heißt wie das Restaurant in New York, in dem ihre Mutter erfuhr, dass sie mit Palma schwanger war. Palma versteht das alles nicht, die ständigen Umzüge. An einer Stelle sagt sie, dass sie doch hätten in Marseille bleiben können, „an diesem heilen Ort im Warmen, über den das Unglück keine Macht zu haben schien“. Doch stattdessen geht’s von Ort zu Ort. Nächster Halt: Escamadur, ein Fleckchen Erde, das auf keiner Karte Frankreichs verzeichnet ist.

Drei Kartons sind ihre einzig verbliebene Umzugsmasse

Drei Kartons sind ihre einzig verbliebene Umzugsmasse. „Vielleicht hätten wir uns nie davon erholt, dass unser Vater gestorben war und wir unsere Wohnung verloren hatten, aber zumindest hätte die Sonne geschienen.“ Und vielleicht hätten sie auch endlich mal im Telefonbuch gestanden. Das nämlich ist „fast schon ein Traum“ von Palma, verrät sie ihren Brüdern. Stattdessen muss sie sich fragen, ob die Familie irgendwann in einem Auto leben müsste, weil sich ihre Mutter kein festes Dach mehr über den Kopf leisten kann.

Später, als die Mutter schon die Post nicht mehr liest, die Rechnungen nicht mehr bezahlt und der Telefon- und Fernsehanschluss abgestellt sind, erkennt Palma, warum sie immerzu umziehen, umziehen, umziehen: „Hinter unseren fluchtartigen Umzügen verbarg sich ein ganz einfaches, klares Bedürfnis: dem Tod ausweichen. Dem Schicksal ein Schnippchen schlagen, nie irgendwo richtig ankommen, damit sich bloß nichts von dem, was geschehen war, wiederholte. Keine Wurzeln, keine Freunde, keine Tragödien.“ Was für ein Leben.

Hervorragende Erzählstimme

„Villa Royale“ ist trotz der bedrückenden Themen, der körperlichen und seelischen Trauerarbeit der Familie und der Belastungsprobe für die drei Geschwister, so reich an intensiven Momenten, die wir vor allem der hervorragenden Erzählstimme verdanken. Sie versorgt uns mit Eindrücken, die hängen bleiben und die manchmal wie ein Schlüssel an einem Band um den Hals im Takt der Laufschritte schmerzhaft auf die Brust klopfen. Palma erzählt über einen Zeitraum von mehreren Jahren von ihren Erlebnissen. Und von ihrer Familie, die sich wie ein Bollwerk durch alle Ungemütlichkeiten schiebt, verlässlich und mit vollem Vertrauen für das sichere Auffangnetz, das die anderen stets in ihren Händen halten.

Zunächst hat der Roman eine kindliche Stimme, die auch trotzig ist, die aber auch diesen ulkigen Humor hat, der in scheinbar unpassenden Momenten alle anderen aus ihrer Starre holt. Und schließlich wird aus der Kinderstimme diese Erzählstimme, die erwachsen wird, die mehr überblickt, mehr ahnt, mehr auch zwischen Tönen versteht, zwischen Zeilen lesen und in der Stille Ungesagtes hören kann. Das alles beschreibt Emmanuelle Fournier-Lorentz sprachlich so virtuos und hat die Übersetzerin Sula Textor so treffend ins Deutsche übertragen, dass es eine Wonne ist. Ja, dass es eine eigene „Villa Royale“ ist, deren Wände mit Teppichen aus ergötzlicher Sprache bespannt sind.

Emmanuelle Fournier-Lorentz ist für ihren atmosphärisch dichten Debütroman mit dem Prix Michel-Dentan ausgezeichnet worden, einem der wichtigsten und prestigeträchtigsten Literaturpreise der Westschweiz. Die lesenswerte (französischsprachige) Laudatio ist hier nachzulesen. Fournier-Lorentz, 1989 in Tours geboren, lebt seit 2012 in Lausanne und arbeitete bis 2016 bei der Genfer Tageszeitung Le Courrier. Mit „Villa Royale“ hat sie ihren ersten leuchtenden Stern am Literaturhimmel schon gesetzt. Man darf sehr gespannt sein, was danach noch kommt.

Emmanuelle Fournier-Lorentz: Villa Royale, Dörlemann-Verlag, Zürich, 2023, 287 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 25 Euro, ISBN 978-3038201212, Leseprobe

Seitengang dankt dem Dörlemann-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Der vergessene Schöpfer des unvergesslichen Central Parks

Hand aufs Herz: Kennen Sie den US-Amerikaner Andrew Haswell Green? Die meisten Menschen dürften das verneinen, obgleich sie im selben Atemzug eine Frage nach der Bekanntheit des Central Parks von New York City bejahen würden. Ohne Andrew Haswell Green gäbe es heutzutage jedoch keinen Central Park, keine New York Public Library, kein Metropolitan Museum of Art. Zum Anfang des 20. Jahrhunderts erhielt Green gar den Beinamen „Vater von Greater New York“, weil er entscheidend daran mitgewirkt hat, dass sich Manhattan und Brooklyn, Queens und Staten Island zu einer einzigen Stadt vereinen.

Und heutzutage? Ist der Mann nahezu vergessen. Dank eines einfühlsamen Romans des britischen Autors Jonathan Lee dürfte sich das in Teilen ändern oder bereits geändert haben. Im vergangenen Frühjahr erschien im Diogenes-Verlag sein Buch „Der große Fehler“. Es erzählt die bewegende Lebensgeschichte von Andrew Haswell Green – aber auch die mysteriösen Hintergründe seines abrupten und tragischen Ablebens. Denn Green wurde plötzlich und unerwartet auf der Treppe vor seinem Haus mit fünf Pistolenkugeln niedergestreckt. Wer sollte diesem Mann von 83 Jahren nach dem Leben trachten?

Der bei London aufgewachsene Jonathan Lee ist bereits 2012 nach New York City gezogen und spaziert gern durch den Central Park. Eines Tages entdeckt er eine marmorne Bank, die schon etwas verwittert ist. Tauben haben ihre Geschäfte darauf erledigt, und einmal pro Woche kommt jemand, um den Dreck zu entfernen. In die Rückenlehne ist eine Inschrift eingraviert: „Zu Ehren von Andrew Haswell Green / Dem Schöpfergeist des frühen Central Park / Vater von Greater New York“. Der Name sagt Jonathan Lee, dem Autor von drei Romanen, dem New Yorker Verlagsmitarbeiter und Drehbuchschreiber, überhaupt nichts. Null. Er beginnt zu recherchieren und weiß bald: Das wird mein nächster Roman.

Erzählerisch äußerst gelungen

Der ist vor allem erzählerisch äußerst gelungen und sprachlich glänzend geschrieben. Es ist weniger ein Kriminalroman als ein biographischer Zugang in das New York zur Jahrhundertwende. Natürlich behandelt Lee auch die Ermittlungen des wunderbaren Inspectors McClusky, der in der Not steht, sich beweisen zu müssen, nachdem er zuvor durch ein Ungeschick seinen Ruf in der Polizeitruppe ruiniert hat. Dieser Erzählstrang nimmt jedoch nicht so viel Zeit ein, wie der Klappentext des Buches das vermuten ließe.

Auf einer zweiten Zeitebene erzählt Lee detailreich vom Aufwachsen, Leben und Handeln des einst berühmten Mannes. Greens Eltern haben elf Kinder, er selbst ist das siebte in der Reihe. Ein zurückhaltender, schmächtiger Junge, der Ordnung liebt und gerne zeichnet, dem aber nicht erlaubt wird, die Schule zu besuchen. Denn seine Arbeitskraft ist auf dem Bauernhof der Familie in Massachusetts wesentlich mehr von Nöten. Als Green 12 Jahre alt ist, stirbt seine geliebte Mutter. Ein Schock für ihn. Als man ihn dabei erwischt, wie er seinen besten (und einzigen) Jugendfreund küssen will, schickt ihn der Vater in die Lehre bei einem befreundeten Gemischtwarenhändler in New York.

Dort blüht Andrew Haswell Green auf, und er soll es noch mehr tun, als eines Tages der junge Anwalt Samuel Tilden in den Laden schneit. Der nimmt sich seiner an, macht ihn zu seinem Assistenten, zeigt ihm die Welt der Bücher („Ich glaube, dass man ohne eine Vorliebe für das Lesen niemals ein eleganter Mann werden kann“) und wird später stadtbekannte Projekte mit ihm umsetzen. Allen voran den Central Park, einen öffentlichen Park, der für alle Menschen frei zugänglich sein soll – ungewöhnlich für die Zeit, war man doch sonst bestrebt, Eintritt zu verlangen, um die Landstreicher und Kriminellen aus den Parks zu halten. Außerdem sollten Manhattan und Brooklyn zusammengeführt werden. Eine Idee, die manchen Zeitgenossen sehr zuwider war, die Green aber mit großer Verve verfolgte.

Bangen um ihr Ansehen und Wirken

Es ist mehr als eine innige Freundschaft, die die beiden Männer verbindet. Doch sie sind zu keiner Zeit bereit, ihre Liebe zueinander öffentlich zu machen, weil es sie bangt, dass nicht bloß ihr Ansehen, sondern vor allem ihr Wirken und ihre Vorhaben für die Gesellschaft dadurch Schaden nehmen können. Jonathan Lee beschreibt diesen inneren Kampf der unmöglichen Liebe, des Wollens, aber nicht Könnens, behutsam und mit viel Wissen um die Nuancen dieser Entscheidung.

Jonathan Lee hat seinen Roman in 33 Kapitel unterteilt, die als Überschrift jeweils die Namen der Parkeingänge zum Central Park tragen und schon erste Hinweise auf den Kapitelinhalt erlauben. Lee hat damit auch in der äußeren Form einen Rückgriff auf Greens Werk geschaffen, alle Wege durch die Tore seines Romans führen in den Central Park. Ist das der „große Fehler“, der dem Buch seinen Titel gibt, der Central Park? Jemand sagte mal, er halte den Park mitten in der Stadt für eine „schwache, sentimentale Idee“. Oder war es ein Fehler, dass Green am Morgen des 13. Novembers 1903, der ein Freitag war, sich keinen Talisman gegen das Unheil und das Böse an den Körper gelegt hat? Oder hat der Mann, der ihn erschoss, möglicherweise den falschen umgelegt?

Selbstverständlich gibt es eine Lösung, wie es auch ein Motiv für den Mord gibt. Beides klärt Jonathan Lee in seinem Roman auf, und doch sind beide Auflösungen zweitrangig, denn in erster Linie gelingt es Jonathan Lee auf literarisch hohem Niveau einen Mann wieder ins Licht zu holen, der zu lange Zeit vergessen war. Jede Frau und jeder Mann sollte dieses Buch gelesen haben, bevor ein jeder auch nur einen Fuß durch eines der Tore im Central Park gesetzt hat. Alles andere wäre ein Fehler.

Jonathan Lee: Der große Fehler, Diogenes-Verlag, Zürich, 2022, 367 Seiten, gebunden, 25 Euro, ISBN 978-3257071917, Leseprobe, Hörprobe

Liebe wird aus Mut gemacht

Dass Liebeskummer Herz-Schmerz bedeuten kann, ist den meisten Menschen bekannt, die schon einmal aufrichtig geliebt haben in ihrem Leben und damit voll vor die Wand gefahren sind. Bei manchen Menschen ist die emotionale Belastung so stark, dass Mediziner*innen von einem Broken-Heart-Syndrom sprechen: Diese Menschen leiden an einem gebrochenen Herzen. Lange Zeit galt es als Mythos, dass man daran sterben kann. Mittlerweile weiß man, dass das unbehandelt genauso gefährlich werden kann wie ein Herzinfarkt.

Was also verspricht ein Roman, wenn er den Titel „An Liebe stirbst du nicht“ trägt? Hoffnung vor allem. Stärke. Vielleicht auch ein „Das wird schon wieder“, was man eben so sagt, wenn man nicht weiß, was man sagen soll. Der Debütroman „An Liebe stirbst du nicht“ der französischen Autorin Géraldine Dalban-Moreynas, erstmals auf Deutsch erschienen im Jahr 2020, handelt von einer Liebe, die töten könnte, und sie geht so derbe ans Herz, an das der Protagonist*innen, aber auch an das der Leser*innen. Wenn Sie gerade schweren Liebeskummer haben, sollten Sie eher nicht zu diesem Buch greifen, obgleich es so Hoffnung macht im Titel.

Sie ist verstört, verwirrt, er auch

Es ist November und bald auch Dezember. Ganz Paris bereitet sich schon auf Weihnachten vor, das Fest der Liebe. Eine Frau, 30 Jahre alt, erfolgreiche Journalistin, ist vor wenigen Monaten mit ihrem Freund in ein Loft in der Nähe des Canal Saint Martin gezogen, angesagtes Viertel und so. Im nächsten Sommer wollen sie heiraten, das Hochzeitskleid ist bereits bestellt. Zwei Stockwerke über dem Paar zieht eine Familie ein. Er ist Anwalt, 30 Jahre alt, verheiratet, die beiden haben eine kleine Tochter. Im Innenhof begegnen sich die Journalistin und der Geschäftsmann zum ersten Mal. Sie hat das Gefühl, alles in ihr würde einstürzen, sie ist verstört, verwirrt. Er auch. Beide sagen nichts, sie schauen nur. Die Zeit bleibt stehen. Alles dauert nur Sekunden, aber dieser Moment entscheidet den zukünftigen Weg, der ab hier eine rasante Kurve nimmt und deren Verlauf in Dunkelheit liegt.

Die beiden stürzen sich in eine Amour fou, die nichts auslässt an Dramatik, Leidenschaft, Sexualität, Verletzlichkeit, Bangen und Hoffen. Zwei Menschen, die gefesselt sind, voneinander, aber auch an das Leben, in dem sie stecken und das für sie ursprünglich der Plan für die Zukunft war. Eine lange Zeit sind beide egoistisch, kosten den neuen Weg aus, betrügen unaufhörlich ihre Partner und sich selbst, verstricken sich mehr und mehr in ihr Lügengeflecht, um jede freie Minute miteinander auskosten zu können.

Genügt diese fiebrige Anziehung?

Dass es nicht nur eine kurz aufflammende Alltagsflucht ist, ist beiden bald klar. Was aber ist die Konsequenz? Soll er seine kleine Tochter und seine Frau verlassen? Soll sie die Hochzeit canceln und ihren Verlobten verlassen? Mit welchem Wissen denn? Genügt diese fiebrige Anziehung, genügt es, dass beide sich noch nie mit einem Menschen so gut verstanden haben? Genügen die Gefühle? Die unerschöpfliche Sehnsucht? Welche Garantie haben sie, dass sie sich richtig entscheiden? Was ist die Perspektive? Im Roman heißt es, es brauche Mut, um glücklich sein zu können.

Ob einer von beiden oder gar beide diesen Mut finden, soll hier nicht verraten werden. Wohl aber, dass dieser Roman anders ist als die zahlreichen Romane, die zu diesem Thema bereits erschienen sind. Dalban-Moreynas, die selbst einmal Journalistin war, erzählt die Liebesgeschichte der beiden Protagonist*innen und ihr Hadern aufregend, mit viel Herz, oft sehr erotisch, aber dann auch wieder mit klarem Verstand, präzise. Sie schreibt aus Sicht der Frau, nutzt aber auch den Blick eines allwissenden Erzählers, der die Zukunft kennt und Hinweise darauf einstreut.

Wir alle, die wir lieben und geliebt haben – und vielleicht auch eine solche alles verschlingende Amour fou schon erlebt haben, werden uns beim Lesen an ihm oder ihr messen. Haben wir uns selbst richtig entschieden? Wie würden wir handeln, wenn wir an seiner oder ihrer Stelle wären? Die Unmittelbarkeit der beschriebenen Gefühle tut uns beim Lesen selbst ein wenig weh, so intensiv berührend ist dieser Roman, der 2019 in Frankreich mit dem Prix du Premier Roman ausgezeichnet wurde. Wenn Sie ihn noch nicht gelesen haben, holen Sie das in diesem Frühjahr nach!

Géraldine Dalban-Moreynas: An Liebe stirbst du nicht, Nagel & Kimche, München, 2020, 192 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3312011742

Géraldine Dalban-Moreynas: An Liebe stirbst du nicht, Goldmann-Verlag, München, 2022, 192 Seiten, Taschenbuch, 12 Euro, ISBN 978-3442492527