Buch Wien 2016 – Das Fazit

Die Messe Wien am Abend. © Christian Lund
Die Messe Wien am Abend. © Christian Lund
Vor einer Woche endete die diesjährige Internationale Buchmesse „Buch Wien“. Auch in diesem Jahr konnten die Veranstalter einen neuen Besucherrekord verbuchen: Rund 43.000 Besucher sind in die Wiener Messehalle gekommen (2015: rund 40.000). Mit mehr als 400 Veranstaltungen auf der Messe und in ganz Wien, Tausenden Neuerscheinungen und erstmals Ausstellern aus 18 Nationen (und damit so international wie nie) bot die Buch Wien auch im Jahr 2016 wieder ein vielfältiges Programm. Deutlich spürbar war der Zuschauerzuwachs bei der „Langen Nacht der Bücher“ am Mittwochabend sowie am Wochenende. Programmdirektor Günter Kaindlstorfer sagte dazu: „Ich bin überglücklich. Für uns ist der Erfolg der ‚Buch Wien 16‘ ein Ansporn, nächstes Jahr eine noch grandiosere Messe auf die Beine zu stellen.“

Ja, die „Buch Wien“ macht sich – ein wenig. Habe ich im vergangenen Jahr noch kritisiert, dass die Qualität des Programmhefts zu wünschen übrig lässt, weil sich darin etwa kein Autoren- und Ausstellerverzeichnis findet, ist letzteres zumindest inzwischen behoben worden. Sogar unterteilt nach Themenbereichen lässt sich hier der gesuchte Aussteller leicht finden. Am Autorenverzeichnis aber mangelt es noch immer. Damit nicht genug, denn im Vorjahr gab es das immerhin noch online – in diesem Jahr nicht mal mehr das.

Dafür aber, und das muss man lobend hervorheben, ist es den Veranstaltern in diesem Jahr zum ersten Mal gelungen, den Pressevertretern und Bloggern von Anfang an einen Zugang zum Messe-WLan zu verschaffen. In den vergangenen Jahren hatte das noch für wunderliche Verzögerungen gesorgt.

Verkürzte Lesefestwoche

Nicht zu verstehen ist dagegen wiederum die Entscheidung, die Lesefestwoche zu verkürzen. In den Jahren 2013 und 2015 (2014 war Seitengang nicht in Wien) wurde jeweils am Montag die Lesefestwoche mit einer besonderen Lesung eröffnet – in diesem Jahr hat man darauf verzichtet. Zwar fanden ab Mittwoch auch am Abend Lesungen in Wien statt, aber von einer Lesefest-„Woche“ konnte nun nicht mehr die Rede sein. Schade!

Zum anderen fiel in diesem Jahr auf, dass die Veranstalter versucht haben, den Sonntag zu einem besonderen Publikumsmagneten zu machen – der nochmalige Besucherrekord gibt ihnen wohl Recht. Denn das Messeprogramm sah für den Sonntag gleich mehrere Publikumslieblinge vor, darunter Bernhard Aichner, Marjana Gaponenko, Thomas Raab, Peter Henisch, Reinhard Kaiser-Mühlecker, Dirk Stermann und nicht zuletzt Ela Angerer. Dahingegen waren die anderen Messetage überraschend dürftig besetzt, wenngleich ich auch hier einige interessante Bücher und Autoren kennengelernt habe.

Sehr beeindruckend war die Festrede der gebürtigen Ungarin Terézia Mora sowie die Lesung aus ihrem Erzählband. Mora hatte in ihrer Eröffnungsrede zum Thema „Sätze und Menschen“ die Migration von Menschen und literarischen Texten verglichen: „Tatsache ist: Sobald ein Satz in der Welt ist, wird er migrieren.“ Ähnlich eindrucksvoll gelangen die Lesungen von Catalin Dorian Florescu sowie Cynthia D’Aprix Sweeney. Letztere brachte sogar noch den deutschen Schauspieler Johann von Bülow („Nach fünf im Urwald“, „Tatort“, „Mord mit Aussicht“) mit. Der las die deutsche Übersetzung ihres Buches („Das Nest“) in einer Vortrefflichkeit, dass es eine wahre Freude war, ihm zu lauschen.

Überschaubar und angenehm

Die „Buch Wien“ hat sich hier und da gemausert, jedoch an anderen Stellen auch verloren. Dennoch ist und bleibt die Wiener Buchmesse herrlich überschaubar, angenehm und familiär. Deshalb wird Seitengang voraussichtlich auch im nächsten Jahr wieder von der „Buch Wien“ berichten. Bleiben Sie mir gewogen!

Tipp: Lesen Sie hier nochmal alle Berichte der „Buch Wien“ 2016, 2015 und 2013.

12 Frauen

AnnaliederWelche Entdeckung ist diese Autorin! Ein gutes Dreivierteljahr, nachdem Nadine Kegele bei der Lesefestwoche Wien aus ihrem Debütwerk „Annalieder“ vorgelesen hat, stellt sich das Gefühl der Hochachtung schnell wieder ein. Der Erstling, endlich vollständig vom Rezensenten gelesen, ist so tief beeindruckend wie schwierige Kost, aber nicht für jedermann geeignet.

„Annalieder“, das sind zwölf Erzählungen über zwölf Frauen, von denen Anna nur eine ist. Diese Geschichten sind allesamt keine Lieder, die man vergnügt trällern würde, obgleich sie Momente der Komik haben. Es sind vielmehr Melodien, die zu nachdenklichen Chansons taugen, viel Moll, einige Misstöne, scheinbar Unpassendes dazwischen, wie ein Klavierspieler, der zu viele Tasten auf einmal trifft.

Die Frauen in Kegeles Geschichten stecken mitten drin. Im Leben, im Schlamassel, im Auf- oder Ausbruch. Die eine schneidet sich versehentlich die Brustwarze auf, als sie mit dem Rasierer in der Hand nach dem Duschgel greift. Die andere kämpft mit den erzkonservativen Vorstellungen ihres Mannes, der eine Schlagbohrmaschine nicht in der Hand einer Frau sehen möchte und meint, Schwangere dürfen nicht verreisen.

Vaterfiguren zum Partner

Eine sucht sich Vaterfiguren zum Partner („Warum keinen Vater suchen, wenn man einen Vater vermisst, hatte sie geantwortet und mit dem Arm über ihren Mund gewischt.“), eine andere ist Prostituierte und mag nicht mehr.

Kegeles Frauen sind verwundet, ob nun tatsächlich blutend wie eine aufgeschnittene Brustwarze oder seelisch. Es geht um den alltäglichen Kampf der Geschlechter, das ewige „Mann und Frau“, das noch immer nicht gleichberechtigt ist. Es geht aber auch um Scham und existenzielle Fragen.

Schwangerschaft ist ebenso ein großes Thema bei Kegele. „Mir tut es immer leid, wenn sichtlich schwangere Frauen im Publikum sitzen und ich diese Geschichten vortrage“, sagte sie bei ihrer Lesung in Wien. Aber eine Mutterschaft sei etwas Schwieriges, wo Frauen viel abverlangt werde.

Man muss sich mit den Erzählungen beschäftigen

Auch dem Leser wird einiges abverlangt, vor allem Konzentration. Manch einer mag sagen, dieses Büchlein zu lesen, sei Arbeit. Ja, das ist es vielleicht, aber mehr im Sinne von Beschäftigung. Man muss sich mit diesen Erzählungen beschäftigen, denn so lapidar Kegele auf den ersten Blick schreibt – wer die Wörter nur überfliegt, könnte die Landebahn für den Sinn verpassen.

Kegele schreibt nicht nur, sie richtet an. Da finden Sätze plötzlich kein Ende, sodass man meint, man habe Unfertiges vor sich. Die Sprache ist so beschädigt wie die Heldinnen der Erzählungen. Das muss man nicht mögen, aber man kann es. Es sind Kunst-Erzählungen. Nicht über Kunst, sondern mit Kunst. Gekonnt.

Das haben auch andere schon erkannt: Die junge Vorarlberger Autorin, die mit 18 nach Wien kam und dort nach dem Zweiten Bildungsweg Germanistik, Theaterwissenschaften und Gender Studies studierte, ist bereits mehrfach ausgezeichnet worden. Unter anderem ist sie die Publikumspreisträgerin des Bachmann-Preis-Wettbewerbs 2013.

Kegele schreibt wie Kegele

Neue Autoren werden gerne mit großen Namen verglichen. „Schreibt wie Proust.“ „Denkt wie Aristoteles.“ „Erinnert an Hemingway.“ Hier mal was Neues: Kegele schreibt wie Kegele. Sie braucht keine großen Namen und Vergleiche.

Wer sich ihr und ihrem Werk erst mal vorsichtig und mit Bedacht nähern möchte, dem sei ihre Homepage empfohlen. Auch bei Twitter kann man ihr folgen. Außerdem hat sie für die Literaturseite zehnSeiten.de aus „Annalieder“ vorgelesen. Das Video ist noch bei YouTube abrufbar.

Am 25. August erscheint im Wiener Czernin Verlag der erste Roman von Nadine Kegele („Bei Schlechtwetter bleiben Eidechsen zu Hause“). Für eine Passage aus diesem Buch hatte Kegele im vergangenen Jahr den Publikumspreis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs gewonnen.

Der Textauszug war innerhalb der Jury höchst umstritten, wie auf der Internetseite des Bachmann-Preises nachzulesen und zu sehen ist. Dem Publikum aber scheint er gefallen zu haben. Ob Kegele auch einen ganzen Roman so kunstfertig schreiben kann, und ob dem Leser auch das zusagt, bleibt indes abzuwarten.

Nadine Kegele: Annalieder, Czernin Verlag, Wien, 2013, 112 Seiten, gebunden, 17,90 Euro, ISBN 978-3707604467, Leseprobe

Buch Wien 2013 – Das Fazit

DSC_0291Vor einer Woche schlossen sich die Tore der sechsten Internationalen Buchmesse „Buch Wien“ endgültig. Laut Veranstalter besuchten rund 34.000 Literaturinteressierte die Buchmesse und die begleitende Lesefestwoche. Flächenmäßig war die Messe auf 8.800 Quadratmeter gewachsen und bot mit 330 Ausstellern aus zehn Nationen und mehr als 400 Veranstaltungen ein breites Programm für Bücherfreunde.

Die Eröffnungsrednerin Sibylle Lewitscharoff hielt in ihrer Rede ein viel beachtetes Plädoyer für das gedruckte Buch und wetterte gegen den Online-Versandhändler Amazon und die Aufweichung des Urheberrechts:

„Ebenso katastrophal (…) sind tumbe neue politische Gruppierungen, deren oberstes Ziel es ist, die Urheberrechte zu schleifen und gleich alles kostenlos ins Netz zu stellen. Wir leben nun einmal in einer Gesellschaft, die ihre Anerkennung dadurch ausdrückt, dass für eine Leistung bezahlt werden muss. Dass es dabei oft eklatant ungerecht zugeht, ist klar. Aber es ist völlig unverantwortlich, von einzelnen Branchen zu fordern, dass in ihnen künftig unbezahlt gearbeitet werden soll.“

Die vollständige Eröffnungsrede ist hier abrufbar.

Für Andrang bei den Messebühnen und volle Säle bei den Abendveranstaltungen sorgten vor allem österreichische, aber auch internationale Autoren wie Leon de Winter, Per Olov Enquist, Viktor Jerofejew, Tanja Maljartschuk und Mahmud Doulatabadi. Aus Deutschland kamen unter anderem Ferdinand von Schirach, der mit seinem neuen Roman „Tabu“ die Lesefestwoche eröffnete, Brigitte Kronauer und Clemens Meyer.

Die österreichische Literaturszene war mit Peter Henisch, Austrofred und Michael Stavarič prominent vertreten, die Schweiz mit Peter Stamm. Ganz besonders genossen habe ich die Lesung von Nadine Kegele, der Publikumspreisträgerin des diesjährigen Bachmann-Preis-Wettbewerbs, die für mich eine Entdeckung war.

Dass die Buch Wien jedoch noch am Anfang einer Messe-Karriere steht, merkt man an einigen kleinen Stellen. Zwar gibt es ein gedrucktes Programmheft, das kostenlos ausliegt, es fehlt darin aber ein Autoren- und Ausstellerverzeichnis. Das Ausstellerverzeichnis gibt es extra als Faltplan, ist aber nicht in das Programmheft integriert. Außerdem fehlen im Programmheft leider Hinweise auf die Termine an den einzelnen Messeständen. Das ist etwa bei der Leipziger Buchmesse besser gelöst.

Es fällt außerdem auf, dass die Verlage bei Facebook und anderen sozialen Netzwerken zu wenig Werbung machen für die Buch Wien. Auch das ist bei den großen Messen in Leipzig und Frankfurt anders. Trotzdem ist auch die Buch Wien eine Messe, die sich zu besuchen lohnt. Sie ist klein, familiär und überschaubar. Und gerade das macht sie so interessant. An den Messeständen und bei den Lesungen kommen Leser, Autoren und Verlagsmitarbeiter ins Gespräch. Ein Gang über die Messe artet nicht in Stress und Geschiebe aus, sondern sorgt für einen guten Einblick in die aktuelle Buchlandschaft. Ich bin gespannt, wie sich die Messe in den nächsten Jahren weiterentwickelt.

Die nächste Gelegenheit, die Buch Wien zu besuchen, gibt es vom 13. bis 16. November 2014. Ob Seitengang daran teilnehmen kann, ist allerdings noch nicht klar. Alle Berichte von der Buch Wien sind hier nachzulesen.

Clemens Meyer : „Sexualität ist wie ein Überraschungsei“

DSC_0260Am Donnerstagabend las der Leipziger Kult-Autor Clemens Meyer in Wien aus seinem gefeierten Roman „Im Stein“, den er selbst als „Lebensstoff“ bezeichnet. Dabei zeigte er sich nicht nur als offener und sympathischer Interviewpartner, sondern auch als ernsthafter Vorleser des eigenen Stoffes.

„Sexualität ist wie ein Überraschungsei, nur dass es nicht ganz so gut schmeckt am Ende“, sagt Clemens Meyer in Wien. Sein Roman offenbart das Rotlichtmilieu in all seinen Facetten. „Kaum jemand unter den Schriftstellern seiner Generation weiß so viel wie Clemens Meyer“, schreibt Ina Hartwig in der Süddeutschen Zeitung. Die Feuilletonisten überschlagen sich, begeisterte Synonyme für diesen Roman, dieses Panoptikum und Sittenbild zu finden.

Der Roman erzählt nicht linear, sondern ist voller Zeitsprünge. „Mein Roman ist schwierige Literatur, auch für den Leser nicht leicht“, hat er Gerrit Bartels vom Tagesspiegel in einem lesenswerten Interview gesagt. Meyer ist ein Kunstschaffender, ein Suchender. Und er hat ein surreales Epos geschrieben, das schonungslos und dennoch mit Herz von der Subkultur der käuflichen Liebe erzählt, von Gewalt und Konkurrenz, aber auch vom Geld, das mit der Prostitution verdient wird.

Das „steinere Geschäft“ der Baulöwen

Eine Vielzahl von Gründen haben zum Titel des Buches geführt, erklärt Meyer in Wien. Zum einen versinnbildliche der Stein diese unbekannte Großstadt, in der der Roman angesiedelt ist. Rund 600.000 Einwohner seien in einem Hybrid aus Halle/Saale und Leipzig gefangen. Der „Schweinehans“ lebt teilweise in Katakomben, eine andere Figur im Krematorium. „Es ist auch der archäologische Blick – wir leben ja auch alle auf früheren Städten, und vielleicht werden auch wir irgendwann eine Schicht unter einer Stadt sein.“ „Im Stein“ meine aber auch das „steinere Geschäft“ der Baulöwen und Wohnungsvermieter.

„Wir leben in einer Zeit, in der die Gier nach dem Geld üblich ist, aber in diesem Bereich kommt plötzlich die Moral ins Spiel“, erklärt er. Das fände er interessant. Es gehe um Körper, um das Körperliche an sich, das sich zu Geld machen lasse. „So wie Badelatschen, und doch sind es keine. Ich dachte, hier kannst du mit Sprache, mit Struktur etwas zeigen, die Welt, in der wir leben.“ Auch die Geschleusten, die Geschleppten kommen im Roman vor. Clemens Meyer formuliert es so: „Die Stimmen der Frauen füllen den Stein.“

Reale Vorbilder für die Figuren gibt es indes nicht. „Es gab aber im Jahr 1998 einen Zündfunken.“ Ein Zeitungsartikel über einen Rotlichtboss in Leipzig, dem beide Beine weggeschossen worden sind. „Da habe ich gedacht: Das ist ein interessanter Fall – wenn der das überlebt und zurückkommt, ist der stärker als zuvor, ein König, fast schon von shakespeareschen Ausmaßen.“ Und trotzdem sei er nicht der Rotlichtboss seines Romans geworden. „Der würde mich auch verklagen“, sagt er und lacht. „Nein, er ist es nicht. Er hat das Buch auch gelesen und gemerkt, dass er das nicht ist.“

„Man muss viel zuhören können“

Seit 1998 hat Meyer an seinem Roman gearbeitet. Da war er Anfang 20, und der Roman trug noch den Arbeitstitel „Das Hurenhaus“. Er traf sich mit Leuten, sprach mit Frauen aus dem Gewerbe und hörte vor allem viel zu. „Man muss viel zuhören können“, wiederholt er. Erst im Jahr 2008 begann er mit dem Schreiben. „Zwischendurch habe ich dann „Gewalten“ geschrieben, weil ich mit dem „Stein“ nicht weiterkam.“

Als er am „Stein“ schrieb, war der Schreibtisch mit Notizen bedeckt, Zeitungsausschnitte und Bücher stapelten sich, rundherum standen Pinnwände. Jetzt hat er wie in einem Akt der Loslösung und der Trennung von seinen Romanfiguren alle seine Notizen und Bücher vernichtet. „Ich habe alles weggeworfen – in so eine Aschetonne und musste sogar mehrfach draufspringen“, erzählt er dem Publikum in der Wiener Hauptbücherei. Er habe sogar die Bücher weggeworfen, solche von Sexarbeiterinnen und Bordellkönigen. Milieuliteratur.

Nur zwei Bücher hat er aufgehoben: „Im Strich“, ein Buch, das in Wien spielt und „gar nicht leicht zu kriegen“ war sowie ein Callgirlführer aus München vom Anfang der 70er Jahre. „Das ist sehr schön, dieses Buch, das hat eine ganz eigene Philosophie, und früher konnte ich die Sprüche daraus auswendig.“ Außerdem habe er natürlich den „Zündfunken“ aufgehoben, den Zeitungsausschnitt, mit dem alles begann.

Jetlag in Tokio mit Whisky bekämpft

Meyer ist einer jener Schriftsteller, die an den Schauplätzen ihrer Romane gewesen sein müssen, sofern sie nicht völlig der Phantasie entspringen. Deshalb flog er 2002 nach Tokio. Er habe versucht, den Jetlag mit Whisky zu bekämpfen. „Aber der kam zurück und schlug mich wieder mehrere Stunden zurück – vielleicht hätte ich so viel trinken müssen, dass ich da angekommen wäre, wo ich herkam.“ Er lacht.

Als die Moderatorin und Standard-Kulturchefin Andrea Schurian erklärt, Meyer würden schriftstellerische Vorbilder wie Daniel Woodrell unterstellt, sagt der: „Wer? Den kenn‘ ich gar nicht.“ Uwe Johnson, Alfred Döblin, Hubert Fichte oder Wolfgang Hilbig, die hätten ihn beeindruckt. Und dann: „Wie hieß der Amerikaner?“ „Woodrell.“ „Kenn ich gar nicht!“ Er klappt sein Leseexemplar auf und notiert sich den Namen.

Seinem Lieblingsbuch von Fichte hat Meyer in seinem Roman ein kleines Denkmal gesetzt: „Ecki geht über den Naschmarkt: Der Tote Eisenbahner ist genau null Komma neun Kilometer vom Naschmarkt entfernt“, heißt es da. Bei Fichtes „Die Palette“ geht Jäcki über den Gänsemarkt. Es ist eine Huldigung an Meyers Vorbild. Und es ist einer der drei Teile des Romans, die Meyer in Wien seinem Publikum vorliest.

„Dann las ich das und dachte: Mensch, das ist ja gut!“

„Letztens habe ich ein Kapitel in meinem Buch entdeckt“, fängt er später wieder an zu erzählen. Das Publikum lacht und Meyer merkt, wie seltsam das klingt. „Ich saß in Greifswald bei einer Lesung, und der Moderator sagte, er wollte die Tokio-Szene hören.“ Da habe er erstmal suchen müssen in seinem 560 Seiten starken Buch. „Dann las ich das und dachte: Mensch, das ist ja gut!“ Man nimmt sie ihm ab, diese bescheidene Überraschung über die eigene Sprachgewalt und Kunstfertigkeit.

„15 Jahre habe ich an diesem Roman gearbeitet, es war einer meiner Lebensstoffe, das nächste Buch auch, obwohl das Thema schwieriger ist.“ Kroatisch müsse er nächstes Jahr lernen, so wie er für den „Stein“ habe BWL lernen müssen, weil eine seiner Figuren BWL studiert habe. Der neue Roman, so viel verrät er schon, werde in Kroatien spielen, an den alten Winnetou-Film-Schauplätzen und im Krieg der 90er. „Es gibt ein Kino zwischen den Fronten, das immer diese alten Filme zeigt – was man daraus machen kann, weiß ich aber noch nicht.“

Meyers erster Roman „Als wir träumten“ wird in der Zukunft auf deutschen Kinoleinwänden zu sehen sein. Regisseur Andreas Dresen („Halt auf freier Strecke“) verfilmt den Stoff derzeit, das Drehbuch stammt von Wolfgang Kohlhaase („Die Stille nach dem Schuss“). In Wien erzählt Meyer, dass er gerade erst am Set gewesen sei und seinen Hitchcock-Auftritt gehabt habe: „Ich habe einen Polizisten gespielt und meine Rolle sehr ernst genommen.“ Aber es sei schon seltsam, die Figuren seines Romans in Fleisch und Blut verkörpert zu sehen.

Bei Verfilmung am Drehbuch mitschreiben

Er habe auch schon darüber nachgedacht, „Im Stein“ verfilmen zu lassen. „Es gab eine Anfrage von einer Produktionsfirma, die eine Art amerikanische Serie daraus machen wollte.“ In jedem Fall wolle er aber bei dieser Verfilmung am Drehbuch mitschreiben, das sei ihm sehr wichtig.

„Aber jetzt ist erstmal das Buch da, das war auch schon schwierig genug. Und manchmal kann man sein Buch schon nicht mehr sehen“, sagt er und liest trotzdem noch eine Szene vor.

Der 1977 geborene Clemens Meyer ist bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Mitte November wurde bekannt, dass er für seinen neuen Roman am 27. Januar mit dem Bremer Literaturpreis 2014 ausgezeichnet wird. In diesem Jahr war er auch für den Deutschen Buchpreis nominiert, den Preis aber bekam Terézia Mora für ihren Roman „Das Ungeheuer“.

Die nächsten Lese-Termine von Clemens Meyer und weitere Informationen sind auf seiner Autoren-Homepage abrufbar. Eine Lesung von ihm ist in jedem Fall empfehlenswert. Nicht nur in Wien.

Clemens Meyer: Im Stein, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2013, 560 Seiten, gebunden, 22,99 Euro, mit Lesebändchen, ISBN 978-3100486028, Leseprobe

Peter Stamm liest in Wien aus „Nacht ist der Tag“

Foto: LCM Richard Schuster
Foto: LCM Richard Schuster
Am Dienstagabend las der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm bei der Wiener Lesefestwoche aus seinem neuen Roman „Nacht ist der Tag“. Vor rund 50 Zuhörern gab er im Literaturhaus einen intensiven Einblick in das im Juli erschienene Buch und stellte sich den klugen Fragen des Moderators Stefan Gmünder.

Der neue Roman erzählt von den tragischen Erlebnissen der erfolgreichen Fernsehmoderatorin Gillian. Nach einem Streit mit ihrem Mann Matthias hat das Paar in der Nacht einen schweren Autounfall. Ihr Mann wird tödlich verletzt. Sie selbst überlebt, ihr zuvor schönes Gesicht ist aber fürchterlich entstellt.

Die Ärzte machen ihr zwar Hoffnung, dass sie in rund sechs Monaten wieder annähernd so aussähe wie zuvor, doch bis dahin ist der Blick in den Spiegel unerträglich. Es ist der Kampf einer Frau, die dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen ist, aber mit den Folgen leben muss. Leben können und leben müssen.

Eindringlich und mit vorsichtigen Worten

„Bin ich der, den ich spiele, oder bin ich der, der ich bin, wenn ich meine Kleider ausziehe?“, fasst Stamm nach der Lesung zusammen. „Und was macht das mit mir, wenn mein Körper sich grundlegend ändert?“ Es ist ein schwieriges Thema, das sich der Schweizer ausgesucht hat. Aber schon bei der Lesung wird deutlich, wie eindringlich und mit vorsichtigen Worten er sich der Thematik nähert.

Er ist ohnehin bekannt für seinen präzisen Schreibstil, seine Nüchternheit und seine Erzählungen über Menschen in Lebenskrisen. Die Personen seiner Romane kämpfen mit den großen Problemen. Oder wie Gmünder es am Abend treffender ausdrückte: „Es geht nicht um Breite, sondern um Tiefe.“

Stefan Gmünder, Leiter der Literaturredaktion der Wiener Tageszeitung Der Standard, sagte bei der Einführung über den Autor, Stamm spreche vom literarischen Schreiben als Arbeit. „Ich ‚muss‘ nicht schreiben, aber ich liebe das Schreiben mehr als jede andere Beschäftigung“, heißt es auf Stamms Homepage. In Wien schließlich gestand er: „Ich wüsste nicht, was ich sonst tun sollte.“ Und mit einem Schmunzeln: „Ich kann auch nichts anderes.“

„Ich hatte ein strukturelles Problem“

Den Stoff für den Roman hatte Stamm vor Jahren schon einmal in abgewandelter Form aufgegeben. „Ich hatte nur den Anfang, die Geschichte einer Heilung, aber ich hatte ein strukturelles Problem damit“, erklärte er. Er habe aber unbedingt daran arbeiten wollen. Erst nach der Umstellung der Struktur sei der Roman und die Arbeit daran wieder möglich geworden.

Die Namen in „Nacht ist der Tag“ aber seien schon von Anfang an da gewesen. „Ich kann keine Figur beschreiben, die keinen Namen hat“, sagte Stamm. Gmünder aber verwies zurecht darauf, dass der Name Gillian etwas heraussteche. Ob es dazu eine Hintergrundgeschichte gebe. „Nein, Namen wandern einem ja zu. Aber ich kann nicht erklären, woher der Name Gillian stammt.“

Stattdessen aber konnte Stamm erklären, warum er so gerne auf Lesereise geht: „Beim Schreiben ist man ganz allein, beim Lesen sieht man wenigstens auch mal die Leute, die das Zeug kaufen.“ Das Publikum nahm die Chance zum Lachen gerne an. Es wirkte wie eine Erlösung nach dem schweren Stoff.

Die Leute, die sein neustes „Zeug“ noch nicht gekauft hatten, konnten das noch am Abend nachholen und von Peter Stamm signieren lassen. Auf Seitengang wird beizeiten die Rezension zu „Nacht ist der Tag“ zu lesen sein.

Peter Stamm: Nacht ist der Tag, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2013, 256 Seiten, gebunden, 19,99 Euro, ISBN 978-3100751348, Leseprobe

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