Buch Wien: Besatzungskinder, Macht und Widerstand auf Bulgarisch und eine Revolution im Automobilclub

Die diesjährige Berichterstattung über die Buch Wien habe ich in der Nacht von Freitag auf Samstag unterbrochen. Grund war zum einen, dass ich die Nacht nicht wie zuvor zum Schreiben, sondern vor allem zum Verfolgen der Nachrichten aus Paris genutzt habe. Zum anderen aber waren die von mir besuchten Veranstaltungen am Freitag – bis auf eine – nicht wirklich berichtenswert. Vermutlich habe ich schlichtweg die falsche Auswahl getroffen. Ich berichte nun also noch nach vom Freitag und Samstag. Am Sonntag habe ich bereits die Rückreise angetreten – mit einigen Büchern mehr im Gepäck.

Barbara Stelzl-Marx und Ö1-Moderator Wolfgang Popp. © Christian Lund
Barbara Stelzl-Marx und Ö1-Moderator Wolfgang Popp. © Christian Lund
Am Freitag stellte die österreichische Historikerin Barbara Stelzl-Marx ihr Buch „Besatzungskinder“ vor, das sich mit einem oft verdrängten Kapitel der Nachkriegsgeschichte beschäftigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Tausende von sogenannten Besatzungskindern zur Welt gekommen. Häufig waren sie und ihre Mütter Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt, und man nannte sie „Kinder des Feindes“, obwohl ihre Väter schon längst keine Feinde mehr waren. Seit mehr als 15 Jahren gehört die Kriegsfolgenforschung zu den Schwerpunkten der Autorin, mit denen sie sich intensiv auseinandersetzt. Das neue Buch nun sei das Ergebnis einer wissenschaftlichen Konferenz im Jahr 2012, auf der sich einige Besatzungskinder zum ersten Mal kennengelernt haben, sagte Stelzl-Marx. Auch zur Buch Wien waren rund zehn Besatzungskinder gekommen.

Offizielle Schätzungen gehen davon aus, dass es in Österreich rund 8.000 solcher Besatzungskinder gegeben hat. „Ich gehe davon aus, dass die Dunkelziffer wesentlich höher ist – meine Schätzungen belaufen sich auf rund 30.000 Kinder, wovon etwa die Hälfte russische Väter haben dürften“, erklärte Stelzl-Marx. Viele Kinder seien durch Vergewaltigungen entstanden, aber es gebe auch „unglaublich berührende Liebesbeziehungen“, obwohl Stalin Liebesbeziehungen oder gar eine Heirat zwischen Österreicherinnen und Rotarmisten verbot.

Als Beispiel nennt sie die Geschichte der Wienerin Tatjana Herbst, die im Oktober 1947 zur Welt kam. Ihr Vater, ein sowjetischer Soldat, und ihre Mutter führten eine innige Liebesbeziehung – bis der Rotarmist plötzlich versetzt wurde. Die Mutter schrieb einen Brief, den ein Freund des Geliebten am nächsten Tag abholen und mitnehmen wollte. Doch auch dieser Freund kam nicht mehr zurück. Und so wanderte dieser Brief ins Familienarchiv und findet sich inzwischen als rührendes Beispiel in Stelzl-Marxs Buch wieder. Ihren Vater hat Tatjana erst mehr als 40 Jahre später zum ersten Mal getroffen.

In den westlichen Besatzungszonen waren Eheschließungen dagegen erlaubt. Das berühmteste Beispiel ist wohl Marianne Faithful, deren Mutter in Wien einen britischen Besatzungsoffizier kennenlernte und mit ihm als sogenannte „war bride“ nach Großbritannien ging. Anfangs sei in Faithfuls Biografie nicht bekannt gewesen, dass sie die Tochter von Eva Hermine von Sacher-Masoch und einem Besatzer ist, erklärte Stelzl-Marx. Faithful selbst sagt (hier in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit, Zeit-Magazin Nr. 37/2014, 15. September 2014): „Ich will meine österreichische Herkunft auch gar nicht verleugnen, im Gegenteil, ich bin sehr stolz auf sie!“

Das Buch „Besatzungskinder“, das die stellvertretende Leiterin des Grazer Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung mit Silke Satjukow, einer Historikerin von der Universität Magdeburg, geschrieben hat, versammelt aber nicht nur die persönlichen Berichte der Besatzungskinder, sondern umfasst auch wissenschaftliche Erkenntnisse. Eine Leseprobe des im Böhlau-Verlag erschienenen Buchs gibt es hier.

Barbara Stelzl-Marx/Silke Satjukow: Besatzungskinder: Die Nachkommen alliierter Soldaten in Österreich und Deutschland, Böhlau Verlag, Wien, 2015, 500 Seiten, gebunden, 35 Euro, ISBN 978-3205796572

Ilija Trojanow im Gespräch mit Kristina Pfoser. © Christian Lund
Ilija Trojanow im Gespräch mit Kristina Pfoser. © Christian Lund
Am Samstagmittag habe ich aufgrund nachzuholenden Schlafs leider die Lesung des ungarischen Dokumentarfilmers Péter Gárdos verpasst, der auf der Buch Wien seinen Roman „Fieber am Morgen“ (Hoffmann & Campe) vorgestellt hat. Dafür war ich aber rechtzeitig auf der Messe, um zwei weitere großartige Schriftsteller zu erleben: Ilija Trojanow sowie Alaa al-Aswani. Ersterer stellte seinen neuen Roman „Macht und Widerstand“ (S. Fischer Verlag) vor, sein „Lebensbuch“, wie er es selbst feierlich nennt. Es war für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert und beim Debüt des „Literarischen Quartetts“ umstritten.

Im Wechsel kommen der Widerstandskämpfer Konstantin und der Offizier Metodi zu Wort, zwei Menschen, die exemplarisch stehen für das titelgebende Verhältnis von Macht und Widerstand im ideologischen Überlebenskampf des bulgarischen Sozialismus. „Beide bedingen sich gegenseitig, können ohne einander nicht sein“, findet Trojanow. Es seien zwei extreme Positionen, der Raum dazwischen, die Duckmäuser und Mitläufer, hätten ihn nie interessiert, sagt er. „Mich interessieren viel mehr diejenigen, die wir mit geschichtlichem Abstand als Helden bezeichnen würden, die heute unseren bequemen Alltag infrage stellen.“ Konstantin fällt schon in der Schulzeit der bulgarischen Staatssicherheit auf und entkommt ihrem Griff nicht mehr. Metodi ist Opportunist und Karrierist, ein Repräsentant des Apparats. Sie sind in einen Kampf um Leben und Gedächtnis verstrickt, der über ein halbes Jahrhundert andauert.

Sowohl Konstantin als auch Metodi haben einen unterschiedlichen Sprachduktus. Die beiden von Trojanow in Wien vorgelesenen Passagen haben das sehr deutlich gemacht. Es gibt jedoch auch eine fantastische Hörbuchfassung mit Ulrich Pleitgen als Konstantin und Thomas Thieme als Metodi (einen Auszug daraus gibt es hier). Trojanow dazu: „Thomas Thieme spricht den Metodi ganz wunderbar – der spielt ohnehin eher unangenehme Kerle, zuletzt Helmut Kohl.“

Trojanow wurde 1965 in Sofia geboren. Sein Onkel war im Widerstand aktiv, die Familie schnell im Auge der bulgarischen Staatssicherheit. Die Wohnung war verwanzt, und heute besitzt Trojanow Kopien der damals belauschten Gespräche, erzählt er in Wien. „Das ist toll, dass ich jetzt in den Protokollen der Stasi nachlesen kann, was gesprochen wurde, während ich in die Windeln gemacht habe.“ Dabei sei ihm auch aufgefallen, dass die Stasi nicht besonders gebildet gewesen sei. So habe sein lateinisch versierter Onkel zum Beispiel einmal „pro domo“ gesagt, und die Stasi habe auf dem Protokoll daneben notiert: „Überprüfen! Wer ist dieser Prodomo?“ Auch für seinen Roman „Macht und Widerstand“ hat Trojanow Stasi-Akten verwendet. „Diese Dinge kann man einfach nicht erfinden.“ Eine Leseprobe von „Macht und Widerstand“ gibt es hier, lesenswert ist auch das Interview zwischen Jenny Erpenbeck, Ulrich Peltzer und Ilija Trojanow in der Wochenzeitung Die Zeit (Nr. 41/2015, 8. Oktober 2015).

Ilija Trojanow: Macht und Widerstand, S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2015, 480 Seiten, gebunden, 24,99 Euro, ISBN 978-3100024633

Alaa al-Aswani (r.) erzählt von seinem neuen Roman, neben ihm sein Übersetzer Hartmut Fähndrich. © Christian Lund
Alaa al-Aswani (r.) erzählt von seinem neuen Roman, neben ihm sein Übersetzer Hartmut Fähndrich. © Christian Lund
Auch der ägyptische Autor Alaa al-Aswani gehörte sicherlich zu den interessantesten literarischen Gästen der diesjährigen Buch Wien. Sein Roman „Der Jakubijân-Bau“ ist einer der meistgelesenen ägyptischen Romane, in der österreichischen Bundeshauptstadt präsentierte er nun sein neuestes Werk „Der Automobilclub von Kairo“. Ende der 40er Jahre herrschen im Automobilclub von Kairo Extravaganz und Dekadenz. Paschas und Monarchen gehen ein und aus, auch Ägyptens König zählt zu den Stammgästen. Bis die Dienerschaft des Clubs den Aufstand probt.

Wie bei Trojanow und vielen anderen Autoren war die Zeit zum Gespräch auch hier äußerst knapp bemessen. Drei Polizisten wachten über den Romancier, der eigentlich Zahnarzt ist. Der erzählte derweil, er habe das Gefühl, ein Roman sei wie eine lebendige Kreatur, die man füttern müsse. Nach und nach sei es aber eher ein Wald, der sich für die Leser, aber auch für den Schreiber öffne. „Ich als Autor habe nicht das Recht, das zu analysieren, was der Roman mit mir macht“, erklärte er. Immerhin: Das, was sich da verselbständigt, scheint seine Sache gut zu machen, denn seine Bücher werden mittlerweile in 35 Sprachen übersetzt, wie al-Aswani bescheiden zugibt.

Alaa al-Aswani ist dafür bekannt, dass er sich mit seinen Texten für ein freies und demokratisches Ägypten einsetzt. 2011 nahm er an der Revolution gegen Hosni Mubarak auf dem Tahrir-Platz teil. Sein Übersetzer Hartmut Fähndrich, der das Gespräch auf der Buch Wien moderierte, erklärte, Kritiker sähen in dem aktuellen historischen Roman auch Fragen der Zeit beantwortet. „Das freut mich“, antwortete der Autor verschmitzt. Und wie beim Arabischen Frühling ginge es in seinem Roman ja auch um eine Revolution. „Ich musste mir also nichts ausdenken, sondern einfach aus meiner eigenen Erfahrung schreiben.“ Andererseits könne man nicht jede Person ohne eine literarische Änderung in einem Roman verwenden. Es sei also trotz seiner eigenen Erlebnisse noch viel Fiktives darunter.

„Eine Revolution hat eine interessante Dynamik“, erklärte al-Aswani weiter. „Da gibt es auf der einen Seite die Menschen, die schon von Beginn an bereit sind, für die Freiheit anderer zu sterben, auf der anderen Seite sind die Regimebefürworter, aber dazwischen – da sitzen die Leute, die zwar leiden, aber nichts dafür geben wollen, um ihre Freiheit zu erlangen, die große Masse, die große passive Masse.“ Ilija Trojanow hatte diese Masse im als „Duckmäuser und Mitläufer“ bezeichnet. Auch Alaa al-Aswani hat dafür einen Begriff: Die Sofa-Partei. „Weil sie sagen: Nein, wir brauchen keine Revolution – unser Diktator macht zwar Fehler, aber er beschützt uns. Wir bleiben lieber, wo wir sind.“

Alaa al-Aswanis erste Romane konnten nur in einem kleinen privaten Verlag erscheinen. Derzeit sei die Publikationsfreiheit aber noch schlechter als unter Mubarak, sagte er. Trotzdem sehe er das lässig: „Der Diktator liest niemals Bücher und erst recht niemals Romane, das ist also kein Problem.“ Ich aber werde diesen Roman lesen, er steht jetzt mit einer tollen Widmung von al-Aswani in meinem Regal ungelesener Bücher. Eine Rezension dieses Romans folgt also beizeiten, die Leseprobe vom Verlag (S. Fischer Verlag) gibt es derweil hier.

Alaa al-Aswani: Der Automobilclub von Kairo, S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2015, 656 Seiten, gebunden, 24,99 Euro, ISBN 978-3100005557

Die Buch Wien 2015 war damit für mich beendet. In den nächsten Tagen werde ich – wie vor zwei Jahren auch – ein persönliches Fazit veröffentlichen. Und wenn alles klappt, berichte ich auch im Jahr 2016 wieder von der Buch Wien. Bleibt mir gewogen!

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