Buch Wien: Besatzungskinder, Macht und Widerstand auf Bulgarisch und eine Revolution im Automobilclub

Die diesjährige Berichterstattung über die Buch Wien habe ich in der Nacht von Freitag auf Samstag unterbrochen. Grund war zum einen, dass ich die Nacht nicht wie zuvor zum Schreiben, sondern vor allem zum Verfolgen der Nachrichten aus Paris genutzt habe. Zum anderen aber waren die von mir besuchten Veranstaltungen am Freitag – bis auf eine – nicht wirklich berichtenswert. Vermutlich habe ich schlichtweg die falsche Auswahl getroffen. Ich berichte nun also noch nach vom Freitag und Samstag. Am Sonntag habe ich bereits die Rückreise angetreten – mit einigen Büchern mehr im Gepäck.

Barbara Stelzl-Marx und Ö1-Moderator Wolfgang Popp. © Christian Lund
Barbara Stelzl-Marx und Ö1-Moderator Wolfgang Popp. © Christian Lund
Am Freitag stellte die österreichische Historikerin Barbara Stelzl-Marx ihr Buch „Besatzungskinder“ vor, das sich mit einem oft verdrängten Kapitel der Nachkriegsgeschichte beschäftigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Tausende von sogenannten Besatzungskindern zur Welt gekommen. Häufig waren sie und ihre Mütter Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt, und man nannte sie „Kinder des Feindes“, obwohl ihre Väter schon längst keine Feinde mehr waren. Seit mehr als 15 Jahren gehört die Kriegsfolgenforschung zu den Schwerpunkten der Autorin, mit denen sie sich intensiv auseinandersetzt. Das neue Buch nun sei das Ergebnis einer wissenschaftlichen Konferenz im Jahr 2012, auf der sich einige Besatzungskinder zum ersten Mal kennengelernt haben, sagte Stelzl-Marx. Auch zur Buch Wien waren rund zehn Besatzungskinder gekommen.

Offizielle Schätzungen gehen davon aus, dass es in Österreich rund 8.000 solcher Besatzungskinder gegeben hat. „Ich gehe davon aus, dass die Dunkelziffer wesentlich höher ist – meine Schätzungen belaufen sich auf rund 30.000 Kinder, wovon etwa die Hälfte russische Väter haben dürften“, erklärte Stelzl-Marx. Viele Kinder seien durch Vergewaltigungen entstanden, aber es gebe auch „unglaublich berührende Liebesbeziehungen“, obwohl Stalin Liebesbeziehungen oder gar eine Heirat zwischen Österreicherinnen und Rotarmisten verbot.

Als Beispiel nennt sie die Geschichte der Wienerin Tatjana Herbst, die im Oktober 1947 zur Welt kam. Ihr Vater, ein sowjetischer Soldat, und ihre Mutter führten eine innige Liebesbeziehung – bis der Rotarmist plötzlich versetzt wurde. Die Mutter schrieb einen Brief, den ein Freund des Geliebten am nächsten Tag abholen und mitnehmen wollte. Doch auch dieser Freund kam nicht mehr zurück. Und so wanderte dieser Brief ins Familienarchiv und findet sich inzwischen als rührendes Beispiel in Stelzl-Marxs Buch wieder. Ihren Vater hat Tatjana erst mehr als 40 Jahre später zum ersten Mal getroffen.

In den westlichen Besatzungszonen waren Eheschließungen dagegen erlaubt. Das berühmteste Beispiel ist wohl Marianne Faithful, deren Mutter in Wien einen britischen Besatzungsoffizier kennenlernte und mit ihm als sogenannte „war bride“ nach Großbritannien ging. Anfangs sei in Faithfuls Biografie nicht bekannt gewesen, dass sie die Tochter von Eva Hermine von Sacher-Masoch und einem Besatzer ist, erklärte Stelzl-Marx. Faithful selbst sagt (hier in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit, Zeit-Magazin Nr. 37/2014, 15. September 2014): „Ich will meine österreichische Herkunft auch gar nicht verleugnen, im Gegenteil, ich bin sehr stolz auf sie!“

Das Buch „Besatzungskinder“, das die stellvertretende Leiterin des Grazer Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung mit Silke Satjukow, einer Historikerin von der Universität Magdeburg, geschrieben hat, versammelt aber nicht nur die persönlichen Berichte der Besatzungskinder, sondern umfasst auch wissenschaftliche Erkenntnisse. Eine Leseprobe des im Böhlau-Verlag erschienenen Buchs gibt es hier.

Barbara Stelzl-Marx/Silke Satjukow: Besatzungskinder: Die Nachkommen alliierter Soldaten in Österreich und Deutschland, Böhlau Verlag, Wien, 2015, 500 Seiten, gebunden, 35 Euro, ISBN 978-3205796572

Ilija Trojanow im Gespräch mit Kristina Pfoser. © Christian Lund
Ilija Trojanow im Gespräch mit Kristina Pfoser. © Christian Lund
Am Samstagmittag habe ich aufgrund nachzuholenden Schlafs leider die Lesung des ungarischen Dokumentarfilmers Péter Gárdos verpasst, der auf der Buch Wien seinen Roman „Fieber am Morgen“ (Hoffmann & Campe) vorgestellt hat. Dafür war ich aber rechtzeitig auf der Messe, um zwei weitere großartige Schriftsteller zu erleben: Ilija Trojanow sowie Alaa al-Aswani. Ersterer stellte seinen neuen Roman „Macht und Widerstand“ (S. Fischer Verlag) vor, sein „Lebensbuch“, wie er es selbst feierlich nennt. Es war für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert und beim Debüt des „Literarischen Quartetts“ umstritten.

Im Wechsel kommen der Widerstandskämpfer Konstantin und der Offizier Metodi zu Wort, zwei Menschen, die exemplarisch stehen für das titelgebende Verhältnis von Macht und Widerstand im ideologischen Überlebenskampf des bulgarischen Sozialismus. „Beide bedingen sich gegenseitig, können ohne einander nicht sein“, findet Trojanow. Es seien zwei extreme Positionen, der Raum dazwischen, die Duckmäuser und Mitläufer, hätten ihn nie interessiert, sagt er. „Mich interessieren viel mehr diejenigen, die wir mit geschichtlichem Abstand als Helden bezeichnen würden, die heute unseren bequemen Alltag infrage stellen.“ Konstantin fällt schon in der Schulzeit der bulgarischen Staatssicherheit auf und entkommt ihrem Griff nicht mehr. Metodi ist Opportunist und Karrierist, ein Repräsentant des Apparats. Sie sind in einen Kampf um Leben und Gedächtnis verstrickt, der über ein halbes Jahrhundert andauert.

Sowohl Konstantin als auch Metodi haben einen unterschiedlichen Sprachduktus. Die beiden von Trojanow in Wien vorgelesenen Passagen haben das sehr deutlich gemacht. Es gibt jedoch auch eine fantastische Hörbuchfassung mit Ulrich Pleitgen als Konstantin und Thomas Thieme als Metodi (einen Auszug daraus gibt es hier). Trojanow dazu: „Thomas Thieme spricht den Metodi ganz wunderbar – der spielt ohnehin eher unangenehme Kerle, zuletzt Helmut Kohl.“

Trojanow wurde 1965 in Sofia geboren. Sein Onkel war im Widerstand aktiv, die Familie schnell im Auge der bulgarischen Staatssicherheit. Die Wohnung war verwanzt, und heute besitzt Trojanow Kopien der damals belauschten Gespräche, erzählt er in Wien. „Das ist toll, dass ich jetzt in den Protokollen der Stasi nachlesen kann, was gesprochen wurde, während ich in die Windeln gemacht habe.“ Dabei sei ihm auch aufgefallen, dass die Stasi nicht besonders gebildet gewesen sei. So habe sein lateinisch versierter Onkel zum Beispiel einmal „pro domo“ gesagt, und die Stasi habe auf dem Protokoll daneben notiert: „Überprüfen! Wer ist dieser Prodomo?“ Auch für seinen Roman „Macht und Widerstand“ hat Trojanow Stasi-Akten verwendet. „Diese Dinge kann man einfach nicht erfinden.“ Eine Leseprobe von „Macht und Widerstand“ gibt es hier, lesenswert ist auch das Interview zwischen Jenny Erpenbeck, Ulrich Peltzer und Ilija Trojanow in der Wochenzeitung Die Zeit (Nr. 41/2015, 8. Oktober 2015).

Ilija Trojanow: Macht und Widerstand, S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2015, 480 Seiten, gebunden, 24,99 Euro, ISBN 978-3100024633

Alaa al-Aswani (r.) erzählt von seinem neuen Roman, neben ihm sein Übersetzer Hartmut Fähndrich. © Christian Lund
Alaa al-Aswani (r.) erzählt von seinem neuen Roman, neben ihm sein Übersetzer Hartmut Fähndrich. © Christian Lund
Auch der ägyptische Autor Alaa al-Aswani gehörte sicherlich zu den interessantesten literarischen Gästen der diesjährigen Buch Wien. Sein Roman „Der Jakubijân-Bau“ ist einer der meistgelesenen ägyptischen Romane, in der österreichischen Bundeshauptstadt präsentierte er nun sein neuestes Werk „Der Automobilclub von Kairo“. Ende der 40er Jahre herrschen im Automobilclub von Kairo Extravaganz und Dekadenz. Paschas und Monarchen gehen ein und aus, auch Ägyptens König zählt zu den Stammgästen. Bis die Dienerschaft des Clubs den Aufstand probt.

Wie bei Trojanow und vielen anderen Autoren war die Zeit zum Gespräch auch hier äußerst knapp bemessen. Drei Polizisten wachten über den Romancier, der eigentlich Zahnarzt ist. Der erzählte derweil, er habe das Gefühl, ein Roman sei wie eine lebendige Kreatur, die man füttern müsse. Nach und nach sei es aber eher ein Wald, der sich für die Leser, aber auch für den Schreiber öffne. „Ich als Autor habe nicht das Recht, das zu analysieren, was der Roman mit mir macht“, erklärte er. Immerhin: Das, was sich da verselbständigt, scheint seine Sache gut zu machen, denn seine Bücher werden mittlerweile in 35 Sprachen übersetzt, wie al-Aswani bescheiden zugibt.

Alaa al-Aswani ist dafür bekannt, dass er sich mit seinen Texten für ein freies und demokratisches Ägypten einsetzt. 2011 nahm er an der Revolution gegen Hosni Mubarak auf dem Tahrir-Platz teil. Sein Übersetzer Hartmut Fähndrich, der das Gespräch auf der Buch Wien moderierte, erklärte, Kritiker sähen in dem aktuellen historischen Roman auch Fragen der Zeit beantwortet. „Das freut mich“, antwortete der Autor verschmitzt. Und wie beim Arabischen Frühling ginge es in seinem Roman ja auch um eine Revolution. „Ich musste mir also nichts ausdenken, sondern einfach aus meiner eigenen Erfahrung schreiben.“ Andererseits könne man nicht jede Person ohne eine literarische Änderung in einem Roman verwenden. Es sei also trotz seiner eigenen Erlebnisse noch viel Fiktives darunter.

„Eine Revolution hat eine interessante Dynamik“, erklärte al-Aswani weiter. „Da gibt es auf der einen Seite die Menschen, die schon von Beginn an bereit sind, für die Freiheit anderer zu sterben, auf der anderen Seite sind die Regimebefürworter, aber dazwischen – da sitzen die Leute, die zwar leiden, aber nichts dafür geben wollen, um ihre Freiheit zu erlangen, die große Masse, die große passive Masse.“ Ilija Trojanow hatte diese Masse im als „Duckmäuser und Mitläufer“ bezeichnet. Auch Alaa al-Aswani hat dafür einen Begriff: Die Sofa-Partei. „Weil sie sagen: Nein, wir brauchen keine Revolution – unser Diktator macht zwar Fehler, aber er beschützt uns. Wir bleiben lieber, wo wir sind.“

Alaa al-Aswanis erste Romane konnten nur in einem kleinen privaten Verlag erscheinen. Derzeit sei die Publikationsfreiheit aber noch schlechter als unter Mubarak, sagte er. Trotzdem sehe er das lässig: „Der Diktator liest niemals Bücher und erst recht niemals Romane, das ist also kein Problem.“ Ich aber werde diesen Roman lesen, er steht jetzt mit einer tollen Widmung von al-Aswani in meinem Regal ungelesener Bücher. Eine Rezension dieses Romans folgt also beizeiten, die Leseprobe vom Verlag (S. Fischer Verlag) gibt es derweil hier.

Alaa al-Aswani: Der Automobilclub von Kairo, S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2015, 656 Seiten, gebunden, 24,99 Euro, ISBN 978-3100005557

Die Buch Wien 2015 war damit für mich beendet. In den nächsten Tagen werde ich – wie vor zwei Jahren auch – ein persönliches Fazit veröffentlichen. Und wenn alles klappt, berichte ich auch im Jahr 2016 wieder von der Buch Wien. Bleibt mir gewogen!

Seitengang berichtet von der Buchmesse in Wien

BW15LogoSeitengang fährt in diesem Jahr endlich wieder zur Internationalen Buchmesse nach Wien. Vom 9. bis 15. November berichtet dieser Blog direkt aus Wien über Lesungen, Autoren und Verlage sowie über die begleitende Lesefestwoche. Seit Donnerstag ist das Programm bekannt – und das kündigt mehr als 450 Lesungen, Diskussionen und Performances an.

Ein Schwerpunkt der diesjährigen Messe wird der Verständigung zwischen den Kulturen gewidmet sein. Das erklärte Benedikt Föger, Präsident des Hauptverbandes des Österreichischen Buchhandels, bei der Programmpräsentation. „Bücher spielen eine tragende Rolle, um die brisanten Themen der Zeitgeschichte sachlich fundiert diskutieren zu können“, sagte er. „Es ist uns in so bewegten Zeiten ein
großes Anliegen, beim größten Buchfestival Österreichs darauf hinzuweisen, wie wichtig Bücher und Bildung für Integration sind. Ich wünsche mir, dass sich heuer noch mehr Menschen als bisher von dieser Wirkung, die neue wie alte Bücher haben, faszinieren und gewinnen lassen.“

Programmdirektor Günter Kaindlstorfer sieht einen weiteren Schwerpunkt der „Buch Wien 15“ im Bereich des politischen Sachbuchs: „Von Colin Crouch und Tomáš Sedláček bis hin zu Orlando Figes, Ahmad Mansour und Jörg Baberowski – wir holen eine Reihe internationaler Stars nach Wien, um über die brennenden Fragen der Zeit zu diskutieren.“ Der tschechische Ökonom Tomáš Sedláček wird auch die Ehre haben, am 9. November die Lesefestwoche zu eröffnen. Im Gespräch mit Renata Schmidtkunz (ORF) wird er Einblicke in sein neues, mit dem Wirtschaftsjournalisten Oliver Tanzer verfasstes Werk „Lillith und die Dämonen des Kapitals“ geben.

Adolf Muschg über die Zukunft des Lesens

Die offizielle Eröffnungsrede der Buchmesse aber wird der Schweizer Adolf Muschg halten. In seinem Vortrag soll es vor allem um die Zukunft des Lesens gehen. Schon 2013 hatte Sibylle Lewitscharoff in ihrer Eröffnungsrede über die Zukunft des Lesens gesprochen und die Gelegenheit genutzt, das Online-Versandhaus Amazon abzuwatschen. Adolf Muschg aber kommt auch deshalb nach Wien, um seinen neuen Roman „Die japanische Tasche“ vorzustellen.

Zur Buchmesse gibt es mittlerweile am Mittwochabend ein wahres Bücherfest – die sogenannte „Lange Nacht der Bücher“. Diesmal werden die schottische Krimi-Autorin Val McDermid, die Musikerin Judith Holofernes („Wir sind Helden“), der Mathematiker Rudolf Taschner, der Schriftsteller Karl-Markus Gauß und der Kabarettkünstler Dirk Stermann ihre Neuerscheinungen vorstellen. Gleichzeitig treffen sich bei der Poetry-Slam-Nacht sechs Poetry-SlammerInnen aus dem deutschen Sprachraum zum wortgewandten Wettstreit um die Gunst des Publikums. Vorgetragen werden die Texte auf Deutsch, eine Runde aber wird in der jeweiligen Mundart bestritten. Allein das Publikum entscheidet über Gefallen oder Nicht-Gefallen. Antreten werden: Daniel Batliner (Liechtenstein), Raoul Biltgen (Luxemburg), Milana Dürnholz (Belgien), Lisa Eckhart (Österreich), Fee (Deutschland) und Kilian Ziegler (Schweiz). Moderiert wird die Nacht von den österreichischen Poetry-Slam-Ikonen Mieze Medusa und Markus Köhle.

Wie immer holt die Buchmesse in Wien internationale Autoren in die Stadt: Aus Ägypten wird Alaa al-Aswani zu Gast sein. Sein Roman „Der Automobilclub von Kairo“ erzählt von Dekadenz und Extravaganz in einem Automobilclub in den 40er Jahren, bis die Dienerschaft den Aufstand probt. Der französische Schriftsteller Jean-Philippe Blondel kommt auf Einladung des Institut Français Wien mit seinem neuen Roman „Zweiundzwanzig“. Lizzie Doron diskutiert über „Who the Fuck is Kafka?“, in dem eine palästinensisch-israelische Freundschaft im Zentrum steht. Jung Young Moon, einer der meistbeachteten Autoren Südkoreas, stellt seinen Roman „Vaseline Buddha“ vor.

Rafik Schami und Ilija Trojanow

Dicht ist das Feld auch mit bekannten Namen aus dem deutschsprachigen Raum: Feridun Zaimoglu präsentiert seinen für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominierten Roman „Siebentürmeviertel“. Rafik Schami macht mit seiner Lesetour zu „Sophia oder das Ende der Geschichte“ Halt in Wien, Ilija Trojanow spricht über seinen Roman „Macht und Widerstand“. Der ehemalige Hanser-Verleger und Autor Michael Krüger liest aus seinem Erzählband „Der Gott hinter dem Fenster“.

Und auch die österreichische Literaturszene ist mit interesanten Autorinnen und Autoren vertreten: Martin Amanshauser, Valerie Fritsch, Olga Flor, Arno Geiger, Monika Helfer, Vea Kaiser, Thomas Sautner oder Robert Schindel sind da zu nennen.

Zu den Neuerungen in diesem Jahr gehört, dass erstmals antiquarische Bücher eine starke Präsenz haben werden. Spezielle Führungen geben Einblick in die Welt schöner und seltener Bücher. Eine Buchrestauratorin zeigt nicht nur Buchbindetechniken, sondern informiert auch darüber, wie man alte Bücher in einem guten Zustand erhält. Während der gesamten Buchmesse besteht die Gelegenheit, alte Bücher vor Ort von den Experten aus dem Antiquariatsbuchhandel schätzen zu lassen.

Lesen Sie hier die Seitengang-Berichte von der Buchmesse Wien 2013!

Leipziger Buchmesse 2014: Pankaj Mishra, Michael Tsokos und Hernando Calvo Ospina

DSC_0004-klDie Leipziger Buchmesse 2014 hat begonnen. Bis Sonntag berichtet Seitengang von den Ereignissen der Buchmesse, von Lesungen, Begegnungen, Entdeckungen und vor allem Büchern und Autoren.

Zur Eröffnung des “Café Europa” des Auswärtigen Amts und der Stadt Leipzig war am Donnerstagvormittag traditionell der Preisträger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung zu Gast. Der indische Publizist und Historiker Pankaj Mishra hatte den mit 15.000 Euro dotierten Preis am Abend zuvor für sein Buch „Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens“ bekommen. Das 2013 bei S. Fischer erschienene Werk handelt von der Suche asiatischer Intellektueller nach Antworten auf die Überwältigung durch den Westen, analysiert allerdings aus nicht-westlicher Sicht.

Eröffnung des "Café Europa": Ilija Trojanow (v. l.), Pankaj Mishra und seine Übersetzerin.
Eröffnung des „Café Europa“: Ilija Trojanow (v. l.), Pankaj Mishra und seine Übersetzerin.
„Am Beispiel dreier bahnbrechender Einflussfiguren und Wortführer stellt er die intellektuelle und politische Mobilisierung dar, die den Aufstieg Chinas und Indiens zu Weltmächten und den Erfolg des politischen Islam begründete. Es ist der nicht-europäische Blick auf den Westen, der Pankaj Mishras aufklärendes Werk
für die Selbstverständigung Europas über die eigene Rolle in der heutigen Welt
unentbehrlich macht“, erklärt die international besetzte Jury ihr Urteil.

Mishra stellte sich im „Cafe Europa“ den klugen Fragen des Schriftstellers Ilija Trojanow, der am Abend auch die Laudatio für den Preisträger gehalten hatte (hier als PDF zum Nachlesen). Trojanow rühmte Mishra als „brillanten, globalen Intellektuellen“, der sich mit asiatischer und indischer Geschichte auskenne. Und gerade dieser kosmopolitische Blick mache das Buch zu einem Lesevergnügen. „Ich wusste das alles nicht, bevor ich das las“, erklärte Trojanow. Deshalb könne er das Buch nur all jenen ans Herz legen, die noch etwas lernen wollen. Und: „Selten war lernen so billig wie heute.“

Lernen – das war schließlich auch der Grund, weshalb Mishra überhaupt dieses Buch geschrieben hat. „Ich hatte eine große Lücke in meinem eigenen Wissen, habe ich festgestellt, und ich kannte kein Buch, dass die asiatische Geschichte so beschreibt.“

Von Trojanow darauf angesprochen, erklärt Mishra, warum er drei literarische Figuren in seinem Buch agieren lässt. Vor allem habe er über Menschen schreiben wollen, die noch nicht in Geschichten gerühmt worden seien. „Es gibt Aspekte im Leben dieser drei Persönlichkeiten, die kaum bekannt sind.“ Die drei Figuren repräsentierten darüberhinaus Phasen von Austausch und intellektueller Dynamik. „Sie sollen Licht in das Geschichtsverständnis bringen.“

Pankaj Mishra: Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens, S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2013, 448 Seiten, gebunden, 26,99 Euro, ISBN 978-3100488381

Buchvorstellung: Die Rechtsmediziner Michael Tsokos (M.) und Saskia Guddat.
Buchvorstellung: Die Rechtsmediziner Michael Tsokos (M.) und Saskia Guddat.
Erheblichen Andrang gab es wenig später bei der Vorstellung des Buches „Deutschland misshandelt seine Kinder“. Das Buch – vielmehr: die Streitschrift – der beiden Rechtsmediziner Saskia Guddat und Michael Tsokos hatte bei Erscheinen Anfang Februar für Aufregung gesorgt. Nach den im Buch vorgelegten Zahlen werden jeden Tag in Deutschland mehr als 500 Kinder von Erwachsenen aus ihrem familiären Umfeld misshandelt. Und fast jeden Tag werde ein Kind durch körperliche Gewalt getötet.

Das Buch deckt Missstände im deutschen Kinderschutzsystem auf und belegt es durch schockierende Fälle aus dem Alltag der beiden Rechtsmediziner der Berliner Charité. Zusammen fordern sie ein energisches Vorgehen gegen Kindesmisshandler – und gegen all jene, die die alltägliche Misshandlung von Kindern durch Wegschauen, Verharmlosen und Tabuisieren begünstigen.

Die Reaktion auf das Buch sei von seiten der Bürger sehr gut gewesen, erklärt Tsokos. Erstaunlicherweise aber habe sich die Politik „weggeduckt“. Nur die Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig habe sich geäußert, aber nur eine „Kultur des Hinsehens“ gefordert. „Das ist doch nur eine Politikerfloskel“, sagt Tsokos ernst. Ihm ist anzumerken, dass er sich gewünscht hätte, eine größere Debatte auszulösen.

„Wir sind sauer auf das System der Tolerierer und der Täter“, erklärt Tsokos weiter. Seit 20 Jahren sei er nun in der Rechtsmedizin tätig, und immer wieder erlebe er diese Fälle, die hätten verhindert werden können. „Da habe ich zu Saskia (Guddat, Co-Autorin) gesagt: Wir müssen ein Buch schreiben, auch wenn wir Gegenwind bekommen, aber ein totes Kind auf dem Sektionstisch, das ist jedes Mal ein Albtraum.“

(Ich belasse es bei diesen kurzen Anmerkungen, denn eine ausführliche Rezension des Buches folgt schon bald auf Seitengang!)

Michael Tsokos/Saskia Guddat: Deutschland misshandelt seine Kinder, Verlag Droemer Knaur, München, 2014, 256 Seiten, gebunden, 19,99 Euro, ISBN 978-3426276167

Im Gespräch: Der kolumbianische Schriftsteller und Journalist Hernando Calvo Ospina (l.).
Im Gespräch: Der kolumbianische Schriftsteller und Journalist Hernando Calvo Ospina (l.).
Im Sachbuchforum stellte der kolumbianische Journalist und Schriftsteller Hernando Calvo Ospina seine Autobiographie „Sei still und atme tief“ vor. Darin erzählt er von seinem Verschwinden in Ecuador und seinem späteren Wiederauftauchen in Europa. Dazwischen liegen Monate, in denen er verschleppt und gefoltert wurde, mit Schlafentzug, Schlägen und Elektroschocks.

Die Geschichte seiner plötzlichen Festnahme durch den kolumbianischen und ecuadorianischen Militärgeheimdienst im Jahr 1985 ist bekannt – er hat sie später vor Amnesty International und anderen internationalen Menschenrechtsorganisationen erzählt. Dennoch ist sie hier erstmalig in einem Buch veröffentlicht.

Auf der Leipziger Literaturmesse gibt Calvo einen ersten Einblick. Der Journalist erzählt trotz der Ernsthaftigkeit des Themas mit lakonischem Humor von seinen Erfahrungen im Gefängnis. „In Lateinamerika sind die Gefängnisse etwas grausamer, aber sonst sie sind wie überall.“ Wer als politischer Gefangener in Haft kommt, werde mit Respekt behandelt. Aber wie in jedem anderen Gefängnis tummeln sich dort auch die Diebe, Betrüger und Mörder.

Belustigt hörte das Publikum Calvos Anekdote über einen wohlhabenden Niederländer, der die Zeche einer Prostituierten geprellt hatte und dafür eine Nacht im Gefängnis verbringen musste. „Als der auf die übrigen Insassen im Innenhof traf, gesellten sich rechts und links Kolumbianer zu ihm und nahmen ihn aus.“ Der Niederländer aber glaubte, sich wehren zu können und drohte an, er könne Karate. Calvo trocken: „Da haben sie ihm eine lange Machete gezeigt.“

Der arme Niederländer musste nun seine gesamte Kleidung abgeben. Schon als er den Innenhof betreten hatte, habe seine Kleidung eigentlich schon jemand anderem gehört, sagt Calvo. „Er musste aber nicht nackt zurück auf die Straße, die Kolumbianer haben ihm andere Häftlingskleidung gegeben.“ Und dann setzt er hinzu: „Er war allerdings ziemlich groß, und wir sind alle ziemlich klein.“ Als der Niederländer am nächsten Tag von dessen Frau aus dem Gefängnis abgeholt worden sei, habe sie also einen ziemlich unmöglich angezogenen Mann zurückbekommen.

Man könnte meinen, dieser Journalist der französischen Le Monde Diplomatique könne doch kaum einer Fliege etwas zu Leide tun. Aber manchmal sind es wohl doch Wörter, die gefährlich sind wie Schwertspitzen und deshalb ähnlich gefürchtet werden. Im Jahr 2009, als er für eine Reportage nach Mexiko fliegen musste, verweigerten die USA einer Maschine der Air France, in der er saß, den Weg durch den US-Luftraum.

„Ich erinnere mich noch daran, dass der Kapitän durchsagte, wir dürften nicht in den amerikanischen Luftraum einfliegen, weil an Bord jemand sei, der Amerika gefährde.“ An ihn selbst habe er dabei nicht gedacht, sagt Calvo. Erst nach der Landung habe der Kapitän ihn zur Seite genommen und ihn aufgeklärt, dass er offenbar auf der No-Fly-List der USA stehe.

Calvo hätte sicher noch mehr zu erzählen gehabt, aber seine Redezeit war leider auch begrenzt. Eine Rezension seines Buches wird beizeiten auf Seitengang folgen.

Hernando Calvo Ospina: Sei still und atme tief, Zambon Verlag, Frankfurt, 2013, 220 Seiten, broschiert, 12 Euro, ISBN 978-3889752215

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