Sei, wer du bist oder: Warum wir Selbstbestimmung fördern sollten

„Coming-out ist kein Tag, sondern ein Prozess“, sagt Linus Giese. Der 37-Jährige arbeitet als Buchhändler und Autor in Berlin. Vor fünf Jahren hatte Giese sein Coming-out als trans* Mann. Seine Transition dokumentiert er unter anderem auf Instagram und Twitter. Im Jahr 2020 erschien sein Memoir „Ich bin Linus. Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war“ und wurde ein Bestseller; er ist eine der wichtigsten Stimmen der trans* Community. Jetzt legt Giese mit dem kleinen, offenherzig geschriebenen Band „Lieber Jonas oder Der Wunsch nach Selbstbestimmung“ nach und eröffnet damit die Reihe „Briefe an die kommenden Generationen“ des Kjona-Verlags.

Jonas ist ein trans* Junge, der mit seiner Mutter zu Giese in den Buchladen kam, in dem er damals arbeitete, und ihm erzählte, wie gern er sein Buch „Ich bin Linus“ gelesen habe. Auch die Mutter hatte das Buch gelesen und vertraute Giese an, dass Jonas noch ganz am Anfang stehe. Er habe den ganze Weg noch vor sich. Das beeindruckte Giese nachhaltig, vor allem, dass Jonas offenbar von seiner Mutter unterstützt wurde. Sie hatte nicht nur Gieses Buch gelesen, sondern war bereit, Jonas auf seinem Weg zu begleiten. Am nächsten Tag wollten die beiden am „Christopher Street Day“ teilnehmen, erinnert sich Giese.

Giese gibt Einblicke in seine eigene Jugend

Dass trans* Jugendliche von ihren Eltern unterstützt werden, kommt leider immer noch zu selten vor, weiß er. Deshalb entstand aus Jonas‘ Besuch der Impuls, über ihn, seinen Weg und sein zukünftiges Leben zu schreiben und damit auch anderen trans* Jugendlichen zu helfen. Giese gibt auch Einblicke in seine eigene Jugend und vergleicht sie mit jener der heutigen Generation. Glücklicherweise gibt es inzwischen immer mehr Erfahrungsberichte für trans* Menschen und auch generelle Aufklärungsbücher für Unwissende, die vielleicht sehr plötzlich durch ein Coming-out einer nahestehenden Person mehr wissen wollen. Als weitere Hilfestellung hängt Giese dem Buch eine kleine Literaturliste an.

Nicht zuletzt durch seine Offenheit ist Linus Giese zu einem wichtigen Sprachrohr für alle trans* Menschen geworden. Viele holen sich auch Rat bei ihm, erzählt er, obgleich er selbst schon Anfang 30 war, als er sein Coming-out hatte. Im Grunde aber ist es egal, in welchem Alter trans* Menschen diesen Schritt gehen. Wichtig für alle ist ein Satz, den Giese ans Ende seines Buches stellt, der sich aber auf jeder vorherigen Seite findet, nur in anderen Worten. Ein Satz also, der wie ein unsichtbarer roter Faden alles durchdringt: „Bitte nicht vergessen: Niemals aufhören anzufangen!“

Junge Menschen wie Jonas sind heutzutage „aufgeklärter“, als Linus Giese sein konnte, als er in Jonas‘ Alter war. Giese spürte zum ersten Mal in seiner Pubertät, wie binär alles ist, standardisiert, eine „zementierte Norm“. Er habe sich in seiner Kindheit und Jugend in den 1990er Jahren niemals selbst in einem Buch gespiegelt gesehen. „Ich bin, was ich bin – auch wenn es mir nie erklärt, gezeigt oder vorgelebt wurde.“ Jahrelang habe er gelesen, um sich selbst in Büchern zu finden. Ohne Erfolg.

Menschen müssen sehen können: Ich bin nicht alleine

Das aber ist heutzutage anders. Es gibt zahlreiche Bücher, fiktionale und non-fiktionale, Serien, Filme. Es gibt trans* Stars auf den Bühnen weltweit und trans* Menschen, die im Bundestag sitzen. „Ich hoffe und glaube, dass wir heutzutage weiter sind als zu der Zeit, in der ich zur Schule gegangen bin“, schreibt Giese. Sehen und gesehen werden – das ist ultimativ wichtig. Ganz am Anfang seines Buches schreibt er: „Es ist schwer, von etwas zu träumen, wenn du es nicht sehen kannst.“ Und später: „Ein Kind kann nur das werden, was es sieht.“ Ihm selbst seien während seiner Schulzeit keine queeren Menschen begegnet, keine trans* oder nicht-binären Menschen, dabei muss es sie gegeben haben. Sie waren nur nicht so sichtbar wie heute. Menschen müssen aber sehen können: Ich bin nicht alleine.

Linus Giese nimmt in seinem Buch auch Bezug auf das neue und seit vielen Jahren geforderte Selbstbestimmungsgesetz, das in diesem Jahr in Kraft treten, das veraltete Transsexuellengesetz ersetzen und die diversen Hürden beseitigen soll, die trans* Menschen bis dato noch nehmen müssen. Trans* und nicht-binären Menschen soll das Gesetz den Zugang zur Namens- und Personenstandsänderung wesentlich erleichtern. Das nämlich ist bis heute eine zeit- und kostenintensive Tortur. Ganz unabhängig davon, dass sich trans* Menschen noch einem langwierigen und übergriffigen Verhör von zwei Gutachter*innen unterziehen müssen, die dann schließlich entscheiden dürfen, ob Menschen ihr eingetragenes Geschlecht ändern dürfen. Ganz ehrlich: In welcher Zeit leben wir denn, bitte?

Konservative reagierten von Beginn an mit harscher Kritik und hinterfragenswerten Argumenten wie jenen, das von SPD, Grünen und FDP geplante Selbstbestimmungsgesetz sei ein zu lockeres Angebot und könne es Sexualstraftätern erleichtern, in besondere Schutzräume von Frauen vorzudringen. In der Emma von Alice Schwarzer warnte ein umstrittener Jugendpsychiater vor einem „Transhype“, ohnehin ist die Emma, nach eigenen Angaben ein sogenanntes „feministisches Magazin“, auf einem Kreuzzug gegen die „sich anbahnende Katastrophe“. Alice Schwarzer warnt in einer „Streitschrift“ mit dem Titel „Transsexualität – was ist eine Frau? Was ist ein Mann?“ vor einer „Trans-Mode“.

Ganz sicher ist Trans* kein Hype und kein Trend

Linus Giese sagt darauf völlig zurecht: „Cis Männer brauchen keine Personenstandsänderung, um Gewalt gegen Frauen ausüben zu können. (…) Niemand muss den Personenstand ändern, um Frauen auf einer Toilette aufzulauern. (…) Frauen müssen vor Gewalt geschützt werden, doch das hat nichts mit dem Selbstbestimmungsgesetz zu tun.“ Und ganz sicher ist Trans* kein Hype und kein Trend.

Dass trans* Menschen verbale Gewalt entgegenschlägt, ist vor allem in den sozialen Medien verbreitet. In einem Interview mit dem Spiegel (paid) sagte Giese: „Ich kann eigentlich kaum einem jungen Menschen guten Gewissens empfehlen, auf Twitter offen über die eigene Transgeschlechtlichkeit zu sprechen. Das Risiko, dort angefeindet, beschimpft oder bedroht zu werden, ist einfach sehr hoch.“ Trans* Menschen werden abgewertet, übelst beleidigt und mit Hass überschüttet. Aber auch in der realen Welt ist man nicht davor gefeit. Giese berichtet in „Lieber Jonas“, wie ihm Menschen gar vor der eigenen Haustür die Klingel- und Briefkastenschilder mit dem alten Namen überklebten.

Leitfäden für Medienschaffende

Den alten, abgelegten Namen zu nennen, Deadnaming zu betreiben, ist auch 2023 noch immer verbreitet. Auch Journalist*innen wissen oft nicht richtig Bescheid oder sind wenig sensibilisiert, dabei gibt es gute Leitfäden für Medienschaffende. Die „Vereinigung von Menschen mit Variante der Geschlechtsentwicklung“, kurz VDGE, etwa hat hier einen empfehlenswerten Leitfaden zusammengestellt. Und auch die Menschenrechtsaktivistin Julia Monro stellt auf ihrer Webseite einen Leitfaden zur diskriminierungsfreien Berichterstattung zum Download zur Verfügung.

Dennoch finden sich immer wieder Artikel, in denen Deadnames verwendet werden. Zuletzt übernahmen die Kieler Nachrichten in einer Pressemitteilung der Polizei ungefiltert deren Formulierung, so dass der abgelegte Name eines vermissten Jungen genannt wurde. Die Redaktion entschuldigte sich später dafür, allerdings mit wenig Einsicht, wie Jeja Klein bei queer.de sehr schön aufschlüsselt. Einen lesenswerten Beitrag zum Thema Deadnaming und Journalist*innen gibt es auch von Linus Giese selbst auf seinem Blog.

Linus Giese schreibt auch in „Lieber Jonas“ bewährt ehrlich und schonungslos. Seine persönlichen Erfahrungen werden nicht nur Kindern und Jugendlichen helfen, die in Jonas‘ Alter sind, sondern auch ihren Eltern, Verwandten und Freunden. Vielleicht aber, und das ist ihm zu wünschen, ist der nur 75 Seiten lange Band kurz genug dafür, dass ihn alle lesen, vor allem diejenigen, die eben keine direkte Verbindung zu trans* Menschen haben. Möge er für mehr Verständnis sorgen. Für mehr Sichtbarkeit. Für mehr Einsicht, warum es klug ist, wenn wir selbst darüber entscheiden dürfen, welchen Namen wir tragen und ob wir einem Geschlecht angehören und wenn ja, welchem. Es ist ein wichtiges Buch. Und ein nötiges.

Linus Giese: Lieber Jonas oder Der Wunsch nach Selbstbestimmung, Kjona-Verlag, München, 2023, 75 Seiten, gebunden, 18 Euro, ISBN 978-3910372061, Leseprobe

Linus Giese: Lieber Jonas oder Der Wunsch nach Selbstbestimmung, Hörbuch, gelesen von Linus Giese, Argon-Verlag, Berlin, 2023, Laufzeit: 72 Minuten, 12,95 Euro, ISBN 978-3732407446, Hörprobe

Seitengang dankt dem Kjona-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Die Außenseiterbande

„Zwiebel, leuchtende Phiole, Blütenblatt um Blütenblatt formte deine Schönheit sich“, heißt es am Anfang von Pablo Nerudas „Ode an die Zwiebel“. Und später: „Zwiebel, hell wie ein Planet und zu leuchten bestimmt.“ Kaśka Brylas zweiter Roman „Die Eistaucher“ ist wie eine solche Zwiebel, die strahlt und voller Schönheit ist. Und nicht umsonst beginnt diese Rezension mit etwas Poesie. Denn bei all dem Leid, von dem das Buch „Die Eistaucher“ auch erzählt, ist es die Macht der Poesie, die dort viel Gutes hervorbringt, wo die handelnden Personen glauben, im Schatten zu wandeln. Die Werke von Ingeborg Bachmann, Arthur Rimbaud und ganz besonders Guy de Maupassants Erzählung „Horla“ spielen wichtige Rollen.

„Die Eistaucher“ ist wie der Vorgänger ein Roman, der mit den Grenzen der Literatur spielt und sich nicht einordnen lässt. Ist er Coming-of-Age? Ist es queere Literatur? Ein Krimi? Ein Thriller? Ein Sittenbild gar? Es ist das alles und wird dem Buch doch nicht gerecht. Das war schon bei „Roter Affe“ so, Brylas fulminantem Debüt aus dem Jahr 2020.

„Die Eistaucher“, das ist eine Jugendclique, wie sie vermutlich Stephen King mit seinem unerschütterlichen Herz für Heranwachsende nicht besser hätte konzipieren können: Da ist zum einen die Longboard fahrende Iga, die zum dritten Mal die Schule wechseln und sich jetzt in einer neuen Umgebung einleben muss. Sie ist intelligent und schafft den Schulstoff spielend, ist aber ein Wildfang, der sich nichts sagen lässt, schon gar nicht von verknöcherten Lehrern. Doch über ihr hängt das Damoklesschwert, dass sie zu ihrem Vater nach Polen ziehen muss, sollte sie sich einen weiteren Schulverweis einhandeln.

Ein zärtlicher Verehrer von Poesie

Neu an der katholischen Privatschule ist auch der ebenfalls migrantische Rasputin, der sich lieber Ras nennt, und schnell von den Halbstarken der Schule zum Mobbingopfer auserkoren wird, weil er ein bisschen pummelig ist und ein zärtlicher Verehrer von Poesie. Zu Iga und Ras gesellt sich schließlich noch die hübsche und queere Halbwaise Jess, die zum Schulanfang mit den Gedanken noch in Südfrankreich und bei ihrer Sommerliebe Tifenn weilt. Die aber macht wenig später – immerhin romantisch mit einem Brief – wieder Schluss.

Dieser Brief ist die Geburtsstunde der „Eistaucher“. Denn während die drei zuvor nur in einfacher Koexistenz zueinander standen, verändert Tifenns Brief die Lage. Jess ist am Boden zerstört, sucht Trost bei Iga und hofft, dass die ihr die Rätsel des Geschriebenen entwirren kann. Tatsächlich aber ist es Ras, der jetzt mit seinem Wissen glänzen kann.

Und dann geht es erst richtig los, die Ereignisse überschlagen sich, Iga verliebt sich zum ersten Mal in eine Frau, und Ras, ja, Ras ist plötzlich Teil einer literarischen Avantgarde und beginnt, bestärkt durch die Freundschaft, selbst Gedichte zu verfassen. Es könnte so schön sein, wenn das Leben immerzu so wundervoll bliebe. Doch eines Nachts wird die Clique Zeuge einer Tat, die vertuscht werden sollte, und nimmt die Rache selbst in die Hand.

Einer für alle, alle für einen

Bryla beschreibt mit ihrer bemerkenswert sensiblen Erzählstimme, ihrer eigenen poetischen Sprache und anhaltender Spannung eine jugendliche Bande. Nicht im kriminellen, sondern im freundschaftlichen Sinn. So hätte man es früher genannt, und das Wort selbst drückt aus, was es ist: Einander zugewandt und miteinander verbunden zu sein, ein unsichtbares Band zu haben, das durch alle Hände führt. Einer für alle, alle für einen. Das Gefühl, einander vertrauen zu können. Aber auch: die Welt mit unerschütterlichen Idealismus zu sehen.

„Die Eistaucher“ beginnen mit Kapitel 9; und es ist gut, dass dem ein Inhaltsverzeichnis vorangestellt ist, das die kunstvolle Verwebung der Kapitel unter- und gegeneinander verdeutlicht. Denn nach 9 kommt 1, dann 8 und 2. Was zunächst nach nicht gekonntem Zahlenraum bis 10 aussieht, ist einmal mehr die Art, wie Kaśka Bryla Literatur zu schreiben versteht: experimentell, abseits von gängigen Regeln, jedoch ohne sperrig zu sein, aber mit der Lust, es mal anders zu machen. Und so handeln zehn der 19 Kapitel von der Jetztzeit, und 9 Kapitel spielen als Coming-of-Age-Story in der Jugend der „Eistaucher“, kurz vor der Jahrtausendwende. Während im einen Teil die Geschichte fast kontinuierlich voranschreitet, erfahren wir im zweiten Teil nur häppchenweise, was am Fixpunkt der beiden Erzählstränge in der Vergangenheit passiert sein könnte. Raffiniert!

Die Jetztzeit erleben wir durch die Augen und die teilweise sehr unangenehme strunzmännliche Innensicht von Saša, der einst Igas bester Freund war. Er hat einen Campingplatz in einem Naturschutzgebiet, von Wäldern und kleinen Bergen umgeben, manch einer würde sagen: in der Einöde. Iga und Jess wohnen in einem Dorf in der Nähe, und einmal im Jahr kommt Ras zu Besuch. Die Poesie von damals aber ist gewichen.

„Immer ist da jemand, dem Unrecht angetan wird, und immer ist da jemand, der zusieht, ohne einzuschreiten. Als Kind stellt man sich die Frage, wer man lieber wäre. Das Opfer oder der Feigling. Als Kind habe ich mich nie gefragt, wie es wäre, der Täter zu sein.“ Als Saša und die Eistaucher zu Tätern werden, ist ihre Kindheit schlagartig vorbei. Wie steht es um ihre Schuld? Was heißt es, die individuelle Verantwortung zu tragen? Was ist Gerechtigkeit, Strafe, Sühne? Auch Brylas zweiter Roman beschäftigt sich mit den großen, schweren Themen. Und wieder gelingt es ihr, sie fast leichtfüßig in das Sujet einzubetten.

Die Verbindungen, für die wir uns entscheiden

Was die Eistaucher ausmacht, damals und heute, das finden wir in Kapitel 7. Fast beiläufig steht da dieser Absatz: „Die Verbindungen, für die wir uns entscheiden, und die Risiken, die wir für sie einzugehen bereit sind. Das oder etwas Ähnliches hatte Iga einmal gesagt, und Jess hatte es damals lächerlich gefunden, aber jetzt begriff sie, dass sie recht hatte, dass eben nur das wirklich zählte.“

Und dass alles glückt, dass alles Bestand hat und nicht etwa den Bach runter geht, sich nichts vermeintlich Gutes in etwas Schlechtes verkehrt, das ist so zufällig, wie es gelingt, beim Würfeln eine Sechs zu würfeln: „‚Hast du gewusst‘, sagte Iga ruhig, „dass die Wahrscheinlichkeit, eine Sechs zu würfeln, immer ein Sechstel ist? (…) Jedes Mal, wenn du mit dem Würfel zum Wurf ansetzt, ist die Wahrscheinlichkeit wieder ein Sechstel. (…) Aber trotzdem‘, fuhr Iga fort, ‚musst du würfeln. Wenn du nicht würfelst, kannst du auch keine Sechs würfeln.'“ Die Eistaucher haben ohne Furcht versucht, eine Sechs zu würfeln, aber die Wahrscheinlichkeit spielte gegen sie.

Kaśka Bryla: Die Eistaucher, Residenz-Verlag, Salzburg/Wien, 2022, 320 Seiten, gebunden, 24 Euro, ISBN 978-3701717514, Leseprobe

Seitengang dankt dem Residenz-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Die Wand am Strand

SandburgWie reagieren Menschen in Extremsituationen, wenn sie den Ort des Geschehens nicht verlassen können, obwohl sie nichts lieber tun würden, als vor dem Grauen zu flüchten? Diesem Thema widmet sich die Graphic Novel „Sandburg“ des Genfer Comic-Zeichners Frederik Peeters, der damit ein kleines Meisterwerk geschaffen hat, das den Leser und Betrachter wahrlich in seinen Bann zieht. Unbedingt anschauen!

Es beginnt herrlich idyllisch: Über einer Bucht am Meer bricht ein Sommertag an. Zwei Familien genießen die Einsamkeit der Badestelle. Oma geht mit dem Kleinen schwimmen, die anderen beiden Kinder buddeln Sandburgen, die Eltern liegen in der Sonne, und Hund Elvis tollt am Wasser herum. Doch plötzlich ist es vorbei mit der Sommerfrische, denn Oma und der Kleine entdecken im Wasser die Leiche einer jungen Frau. Die Vermutungen zur Todesursache überschlagen sich, als ausgerechnet ein einsamer Mann dazu tritt. Ein Algerier, wie sich herausstellt.

Damit nimmt das Unheil seinen Lauf. Denn aus Richtung des einen Familienvaters schlägt dem Mann sofort eine unverhohlene Fremdenfeindlichkeit entgegen. Für ihn ist schnell klar, wer für den Tod der Frau verantwortlich ist: „Dieser Mann hat die junge Frau vergewaltigt, zusammengeschlagen und ertränkt, damit sie schweigt… dann sind wir aufgetaucht und haben ihm die Flucht vermasselt!“ Doch es gibt auch Zweifler und Verteidiger. Und letztendlich, so viel darf man verraten, ist das nur der Anfang eines großen Mysteriums, das sich erschreckend ausweitet. Denn mit einem Mal scheinen die Uhren an dieser Bucht anders zu laufen. Und das hat dramatische Auswirkungen für die Strandbesucher.

Faszinierendes Kammerspiel

Das Szenario zu dieser raffinierten Graphic Novel stammt von dem französischen Filmemacher Pierre Oscar Lévy, der sich hier zum ersten Mal an einem Comicstoff versucht hat. Hoffentlich nicht zum letzten Mal gemeinsam mit Frederik Peeters, denn der international erfolgreiche Zeichner hat dem faszinierenden Kammerspiel am Strand mit seinen großartigen Schwarzweiß-Bildern den richtigen Rahmen gegeben. Das Sujet ist zwar nicht neu – schon viele andere Autoren haben sich auch in ähnlich dystopischen Umgebungen damit beschäftigt, wie sich wenige Menschen in extremen Situationen verhalten, aus denen sie nicht entkommen.

Zu nennen wären da Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ (wunderbar verfilmt von Julian Pölsler), Stephen Kings „Die Arena“ oder auch Heinz Helles „Eigentlich müssten wir tanzen“. Aber obwohl das Thema etwas abgegriffen scheint, ist „Sandburg“ so fürchterlich mitreißend. Und das liegt nicht nur an der mysteriösen Geschichte, sondern auch an den gut angelegten Charakteren der handelnden Personen, die so unterschiedlich mit dem Unbegreiflichen umzugehen versuchen.

„Sandburg“ ist die perfekte Lektüre für die kalten Tage, wenn der vergangene Sommer schon so fern scheint und die Erinnerung an die flirrende Hitze Stoff für allerlei seltsame Phantasien bietet. Diese ist eine der seltsamsten, gleichzeitig aber auch eine der eindringlichsten. Schnell vergessen wird man sie nicht.

Frederik Peeters/Pierre Oscar Lévy: Sandburg, Reprodukt Verlag, Berlin, 2013, 100 Seiten, broschiert, 18 Euro, ISBN 978-3943143799, Leseprobe

Der mörderische Leser

FinderlohnIn der Literaturgeschichte finden sich mehrere Beispiele von Schriftstellern, die nur wenige Werke geschrieben haben und dann für ewige Zeiten verstummt sind: Jerome David Salinger, Margaret Mitchell, Emily Brontë oder auch Ralph Ellison. Glücklicherweise war bisher keinem von ihnen das Schicksal beschert, das John Rothstein ereilt hat. Denn der fiktive Autor von nur drei Romanen wird in Stephen Kings neuem Thriller „Finderlohn“ von einem glühenden Fan überfallen und ermordet. King hat damit nicht nur den erzählerisch mitreißenden zweiten Band seiner Trilogie um den alternden Ex-Detective Bill Hodges geschrieben, sondern auch eine lesenswerte Abhandlung über das Spannungsverhältnis zwischen Leser und Autor verfasst.

In King-Kennern wird der Roman schnell Erinnerungen an „Misery“ (in der deutschen Übersetzung hieß der Roman schlicht „Sie“) wachrufen. Darin ließ King eine geistesgestörte Leserin ihren Lieblingsautor gefangenhalten und zum Schreiben zwingen. Ihr gefiel nämlich gar nicht, dass ihre Lieblingsfigur sterben sollte. Ähnlich verhält es sich auch in Kings aktuellem Roman: Morris Bellamy vergöttert John Rothstein, der in den Sechzigerjahren eine berühmte Trilogie geschrieben hat. Im letzten Band geht der Held dieser drei Bücher, Jimmy Gold, in die Werbebranche – für Bellamy ein unfassbares Ende. Seine Identifikationsfigur endet im bürgerlichen Leben. Das hätte nicht geschrieben werden dürfen. Rothstein muss sterben, findet Bellamy. „‚Sie haben eine der größten Gestalten der amerikanischen Literatur erschaffen und dann einfach darauf geschissen‘, sagte Morrie. ‚Ein Mensch, der so etwas tut, verdient es nicht, weiterzuleben.“

Morris Bellamy bringt den Autor, den das Time-Magazin mal „Amerikas scheues Genie“ genannt hat, um und räumt dessen Tresor aus. Darin: Bargeld und Dutzende von Notizbüchern mit zwei weiteren Romanen über Jimmy Gold – für den großen Fan ein unglaublicher Schatz. Doch das Schicksal will es, dass er die Beute zunächst in einem Koffer versteckt vergraben muss, weil er für 30 Jahre wegen einer gänzlich anderen Sache in den Knast wandert. In der Zwischenzeit findet der jugendliche Peter Saubers – ebenfalls Verehrer von John Rothstein – den Koffer. Als Bellamy kurz darauf frei kommt, beginnt die wahrlich nervenaufreibende Hatz.

Kings eigene Leidenschaft für Literatur

Doch die wirkliche Stärke dieses Romans ist die erzählerische Kraft, die er entwickelt, ein Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Viel mehr als der Vorgänger „Mr. Mercedes“ ist „Finderlohn“ auch ein Stoff für’s Kino. Das liegt schon daran, dass King seinen beiden Hauptcharakteren genügend Raum gibt, sich zu entwickeln. Und das ist wirklich fabelhaft erzählt. Privatermittler Bill Hodges tritt erst sehr viel später auf den Plan. Bis dahin macht King keinen Hehl aus seiner eigenen Leidenschaft für Literatur: Immer wieder entwickeln sich Literaturgespräche zwischen handelnden Personen, Lesebekenntnisse werden ausgestoßen, die Welt der Bücher gelobpreist.

Das Verhältnis zwischen Leser und Autor ist ein immer wiederkehrendes Motiv in Kings Werk. Das beste Beispiel ist der bereits eingangs erwähnte Roman „Misery“. Aber auch in seinem Interview mit dem Musikmagazin Rolling Stone (Ausgabe 245 / März 2015) erklärt King, dass er selbst den Ehrgeiz habe, Leuten zu gefallen. „Aber irgendwann kommt auch der Punkt, wo man sich sagt: Ich werde mich nicht prostituieren und genau das schreiben, was man von mir erwartet.“ Insbesondere als er „Mr. Mercedes“ geschrieben habe, was schließlich nichts anderes als ein klassischer Krimi gewesen sei, habe er sich gefragt: „Willst du das machen, wozu dir dein Herz rät – oder das, was Leute von dir erwarten? (…) Schreib besser, was du selbst schreiben willst.“ Zuletzt hat er sein Verständnis von Autor und Leser in einem lesenswerten Aufsatz für die New York Times noch einmal spezifiziert.

„Finderlohn“ ist der erzählerisch besser gelungene, zweite Teil der Hodges-Trilogie, eine Hymne auf Büchernarren dieser Welt und die Mächte der Literatur. Nicht ganz so dramatisch spannend wie „Mr. Mercedes“, aber wie so oft im King-Universum mit dem ersten Teil verknüpft. Bedauerlicherweise lähmt der Auftritt des skurrilen Ermittlertrios die Klasse der Erzählung etwas – dabei sind Hodges und seine zwei Helfer eigentümlich genug, um einen Roman lesenswert zu machen. In „Mr. Mercedes“ haben sie das bewiesen, in „Finderlohn“ leider nicht. Aber das Duell zwischen dem mörderischen Leser Morris Bellamy und dem jungen Fan Peter Saubers entschädigt für alle Schwächen dieses Romans. Im Jahr 2016 soll der abschließende Teil der Trilogie erscheinen. Einen englischen Titel gibt es schon: „Suicide Prince“.

Stephen King: Finderlohn, Heyne Verlag, München, 2015, 544 Seiten, gebunden, 22,99 Euro, ISBN 978-3453270091, Leseprobe

Die Zitate aus dem Rolling Stone-Interview entstammen der deutschen Übersetzung aus der deutschen Magazin-Ausgabe (März 2015). Das Interview führte der US-Autor Andy Greene für die amerikanische Ausgabe des Rolling Stone im Jahr 2014. Veröffentlicht wurde es am 31. Oktober 2014. Zum Zeitpunkt der Rezension ist das Interview im Internet nur auf Englisch vollständig abrufbar.

Finnlands letzter Schund

Lauras letzte PartyEine Gruppe von finnischen Autoren und Drehbuchschreibern hat sich an einer Krimi-Trilogie versucht. Band 1 ist jetzt auf Deutsch im Suhrkamp-Verlag erschienen. Der Fall über das Verschwinden einer Schülerin und die Facebook-Ermittlungen einer Ex-Polizei-Internetspezialistin und jetzigen Sonderpädagogin ist ihnen jedoch nicht geglückt. Sie hätten das Schreiben wohl besser einem versierten Krimi-Autoren überlassen sollen.

Miia Pohjavirta ist internetsüchtig und musste deshalb ihren Job als Coach bei der Polizei in Helsinki aufgeben, wo sie einst die Einheit für Ermittlungen in sozialen Netzwerken begründete und dann schnell als Internet-Spionin bekannt geworden ist. Das soll nun alles der Vergangenheit angehören, denn sie hat ein völlig neues Betätigungsfeld gefunden: In ihrer Heimatstadt Palokaski arbeitet sie jetzt an ihrer alten Schule als Sonderpädagogin. Ein Teil ihrer früheren Clique wohnt noch immer in dem ruhigen, finnischen Nest, und ihr kleiner Bruder Nikke arbeitet an ihrer Schule als Psychologe.

Ausgerechnet am letzten Ferientag, als sich Miia gerade dem versammelten Lehrerkollegium vorstellen möchte, wird bekannt, dass die 16-jährige Schülerin Laura Anderson verschwunden ist. Wie jedes Jahr hatten die Schüler die Ferien mit einer Party am Badestrand beendet. Seitdem wurde Laura nicht mehr gesehen.

Keine normale Beziehung zu der 16-Jährigen

Miia verfällt schnell wieder in alte Muster: Sie bietet ihrem ehemaligen Chef ihre Hilfe bei den Ermittlungen an, sie recherchiert bei Facebook mögliche Hintergründe für das Verschwinden und wird schnell darauf gestoßen, dass ihr Bruder Nikke offensichtlich keine ganz so normale Beziehung zu der 16-Jährigen gehabt haben soll, wie man es gemeinhin von einem Schulpsychologen erwartet.

An sich ist der Plot eine Kriminalgeschichte, wie es sie zigfach schon in anderen Büchern erzählt worden ist. Die finnische Uusimaa Newspaper findet jedoch, das Buch sei „ein dunkler, psychologischer Thriller, ein fesselndes Beziehungsdrama in Zeiten des Internets“. Dass nun ausgerechnet eine Internetspezialistin mit Fachgebiet „Soziale Medien“ ermittelt, ist für diejenigen, die das Internet noch für Neuland halten, vielleicht spektakulär. Digital Natives können darüber nur müde lächeln. Und leider nimmt gerade die Internetrecherche dann auch noch zu wenig Raum ein. Es genügt einfach nicht, eine Ermittlern ein wenig durch Facebook zu schicken, um dem Leser deutlich zu machen, dass hier eine Spezialistin am Werk ist.

Wer wirklich einen guten Thriller lesen möchte, in dem eine Internetspezialeinheit der Polizei agiert, sollte beherzt zu der neuen Reihe von Karl Olsberg rund um die “Sonderermittlungsgruppe Internet” des LKA Berlin greifen. Der zweite Band ist im Frühjahr erschienen, weitere werden wohl folgen. Von der Palokaski-Trilogie jedoch kann man nur abraten.

Ein finnischer Anwalt sagt „Servus“

Möglicherweise liegt es an der Übersetzung, dass der Roman auch sprachlich nicht ansprechend ist. Dass die Schuldirektorin nicht in der Lage sein soll, die Grammatik zu beherrschen, ist wohl kaum vorstellbar. Dennoch gebraucht sie „brauchen“ ohne „zu“, und der Rezensent wird nicht müde werden, solche grammatikalischen Fehler zu erwähnen. Und dass ein finnischer Anwalt zur Verabschiedung tatsächlich „Servus“ sagten sollte, ist zwar ein nettes Beispiel von einem zusammenwachsenden Europa, aber dennoch eher ungewöhnlich.

Letztlich kann ein Leser von einer Sonderermittlerin der Polizei wohl mehr Feingefühl, Klasse und Lebenserfahrung erwarten, als Gedankengänge wie diese hier: „Als Verdächtiger kam der sonderbare Kauz auch weiterhin in Frage. Wer so unverfroren über die Brüste fremder Frauen redete, konnte sich locker an seinen Schülerinnen vergreifen.“ Das ist eigentlich nur eins: Billige Schund-Kriminalliteratur, die den Stempel „Literatur“ nicht verdient hat. Es erstaunt, dass es der renommierte Suhrkamp-Verlag ist, der sich die „Palokaski“-Trilogie an Land gezogen hat. Wer so großartige Krimi-Autoren wie Don Winslow, Reginald Hill und André Georgi im Programm hat, kann doch solche Bücher nun wirklich Publikumsverlagen wie Bastei Lübbe überlassen.

„Lauras letzte Party“ enttäuscht auf der ganzen Linie. Teil zwei und drei erscheinen im September und November. Wer den ersten Teil gelesen hat, muss im Grunde auch zum zweiten und dritten greifen, denn eine Lösung ist im ersten Buch nicht annähernd in Sicht. Wer aber gute Kriminalliteratur schätzt, findet sicher Besseres als die „Palokaski“-Trilogie.

J. K. Johansson: Lauras letzte Party, Suhrkamp Verlg, Berlin, 2015, 267 Seiten, Taschenbuch, 8,99 Euro, ISBN 978-3518465905, Buchtrailer, Leseprobe

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