In Wind Gap, einer kleinen Stadt am Mississippi und im äußersten Südosten von Missouri, ist ein junges Mädchen ermordet worden. Ein zweites Kind wird vermisst, und die Einwohner fürchten, dass es das Schicksal des ersten Opfers teilen wird: erdrosselt und aller Zähne beraubt wird man auch dieses Mädchen finden. Die Daily Post aus Chicago schickt Camille Preaker als Reporterin in das kleine Nest. Es ist ihre Heimatstadt und Wiege traumatischer Erlebnisse.
Camille trägt die Wunden der Vergangenheit tagtäglich mit sich herum. Einst schnitt sie sich mit Rasierklingen Wörter in die Haut. Ihr ganzer Körper ist damit übersät. Nur auf dem Rücken ist eine kreisrunde Stelle verschont geblieben, weil sie mit der Hand nicht hinreichte. Die äußeren Narben weiß sie gut zu verbergen. Mit langer Kleidung. Mit Vorsicht. Die inneren betäubt sie mit Alkohol.
Das Verhältnis zur Mutter ist distanziert. Kein Wunder: Sie reagiert kühl, ja, fast eisig und macht keinen Hehl daraus, dass Camille nicht herzlich willkommen ist. Die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung belastet die Recherchen in Wind Gap von Anfang an. Die örtliche Polizei kommt mit dem Fall ebenfalls nicht so recht voran, auch der eigens aus der Großstadt gerufene Profiler stochert im Nebel, macht Camille aber schöne Augen.
Es dümpelt dahin und kommt nicht in Fahrt
Dann wird plötzlich das zweite Mädchen gefunden. Erdrosselt und zwischen zwei Hauswände gesteckt. Auch diesem Mädchen fehlen die Zähne. Wer war es denn nun? Das möchte auch der Leser endlich wissen, doch das Buch „Cry Baby“ verliert sich. Es dümpelt dahin und kommt nicht in Fahrt.
Dabei hat der Buchumschlag etwas anderes versprochen. Auf der Buchrückseite wird Stephen King zitiert: „Dies ist ein absolut grandioser Roman. Mir grauste es vor den letzten dreißig Seiten, aber ich konnte nicht anders, ich musste umblättern. Dann, nachdem ich das Licht gelöscht hatte, merkte ich, dass die Geschichte in meinem Kopf blieb, zusammengerollt und zischend wie eine Schlange in einer Höhle.“ Auf den Marketing-Trick des Verlags fiel offensichtlich auch die Zeitschrift Bild + Funk aus dem Gong-Verlag herein, die in einer Rezension schrieb: „Selbst Steven King lobte es in höchsten Tönen!“ Na, dann kann es ja nur gut sein.
So übermäßig gelobt worden ist das Debüt der Bestsellerautorin Gillian Flynn, die erst mit ihrem dritten Roman „Gone Girl“ den weltweiten Durchbruch erlebte. Von der Klasse jenes Bestsellers ist Flynn in „Cry Baby“ aber noch meilenweit entfernt. Eine begabte Schreiberin ist hier beileibe nicht am Werk.
Der Geschichte fehlt der Biss
Die Figuren sind schwach und zu klischeehaft gezeichnet, und der Geschichte fehlt der Biss. Sie bleibt hinter ihren Möglichkeiten zurück. In einem Interview mit dem Fischer Verlag sagte Flynn: „Bei „Cry Baby“ war ich mir lange Zeit nicht darüber im Klaren, wer eigentlich der Mörder sein sollte.“ Das merkt man dem Buch leider an.
So bleibt Flynns erstes Werk eine Enttäuschung für den Leser. Auf dem deutschen Buchmarkt ist es wohl nur aufgrund des enormen Erfolgs von „Gone Girl“, das von David Fincher verfilmt wurde und im Herbst 2014 in die deutschen Kinos kommt. Neben „Cry Baby“ (erste deutsche Veröffentlichung im Jahr 2007) ist auch Flynns zweites Buch „Dark Places“ (erste Veröffentlichung 2010 unter dem Titel „Finstere Orte“) nun wieder neu aufgelegt worden. „Cry Baby“ ist aber ein Buch, das das Regal nicht braucht.
Gillian Flynn: Cry Baby – Scharfe Schnitte, Fischer Scherz Verlag, Frankfurt, 2014, 332 Seiten, broschiert, 12,99 Euro, ISBN 978-3651011649, Leseprobe