Piep, piep, piep, das ist Türe

Wenn der Leser die erste Seite aufschlägt, ist Jack gerade fünf Jahre alt geworden: „Heute bin ich fünf. Als ich gestern Abend in Schrank eingeschlafen bin, war ich noch vier.“ Schrank steht in Raum. Und in Raum wohnen Ma und Jack – auf 12 Quadratmetern. Raum ist Jacks ganze Welt. Und es ist gleichzeitig einer der verstörendsten, beeindruckendsten Bücher der vergangenen Jahre.

Jack ist in Raum geboren. Raum hat eine verschlossene Tür, die „Piep, piep, piep“ macht, wenn Old Nick kommt und Lebensmittel bringt. Wer Old Nick ist, weiß Jack nicht. Dass Jacks Mutter im Alter von 19 Jahren von Old Nick gekidnappt und in Raum eingesperrt wurde, weiß Jack nicht. Jack glaubt, Raum sei die ganze Welt. Jack glaubt, außerhalb des Raumes ist nur noch das Weltall. Jacks Freunde sind die Cartoonfiguren, die er im Fernsehen sieht, aber auch bei denen weiß er: die sind nicht „in echt“. Wirklich echt sind nur Ma, er selbst und die Dinge in Raum. Doch eines Tages sagt seine Mutter, wer lügt, könne sich auch entlügen. Und sie beginnt, Jack von der Welt da draußen zu erzählen.

„Raum“, das achte Buch von Emma Donoghue, ist wirklich beeindruckend. Tief beeindruckend – nachhaltig. Im Grunde genommen müsste die Rezension nach der unbedingten Leseaufforderung enden. Doch es ist Aufgabe des Rezensenten, Zweifler zu überzeugen, das Buch dennoch zu lesen, obwohl so oft durch die Presse geisterte, dass hier Schlimmes zu lesen ist. Und dass es zu sehr an die Fälle Fritzl und Kampusch erinnere. Donoghue erklärte im Gespräch mit der Guardian, ihr sei vorgeworfen worden, sie schreibe ein gewinnbringendes Buch, um die Trauer der Opfer zu nutzen: „Ich dachte: So ist es nicht, aber niemand wird es wissen, bis sie es gelesen haben.“

Der Einstieg in die Geschichte gelingt leicht und schwer zugleich. Jack erzählt in seinen Worten den für ihn so wenig bekümmernden Alltag in Raum. Als Leser stolpert man über die grammatisch zeitweise falschen Sätze. Man ist verwirrt, dass Lampe, Oberlicht, Schrank und Raum für Jack keine bestimmten Artikel haben. Jack personifiziert die Gegenstände. Das ist gut und klug umgesetzt, sowohl von der Autorin als auch vom Übersetzer. Überhaupt wirkt die kindliche Perspektive erst durch ihre Einfachheit so eindringlich.

Fürwahr: Das Buch ist voller Schrecken, es ist ab und zu zum Fremdschämen, es ist zum Mitleiden und Mitleidhaben, aber es ist auch zum Bewundern, zum Schmunzeln. Jack ist einfach ein famoser Kerl. Und „Raum“ ist kein Reißer, kein Skandalwerk, sondern schlichtweg ein überwältigendes Buch. Lesen, unbedingt!

Emma Donoghue: Raum, Piper Verlag, München, 2011, 410 Seiten, gebunden, 19,99 Euro, ISBN 978-3492054669

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