Die verrätselte Frau und der Schurke im gelben Pullover

Roses Lächeln„Roses Lächeln“ war eigentlich eine Fortsetzungsgeschichte. Im digitalen Comic-Magazin „Professor Zyklop“, das im deutsch-französischen Kulturkanal Arte einen Unterstützer hat, erschienen die einzelnen Folgen. Jetzt gibt es alle Teile der Serie von Sacha Goerg in einem handgeletterten Sammelband beim Berliner Reprodukt-Verlag. Der zu Herzen gehende Graphic-Novel-Thriller schafft damit den Sprung in die analoge Welt. Zu Recht, muss man sagen, denn erst als Buch kann er zum Pageturner werden, und erst als Buch lässt er sich mit allen Sinnen erleben.

Goergs Held heißt Desmond, er ist 32 Jahre alt und hat nicht nur seinen Job verloren, sondern ist auf dem besten Wege, auch noch seinen einzigen Sohn Theo an seine Ex-Frau zu verlieren. Die hat sich nach acht Jahren von ihm getrennt und sich gleich einen neuen Mann geangelt. Desmond wird nun das Gefühl nicht los, dass seine Ex-Frau alles dafür tut, dass er seinen Sohn nicht mehr zu Gesicht bekommt.

So ist es nicht gerade sein Glückstag, als Desmond Theo von der Schule abholen will, dort aber nur erfährt, dass seine Ex-Frau ihm schon zuvorgekommen ist. Es schneit, und die Freitreppe vor der Schule ist so spiegelglatt, dass Desmond ausrutscht und sich ordentlich auf den Rücken legt. Der Wind reißt ihm das Foto seines Sohnes aus der Hand, und als er dem durch die Luft wirbelnden Andenken hinterherstürmt, prallt er mit einer fremden Frau zusammen: Rose. Sie entpuppt sich als eine eigentümliche, mysteriöse Person. Die Lösungen der Rätsel, die sie umgeben, halten einige Überraschungen bereit. Eines der Geheimnisse, die es zu lüften gilt, hängt mit der Reliquienjagd eines alternden Industriellen zusammen. Er verfolgt Rose unerbittlich und bringt damit auch Desmond und den kleinen Theo in Gefahr.

Fantastisch gelöst

„Roses Lächeln“ ist ein toll gezeichneter Thriller für die kalten Tage des Jahres. Panelrahmen werden durch Goergs Aquarellzeichnungen völlig überflüssig – das ist hier fantastisch gelöst. Zudem wechselt er immer wieder zu freigestellten Szenen, die die dargestellten Personen noch eindringlicher ins Blickfeld rücken. Manchmal sind die Figuren etwas klischeehaft, aber das stört überhaupt nicht, denn ansonsten haben sie ganz nachvollziehbare Ecken und Kanten. Gelungen sind vor allem die Charaktere Desmond, Rose sowie der gelbe Pullover tragende, homosexuelle Großindustrielle, der vor nichts zurückschreckt.

Sacha Goerg, 1975 in Genf geboren, hat den belgischen Autorenverlags „L’Employé du Moi“ mitbegründet und ist in Deutschland auch als einer der Zeichner der Graphicnovela „Sechs aus 49“ (als Buch bei Schreiber & Leser) bekannt geworden. „Roses Lächeln“ dürfte den Belgier nun noch bekannter machen – es wird Zeit, dass er nachlegt.

Sacha Goerg: Roses Lächeln, Reprodukt Verlag, Berlin, 2015, 102 Seiten, broschiert, 20 Euro, ISBN 978-3956400681, Leseprobe

Seitengang dankt dem Reprodukt-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Die Wiederentdeckung der Ricarda Huch

Der Fall DerugaVor 150 Jahren kam in Braunschweig die spätere Historikerin und Schriftstellerin Ricarda Huch zur Welt. Inzwischen sind ihre bedeutenden Werke ein wenig in Vergessenheit geraten. Der Insel Verlag hat jetzt ihren bekanntesten Kriminalroman wieder neu aufgelegt, den Huch selbst als „Schundgeschichte“ bezeichnet hatte. Sie habe ihn nur geschrieben, um Geld zu verdienen. Heute, mit rund 100 Jahren Abstand, liest sich der Roman jedoch als historisch feinsinniges Gesellschaftsbild mit thematisch aktueller Brisanz.

Der Arzt Sigismondo Enea Deruga reist von Prag nach München, um einem ihm zu Ohren gekommenen Verdacht nachzugehen, er selbst solle seine geschiedene Frau umgebracht haben. Dort erfährt er, dass das Gericht schon beschlossen hat, gegen ihn Mordanklage zu erheben, so dass es geradezu vorbildlich sei, dass er sich selbst stelle.

Seine Frau, Mingo Swieter, war Anfang Oktober verstorben und hatte ihn in ihrem Testament zum Alleinerben ihres Vermögens gemacht. Das rief die Baronin Truschkowitz, die schon mit der Finanzspritze fest gerechnet hatte, auf den Plan. Sie brachte das Gericht dazu, eine Exhumierung anzuordnen, nach der unglücklicherweise festgestellt wurde, dass Mingo Swieter nicht an ihrer Krebserkrankung gestorben war, sondern an einem furchtbaren Gift namens Curare.

Ein Alibi kann Deruga nicht vorweisen

Von Deruga weiß man, dass er in argen finanziellen Nöten steckt, am Vorabend des Todes seiner Exfrau eine Fahrkarte nach München gelöst hat und erst am übernächsten Tag nach Prag zurückgekehrt ist. Ein Alibi kann er nicht vorweisen. Hat er in der Zeit also seine ehemalige Frau umgebracht, damit er weiterhin seinem verschwenderischen Leben nachgehen kann?

Der Verdacht wiegt schwer, und Deruga macht es weder dem Gericht noch dem Leser leicht, Ansatzpunkte zu finden, die für ihn sprechen. Im Gegenteil: Er ist mürrisch, provozierend, spottet über das Gericht und wird oft ungeduldig und aufbrausend. Der Gerichtsverhandlung scheint er nur mit einem Ohr zu folgen, und auch sonst zeigt er kein besonderes Interesse daran, dass der Verdacht gegen ihn entkräftet wird. Spricht das am Ende dafür, dass der Richtige auf der Anklagebank sitzt?

Ricarda Huch beschreibt ihre Figuren mit vornehmer Zurückhaltung und erzählt mit dem feinsinnigen Gespür für Dialoge und Ironie. „Der Fall Deruga“ gerät so zu mehr als nur einem Kriminalstück, das überwiegend vor Gericht spielt. Es ist vor allem ein scharfsinniger Gesellschaftsroman aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Hier sind die hierarchischen Strukturen noch klar getrennt: Es gibt den Gerichtspräsidenten und den Angeklagten, die Baronesse und das Dienstmädchen, den Arzt und den Bettler. Aber das ist nur der gesellschaftliche Ausgangspunkt.

„Schwarzes Haar und Feueraugen“

Mit ungutem Gefühl vernimmt der Leser gleich zu Beginn die Stimmen des Publikums, die dem Angeklagten einen „italienischen Typus“ bescheinigen, und zwar den der „verschlagenen, heimtückischen, rachsüchtigen Welschen“. Eine andere Stimme raunt: „Ich dachte, er hätte schwarzes Haar und Feueraugen.“ Und dass es doch unmöglich sei, dass ein Mordverdächtiger auf freiem Fuße sei, „noch dazu einer, der so aussehe, als ob er zu jedem Verbrechen fähig wäre“. Das ist fein beobachtet und heutzutage bei Mordprozessen leider kaum anders.

Der Gerichtssaal ist die kleine Bühne dieses Falls. Der Leser sitzt nah am Geschehen. Fast ist der Luftzug beim Schließen der Aktendeckel zu spüren, so dicht schildert Huch den Prozess, das Auf und Ab der Zeugen, die vielen kleinen Begegnungen vor Gericht und die manchmal sogar philosophischen Betrachtungen danach. Der Leser ist nicht nur Zuschauer, er wird zum Geschworenen, dem die schillernde Persönlichkeit des Doktors von allen Seiten präsentiert wird. Fürsprecher allerdings gibt es nur wenige.

„Der Fall Deruga“ ist aber auch der Roman einer Scheidung und trägt dabei autobiographische Züge. Die Person des Deruga gilt als deutliches Porträt von Huchs erstem Ehemann, Ermanno Ceconi, mit dem sie seit 1898 acht Jahre verheiratet und bis an dessen Lebensende im Jahr 1927 verbunden war. Auch das beschreibt „Der Fall Deruga“ eindrucksvoll: Jene seltene und die Zeit überdauernde Harmonie zwischen zwei schon geschiedenen Ehepartnern.

Was ist die moralische Pflicht?

Damit verknüpft ist es letztlich auch die stets aktuelle Brisanz der Sterbehilfe, die das Buch selbst nach fast 100 Jahren immer noch lesenswert macht. Obgleich es damals ein wenig erwähntes Thema ist, macht Huch es zum zentralen Sujet ihres Romans und bietet dem Leser die rechtliche und moralische Betrachtung. Wie ist jemand zu bestrafen, der auf Verlangen tötet, dem aber keine eigennützige Motivation nachzuweisen ist? Was ist die moralische Pflicht, was bedeuten Begriffe wie Nächstenliebe und Menschlichkeit?

Es steckt also viel drin in diesem kleinen Büchlein, das nun glücklicherweise vom Insel Verlag wieder aufgelegt worden ist. Endlich!, möchte man rufen. Der Ruhm der Schriftstellerin Ricarda Huch ist ein wenig vergangen, ihre Schriften über die Geschichte des alten Deutschlands vergessen und vergriffen. Möge „Der Fall Deruga“ der Anfang eines umfassenden Wiederlesens sein.

Ricarda Huch: Der Fall Deruga, Insel Verlag, Berlin, 2014, 213 Seiten, Taschenbuch, 7,99 Euro, ISBN 978-3458360131, Leseprobe

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