Ein Revoluzzer verkauft den Zwang

von-allen-guten-geisternLange Zeit erinnerte in Hamburg nur noch die Friedrichsberger Straße und die S-Bahn-Haltestelle Friedrichsberg an die einstige Heil- und Irrenanstalt aus dem 19. Jahrhundert. Jetzt aber ist es dem Schriftsteller Andreas Kollender in vortrefflicher Weise gelungen, diese Geschichte wieder ans Licht zu holen – und nicht nur das. Mit seinem neuen Roman „Von allen guten Geistern“ würdigt er besonders den Begründer der Anstalt und schreibt diesen Mann furchtbar schön und direkt ins Herz des Lesers. Eine Wucht von einem Roman!

In der alten Hansestadt Hamburg schreibt man das Jahr 1864, als die Zeitungen von einem seltsamen Vorfall auf dem Heiligengeistfeld berichten. Ein Mann namens Ludwig Meyer verkauft auf dem Markt alte Zwangsjacken – und die Leute reißen sie ihm förmlich aus den Händen. Dieser Meyer war niemand Geringeres als der neue Leiter der Heil- und Irrenanstalt Friedrichsberg, der, wie Kollender es ihm so schön in den Mund legt, den „Zwang verkauft“ hat. Der Psychiater war seiner Zeit und dem Wissen und Wollen seiner Kollegen weit voraus und Anhänger der sogenannten „No Restraint“-Bewegung. Keine Zwangsmaßnahmen sollten die Patienten einengen, sondern sie sollten sich weitestgehend frei entfalten können.

Die Heil- und Irrenanstalt Friedrichsberg, die tatsächlich maßgeblich nach Meyers Plänen eingerichtet wurde, galt als eine der fortschrittlichsten Psychiatrien der damaligen Zeit. Erstmalig blieben die Fenster ohne Gitter, und die Menschen wurden nicht mehr wie Gefängnisinsassen behandelt, sondern bekamen Freizeitangebote. Sie konnten malen, musizieren, ihr eigenes Gemüse anpflanzen. Bis dato ein Ding der Unmöglichkeit, denn wer im frühen 19. Jahrhundert psychisch erkrankte, dem wurde in der Regel nicht geholfen, sondern der wurde weggesperrt, von der Öffentlichkeit ferngehalten. Psychischen Erkrankungen haftete ein Makel an, dem man besser aus dem Wege ging.

Schrecken einer psychischen Erkrankung

Der junge Ludwig Meyer erlebt in der eigenen Familie den Schrecken einer psychischen Erkrankung. Seine Mutter wird zunehmend depressiv, der Arzt weiß sich keinen Rat. Der strenge Vater erklärt seinem wissbegierigen Sohnemann, seine Mutter habe nur eine Verstimmung. „Eine Gemütssache. Frauenunsinn.“ Doch dass seiner Mutter nicht nur Frauenunsinn widerfährt, ist Meyer spätestens klar, als sie versucht, sich in den Tod zu stürzen. Der Vater ist völlig überfordert, fürchtet um den guten Ruf der Kaufmannsfamilie. Die Kutsche, die die Mutter ins Krankenhaus bringt, soll tunlichst nicht gesehen werden. Und als sie aussteigen, sagt er seiner Frau: „Die Schultern zurück, strengerer Blick, Annette, stramm, sonst halten die dich noch für verrückt.“

Bloß nicht verrückt sein. Nur Frauenunsinn. Für Ludwig Meyer folgt an diesem Tag wohl das Erweckungserlebnis für die viel spätere Entscheidung, den Zwang zu verkaufen. Denn er muss mit ansehen, wie seine Mutter überwältigt und in eine Zwangsjacke gesteckt wird. „Die drei Graukittel zogen sie durch eine Tür. Mutters Fersen schleiften über den Boden, sie verlor ihre Schuhe. Sie kreischte. (…) Rums. Weg.“ Oft schreibt Kollender bloß kurze, einfach wirkende Hauptsätze. Doch er schafft damit immer wieder eine Eindringlichkeit, der man sich nicht entziehen kann. Das ist wahre sprachliche Raffinesse, die mit wenigen Worten das Herz erreicht und das Denken anschiebt.

Ludwig Meyer macht sich auf, ein Reformer der Behandlung geistig kranker Menschen zu werden. Im Studium nennen ihn manche einen „eleganten Spinner“, andere verspotten ihn als „Advocatus der Irren“. Und seine Professoren der Medizin glauben, es sei eine rhetorische Frage, die sie stellen, wenn sie ins Auditorium rufen: „Meine Herren, wirklich, wofür braucht ein Irrer einen Arzt?“ Ja, wofür braucht ein Irrer einen Arzt? Der hat schließlich kein gebrochenes Bein, das man behandeln könnte. Der Irre ist nicht ganz klar im Kopf, dem kommt man nicht bei, deshalb versteckt man ihn lieber im Keller hinter vergitterten Fenstern und überlässt ihn sich selbst. Ludwig Meyer besucht in England den Kollegen John Conolly, der ebenfalls historisch verbrieft ist. Conolly ist in England damals Vorreiter der „No Restraint“-Bewegung, und Kollender lässt ihn deutlich formulieren: „Wir nennen sie Irre. Wahnsinnige. Wir drängen sie weg. Warum, Meyer? Weil wir Angst haben. Wir haben Angst davor, etwas von uns selbst in diesen Menschen zu sehen. Wir haben Angst vor Erkenntnis.“

„Hauen Sie wieder ab mit diesem ganzen Dreckspack“

Und die furchtbare Erkenntnis ist: daran hat sich nach fast 200 Jahren kaum etwas geändert. Wie auch an der Reaktion der Öffentlichkeit nicht. Denn heute wie damals kocht die Volksseele, wenn in die Nachbarschaft ein psychiatrisches Krankenhaus ziehen soll: „Wir wollen Sie da nicht!“ „Hauen Sie wieder ab mit diesem ganzen Dreckspack.“ „Wir wollen keine Irrenanstalt bei uns. Wir wollen die da nicht haben.“ Das sind Sätze aus dem Roman. Aber sie könnten auch aus einer heutigen Bürgerversammlung stammen.

Kollender hat also nicht nur ein zu Herzen gehendes historisch exzellent recherchiertes Porträt über einen Psychiatrie-Revoluzzer geschrieben, sondern auch einen Roman, an dem wir uns selbst messen können: wie gehen wir denn heute mit psychisch Kranken um? Wie behandeln wir Menschen mit Behinderungen? Und braucht nicht jede Zeit Menschen wie Ludwig Meyer, die anderen voraus sind und uns daran erinnern, was wir alle sind? Ohne Ausnahme: Menschen. Meyer muss das sehr häufig sagen: Menschen! Das sind doch Menschen!

Ihm ist nichts Menschliches fremd, diesem Ludwig Meyer. Das ist schon ein dufter Typ, und allzu oft möchte man zu ihm in die Kutsche steigen und die Räder über das Pflaster Hamburgs rattern hören, während man mit dem Herrn Doktor Fallakten bespricht. Aber dann und wann möchte man ihn auch schütteln und zur Vernunft bringen, manchmal ist er gar ein arroganter Angeber – und in der Liebe ein hilfloses Wesen. Obgleich Ludwig Meyer in diesem Roman Bahnbrechendes vollbringt, macht Kollender ihn nicht zum Helden. Das ist er nicht, das macht aber auch einen weiteren Reiz dieses Buches aus: dass Ludwig Meyer seine eigenen Verschrobenheiten hat. Manche würden vielleicht sagen: Verrücktheiten.

Kollender, der mit seiner Familie in Hamburg lebt, ursprünglich aber aus Duisburg stammt, hat bereits 2015 mit der Wiederentdeckung eines historischen Helden brilliert: In dem Kriminalroman „Kolbe“ erweckte er eindrucksvoll den fast vergessenen Widerstandskämpfer Fritz Kolbe zum Leben. Das Buch, ebenfalls aus dem Pendragon-Verlag, liegt mittlerweile in der fünften Auflage vor und wird derzeit für den US-amerikanischen Markt übersetzt. „Kolbe“ war ein großer Erfolg – und auch Meyer könnte ein solcher werden. Warum? Einer von Meyers Kommilitonen sagt einen Satz, der treffender nicht sein könnte: „Eine gut erzählte Geschichte, Ludwig, das ist doch das Beste.“

Andreas Kollender: Von allen guten Geistern, Pendragon Verlag, Bielefeld, 2017, 438 Seiten, broschiert, 17 Euro, ISBN 978-3865325754, Leseprobe

Diese Rezension ist in gekürzter Fassung auch im Wochenendmagazin der Neuen Westfälischen (Samstag/Sonntag, 18./19. März 2016) erschienen.

Verlosung: Gewinnen Sie eines von drei Kollender-Buchpaketen!
Mit diesem Beitrag bricht der Bielefelder Pendragon-Verlag zu einer fünftägigen Blogtour auf: fünf Literaturblogs aus Deutschland beschäftigen sich in unterschiedlichster Art und Weise mit dem neuen Buch von Andreas Kollender. Tag für Tag folgen nun die weiteren Beiträge auf den Blogs „Leckere Kekse“, „Der Buch- und Medienblog“, „Die dunklen Felle“ sowie auf dem Blog „Wortgestalt“. Folgen Sie der Blogtour mit dem Hashtag #KollendersGeister in den sozialen Netzwerken und verpassen Sie keinen Beitrag!

Im Rahmen der Blogtour verlost der Pendragon Verlag drei Kollender-Buchpakete mit jeweils einem Exemplar von „Kolbe“ und „Von allen guten Geistern“. Um an der Verlosung teilzunehmen, müssen die TeilnehmerInnen ein Lösungswort bilden. Das Lösungswort findet sich in den fünf Blogbeiträgen zu der Tour. In jedem Beitrag findet sich ein fett gedruckter Buchstabe – das Lösungswort besteht also aus fünf Buchstaben. Zur Teilnahme an der Verlosung muss das Lösungswort an presse@pendragon.de gesendet werden. Einsendeschluss ist Freitag, der 17. März 2017 um 23:59 Uhr.

Die drei Gewinner werden aus allen Teilnehmern ausgelost. Nach der Auslosung werden die Gewinner per Mail benachrichtigt und um ihre Adressdaten gebeten. Die Adressdaten der Gewinner werden nur für den Versand benötigt und nicht an Dritte weitergegeben. Eine Barauszahlung des Gewinns ist nicht möglich. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Mit der Teilnahme am Gewinnspiel erklären Sie sich mit diesen Bedingungen einverstanden.

Die Spezialität des Pendragon-Verlags aus Bielefeld sind Krimis. Unter den Freunden der Spannungsliteratur ist der Verlag auch deshalb bekannt geworden, weil er angekündigt hat, alle 20 Bände der Dave-Robicheaux-Reihe von US-Autor James Lee Burke zum Teil erstmals auf Deutsch herauszubringen. Außerdem veröffentlicht der Verlag seit 2009 die Werkausgabe von Max von der Grün. Sämtliche Bände der zehnteiligen Werkausgabe sind gebunden erschienen und enthalten weitere Erzählungen, Reportagen und Erinnerungen sowie jeweils ein Nachwort (zur Seitengang-Rezension von Band I der Werkausgabe).

#KollendersGeister gehen auf Blogtour

blogtour-headerAm Montag bricht der Bielefelder Pendragon-Verlag zu einer fünftägigen Blogtour auf: fünf Literaturblogs aus Deutschland werden sich dann der lang erwarteten Frühjahrsneuerscheinung „Von allen guten Geistern“ widmen, die niemand Geringeres als Andreas Kollender geschrieben hat. Kollender sorgte bereits 2015 mit seinem Werk „Kolbe“ für Furore. In dem Kriminalroman erweckt er eindrucksvoll und sprachlich brillant den fast vergessenen Widerstandskämpfer Fritz Kolbe zum Leben. In seinem neuen Roman „Von allen guten Geistern“ beschäftigt sich Kollender nun mit der historischen Figur des Psychiaters Ludwig Meyer zur Zeit der 1848er-Revolution.

„Seitengang – Ein Literatur-Blog“ wird die Blogtour am Montag, 6. März, mit einer Rezension des Romans eröffnen. Dann folgen Tag für Tag weitere Beiträge auf den Blogs „Leckere Kekse“, „Der Buch- und Medienblog“, „Die dunklen Felle“ sowie auf dem Blog „Wortgestalt“. Folgen Sie der Blogtour mit dem Hashtag #KollendersGeister in den sozialen Netzwerken und verpassen Sie keinen Beitrag! Denn wer alle aufmerksam liest, soviel sei verraten, kann beim Pendragon-Verlag eines von drei Kollender-Buchpaketen gewinnen.

Der Pendragon-Verlag ist unter anderem bekannt, weil er angekündigt hat, alle 20 Bände der Dave-Robicheaux-Reihe von US-Autor James Lee Burke zum Teil erstmals auf Deutsch herauszubringen. Außerdem veröffentlicht der Verlag seit 2009 die Werkausgabe von Max von der Grün, und zwar in vortrefflicher Art und Weise. Sämtliche Bände der zehnteiligen Werkausgabe sind gebunden erschienen und enthalten weitere Erzählungen, Reportagen und Erinnerungen sowie jeweils ein Nachwort (zur Seitengang-Rezension von Band I der Werkausgabe).

Das Sandmännchen ist brutal

Der SandmannDas schwedische Autoren-Ehepaar Alexandra Coelho Ahndoril und Alexander Ahndoril war mit seinem Krimidebüt „Der Hypnotiseur“ überaus erfolgreich. Jetzt ist der vierte Kriminalroman mit dem eigenwilligen Ermittler Joona Linna erschienen – brutal und blutrünstig wie eh und je, jedoch auch hanebüchen und unausgegoren wie nie zuvor. Intelligente Krimi-Unterhaltung liest sich anders.

Dreizehn Jahre nach seiner Entführung torkelt der junge Mikael Kohler-Frost im Schneegestöber über eine Eisenbahnbrücke. Offiziell ist er vor sieben Jahren für tot erklärt worden und gilt als eines der Opfer des Serienmörders Jurek Walter. Auch Mikaels Schwester ist damals vom „Sandmann“ gekidnappt worden. Nun besteht Hoffnung, dass sie ebenfalls überlebt hat und womöglich irgendwo in Schweden auf ihre Befreiung wartet. Ihr Bruder Mikael war zwar mit ihr zusammen eingesperrt, kann sich jedoch an kaum etwas erinnern. Und die Zeit drängt.

Die einzige Hoffnung bietet nun ausgerechnet Jurek Walter, der in einer Psychiatrie in Isolationshaft sitzt und ein höchst unangenehmer Zeitgenosse ist. Niemand geht davon aus, dass Walter aus freien Stücken bei der Befreiung seines eigenen Opfers behilflich ist. Joona Linna, der Kommissar der Landeskriminalpolizei, hat deshalb eine andere Idee: die Kollegin Saga Bauer vom Staatsschutz soll als verdeckte Ermittlerin in die Psychiatrie eingewiesen werden und sich das Vertrauen des Serienmörders erschleichen.

Wirkt arg konstruiert

Da fügt es sich ganz gut, dass die zu diesem Zeitpunkt Stress mit ihrem arroganten Freund hat. Alleine das wirkt arg konstruiert. Es fügt sich, weil es passen soll. Immer wieder fallen Ungereimtheiten auf, und Zusammenhänge sind teilweise unlogisch verknüpft. Gerade die Szenen in der Psychiatrie, die den perfekten Schauplatz für ein feines Kammerspiel bietet, werden sehr überstrapaziert, um eine überzogene Dramatik aufzubauen. Und für die Figur des eingesperrten Serienmörders stand wohl zu sehr Anthony Hopkins Paraderolle des Dr. Hannibal Lecter aus „Das Schweigen der Lämmer“ Pate.

„Der Sandmann“ ist kein Krimi, den man gelesen haben muss. Erst recht muss man ihn nicht im Regal stehen haben. Will man aber alle von Lars Kepler gelesen haben, so ist dieser Roman der schwächste. Ganz sicher wird es einen weiteren Roman mit dem Ermittler Joona Linna geben, so viel ist dank eines Cliffhangers sicher. Man kann nur hoffen, dass das Autorenpaar für das nächste Werk eine gründlichere Recherche betreibt und vor allem die Logik beachtet. Das wäre schon viel wert.

Lars Kepler: Der Sandmann, Bastei Lübbe Verlag, Köln, 2014, 574 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 19,99 Euro, ISBN 978-3431038873, Leseprobe

Fallen und Aufrichten. Fallen.

Das Lächeln meiner MutterWer immer dieses Buch zur Hand nimmt, sollte nicht in der schwärzesten Lebensphase stecken, denn schon die ersten Seiten werfen den Leser derart aus der Bahn, dass selbst starke Gemüter den Tränen nahe sein könnten. In ihrem autobiographischen Roman „Das Lächeln meiner Mutter“ sucht Delphine de Vigan nach den Hintergründen für den Freitod ihrer eigenen Mutter. Sie fragt Verwandte, hört alte Tonaufnahmen, findet Fotos und Briefe aus vergangenen Zeiten und zeichnet mehr und mehr ein beeindruckendes Bild einer schwer zu fassenden Frau sowie einer französischen Großfamilie, die mit Schicksalsschlägen zu kämpfen hat, als sei sie von einem Fluch belegt.

Als Lucile Poirier im November 1946 geboren wird, ist sie das dritte Kind der Familie. Weitere sechs Kinder folgen. Es ist die typische Großfamilie, wie wir sie in den leichten französischen Sommerkomödien oft zu sehen bekommen. Mit großen Feiern auf dem Land, wildem Kindergetummel, Gelächter, Weingelagen und Diskussionen bis in die Nacht, alle Generationen an einem großen Tisch vereint.

Lucile wächst in einem Haus in Pierremont auf, einer kleinen Stadt im Département Yonne südöstlich von Paris. Als Kind ist sie ein gefragtes Fotomodell, sie liebt das Fotografiertwerden, genießt aber auch das Kindsein in vollen Zügen. Doch kurz vor ihrem achten Geburtstag muss sie lernen, dass der Tod das Leben mitbestimmt: Im Sommer 1954 stirbt ihr jüngerer Bruder Antonin, nachdem er beim Spielen in einen Brunnenschacht gefallen ist. In der Familienmythologie wird sein Tod zur bezeichnenden Tragödie, mit der das Unglück seinen Anfang nimmt.

Ein Grauen für Eltern und Geschwister

Ihr folgen zwei weitere Todesfälle: Jean-Marc und Milo, Luciles jüngere Brüder, sterben ebenfalls. Jean-Marc wird eines Morgens von seiner Mutter mit einer Plastiktüte über seinem Kopf tot im Bett gefunden – der Auslöser bleibt ein Mysterium, ein Grauen für Eltern und Geschwister.

Milo ist von neun Geschwistern der dritte Bruder, der stirbt. „Ich weiß nicht, ob sich solche Schmerzen addieren oder multiplizieren, aber ich denke, für eine einzige Familie wird das doch recht viel“, schreibt de Vigan. Milo kauft sich eine Pistole und schießt sich in einem Wald eine Kugel in den Kopf. In seinem Taschenkalender findet sich an seinem Todestag der Eintrag: „Bitte verzeiht mir, ich habe nie leben wollen.“

Wie geht ein Geschwisterkind mit diesen die Familie überschattenden Ereignissen um? Wirken sie sich auf das spätere Leben aus? Behutsam versucht die Autorin, sich ihrer Mutter zu nähern, die fast unnahbar war und sich bis zuletzt – oft mit einem Lächeln – entzog. Auch Luciles Geschwister finden keine Antworten: „Sie war ein geheimnisvolles Kind, ein absolutes Geheimnis.“ Später wird klar, dass Lucile an einer bipolaren Störung leidet, die nicht nur Lucile, sondern vor allem ihre beiden Töchter in Gefahr bringt. Sie glaubt, sie könne die Pariser Metro mit ihren Gedanken kontrollieren und stehe in Kontakt mit Claude Monet.

Ein ständiges Fallen und Aufrichten

Sie treibt weiter in ihre eigene Welt. Mehrere Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken folgen. Sie bekommt sich in den Griff, verlebt glückliche Momente mit ihren Enkelkindern und muss den nächsten Schlag einstecken: Bei ihr wird Krebs diagnostiziert. Es ist ein ständiges Fallen und Aufrichten. Fallen und Aufrichten. Am Ende kann die Autorin nur noch resümieren: „Lucile starb, wie sie es sich wünschte: lebendig. Jetzt bin ich in der Lage, ihren Mut zu bewundern.“

Dass die Aufarbeitung einer schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung schon oft literarisch umschrieben wurde, ist auch Delphine de Vigan bewusst. Sie nennt das Gelände „vermint“ und das Thema „abgegriffen“. Und dennoch stellt ihr Buch vieles Zuvorgewesenes in den Schatten. De Vigan ringt mit sich, das wird immer wieder deutlich. Sie unterbricht ihr Schreiben, erzählt von den Schwierigkeiten, allen gerecht werden zu wollen, ihre Mutter nicht zu sehr in die Öffentlichkeit zu zerren und den Geschwistern die Ruhe zu erlauben, die sie sich über Jahre hinweg aufgebaut haben.

Es ist ein großes Familienprojekt, sie alle haben ihren Anteil daran, sie alle haben nicht nur lang verschlossene Kisten wieder geöffnet, sondern vor allem Erinnerungen geteilt und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Allein das ist bewundernswert, mutig, selbstlos, und zeugt von einer tiefen Zuneigung zu einer rätselhaften und zugleich faszinierenden Schwester und Mutter. Diese Faszination ergreift den Leser schon früh, denn der Buchumschlag zeigt ein Originalfoto von Lucile, aufgenommen in Pierremont, dem Ort ihrer Kindheit. Und es ist und bleibt faszinierend.

Fragwürdiger deutscher Titel

Lediglich der deutsche Titel des Buches ist fragwürdig. Im Original heißt das Buch „Rien ne s’oppose à la nuit“ („Nichts steht der Nacht entgegen“). Das Zitat entstammt laut Danksagung Alain Bashungs und Jean Fauques Chanson „Osez Josephine“, der die Autorin beim Schreiben begleitet hat. Muss ein deutscher Verlag im Titel gleich auf die Mutter-Tochter-Beziehung aufmerksam machen? Oder kann nicht auch ein feuilletonistischer Titel Erfolg haben?

Dem „Lächeln meiner Mutter“ sind auch in Deutschland viele Leser zu wünschen. In Frankreich wurde es für alle vier bedeutenden Literaturpreise nominiert.

Delphine de Vigan: Das Lächeln meiner Mutter, Droemer Verlag, München, 2013, 384 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 19,99 Euro, ISBN 978-3426199466

Haut einen um: Der Woodcutter

Rache verjährt nichtLassen Sie sich nicht vom reißerischen Titel täuschen! „Rache verjährt nicht“ ist keiner dieser Krimis, die es zuhauf auf den Tischen der Buchhandlungen zu kaufen gibt. „Rache verjährt nicht“ ist eines der wenigen aktuellen Werke, das den Stempel „Kriminalliteratur“ wirklich verdient. Lesen, lesen, lesen!

Wilfred „Wolf“ Hadda beschreibt sein bisheriges Leben als märchenhaft. Er, einst der einfache Holzfäller, hat sich in die adelige Imogen verliebt, ihr Herz erobert und sie schließlich geheiratet. Wolf kann sein Glück kaum fassen: Mittlerweile ist er ein erfolgreicher Hedgefondsmanager mit einem millionenschweren Vermögen, einem Privatjet und mehreren Wohnsitzen, und er hat diese bezaubernde Frau an seiner Seite. Doch auch in den Märchen leben die Menschen nur glücklich und zufrieden bis an ihr seliges Ende. Dass einen Menschen das schon nach 14 Jahren ereilen kann, erlebt Wolf an einem strahlenden Herbstmorgen im Jahr 2008.

Es klingelt an der Tür. Eine ganze Horde von Polizisten stürmt ins Haus, draußen warten Pressefotografen und ein Fernsehteam, das ganze Programm. Der Inspektor präsentiert selbstgefällig einen Durchsuchungsbefehl, woraufhin Wolf die Sicherungen durchbrennen und er dem Mann die Faust ins Gesicht schlägt. Festnahme. Erst auf dem Polizeirevier erfährt er, dass er Kinderpornografie gehortet und verkauft haben soll. Eine zweite Panikhandlung: Er flüchtet von der Anhörung im Amtsgericht und wird vom Bus überfahren. Als er aus dem Koma erwacht, ist er entstellt. Aus der Traum. Ende vom Märchen. Ab in den Knast.

Zurück in die Wälder von Cumbria

Dass er nach sieben Jahren aus der Haft entlassen wird, verdankt er seiner Psychiaterin Alva Ozigbo. Doch draußen hat er alles verloren: Seine Frau hat sich von ihm scheiden lassen und ist mit seinem Freund und Anwalt liiert, seine Tochter ist an einer Überdosis gestorben und seine Freunde haben sich von ihm abgewandt, obwohl er stets seine Unschuld beteuert hat. Er zieht zurück in die Wälder von Cumbria in Nordengland, wo das Märchen seinen Anfang nahm, und macht sich daran, die Hintergründe seines Falls zu erforschen.

„The Woodcutter“, vom Suhrkamp Verlag nicht nachvollziehbar mit „Rache verjährt nicht“ übersetzt, ist das letzte Werk des 2012 verstorbenen englischen Autors Reginald Hill. Es ist eines jener seltenen Bücher, deren Inhalt man möglichst schnell wieder vergessen will, damit man sie bald mit der Begeisterung des ersten Mals erneut lesen kann.

Der deutsche Titel aber führt in die Irre. Es ist kein Rachefeldzug eines zu Unrecht Verurteilten, sondern eine intelligente Spurensuche nach der Ursache einer perfiden Intrige. Hill hält seine Leser mit Erzählkunst ständig unter Spannung, seine Figuren haben Ecken und Kanten, wirken aber nicht wie so oft am Reißbrett entworfen. Allen voran ist es die Person Wolf Hadda, die den Leser gefangen nimmt. Und dann ist da noch der seltsame, dreiteilige Prolog, der dem Roman vorangestellt ist. Ach, man möchte so vieles darüber schreiben und kann es doch nicht, um nicht zu viel zu verraten.

Lesen Sie den „Woodcutter“, vergessen Sie ihn und lesen Sie ihn wieder. Verschenken und empfehlen Sie ihn, aber lassen Sie ihn nicht liegen. Und freuen Sie sich, dass noch weitere Übersetzungen folgen sollen. Oder wie Wolf Hadda mit Alexandre Dumas sagen würde: „Im Übrigen konnte ein Mensch nur eines tun: warten und hoffen.“ Hoffen wir auf die nächste posthume Veröffentlichung.

Reginald Hill: Rache verjährt nicht, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2012, 686 Seiten, gebunden, 19,95 Euro, ISBN 978-3518463901

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