German Scham

Endlich! Endlich ist auch in Deutschland der hervorragende Debütroman von Katharina Volckmer erschienen. „Der Termin“, von Volckmer in ihrer Zweitsprache Englisch verfasst, fand lange Zeit keinen deutschen Verlag, wurde aber in zwölf andere Sprachen übersetzt. In England erschien das Buch 2020 als „The Appointment (Or, The Story of a Cock)“, in den USA als „The Appointment (Or, The Story of a Jewish Cock)“, in Frankreich als „Jewish Cock“.

In Deutschland jetzt also als „Der Termin“ ohne Untertitel, verlegt beim neu gegründeten und mit vielversprechendem Herbst-Katalog startenden Kanon-Verlag. In diesem an Philip Roths „Portnoys Beschwerden“ erinnernden Buch (andere Rezensenten halten dem Buch gerne den Thomas-Bernhard-Spiegel vor) hält eine namentlich nicht bekannte Patientin einen 117 Seiten langen Monolog, während sie auf dem Behandlungsstuhl des jüdischen Gynäkologen Dr. Seligmann liegt.

Sie obduziert das peinliche Schweigen

Die Themenvielfalt dieses Bewusstseinsstroms ist groß, das Unbehagen beim Lesen nicht minder. Die Patientin eröffnet ihre Rede mit dem Bekenntnis, sie habe mal davon geträumt, Hitler zu sein. Ihre Ausführungen darüber, dass man niemals hätte davon ausgehen können, dass die Deutschen „mit der miserablen Landesküche ein Reich für tausend Jahre würden halten können“ wandeln sich zu in sehr drastischen Worten umschriebenen sexuellen Fantasien, bei denen Hitler ebenfalls Rollen zugesprochen werden, bis sie schließlich auch darüber redet, welche Scham sie als Deutsche empfindet. Sie obduziert die Geschichte Deutschlands und das peinliche Schweigen der Täter- und Nachkriegsgenerationen. „Der Termin“ ist auch eine Coming-of-Silence-Geschichte.

Die namenlose Ich-Erzählerin hat sich von ihrer katholisch geprägten nachkriegsdeutschen Familie abgenabelt und lebt, wie die Autorin, in London. In einer Rückschau macht sie ihre eigene Geschlechtsidentität sowie die Beziehung zu Mutter, Vater, Urgroßvater („Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er ein richtiger Nazi war“) zum Thema. Ihr Ton ist dabei oft lakonisch-komisch.

Sie erzählt, wie sie bei einer Wutattacke im Büro einem Kollegen drohte, sein Ohr am Tisch festzutackern. Dann ist sie überrascht, wieso ihr nach dieser Geschichte gekündigt wurde. Obwohl doch jedem klar sein müsse, dass man mit diesen Billigtackern eher sich selbst verletzt, als anderer Leute Ohren an Schreibtischplatten festtackern zu können.

Das deutsche Brot ist zu trocken

Über Nürnberg, einst Stadt der Reichsparteitage der Nationalsozialisten, unkt sie, dass dort jetzt jährlich Messen für Waschmaschinen abgehalten werden und ruft die Erinnerung an deutsche Fernsehwerbung auf, die meterweise reine, weiße Wäsche verspricht. Gedankensprung: Das deutsche Brot ist zu trocken, deshalb gelingt Deutschen der Oralverkehr nicht gut.

Volckmer ist provokant, ja. Und einiges davon glaubt man auf den ersten Blick gleich erkannt zu haben: Hitler und Juden als Aufreger, der Skandal scheint programmiert.

Was soll das eigentlich?

Ist das nicht Verharmlosung der deutschen Geschichte? Wird hier nicht zu sehr auf Hitler fokussiert? Hitler, mal als komische Figur, dann wieder als Sexphantasie – was soll das eigentlich?

Ja, das alles brodelt an der Oberfläche. Aber wie beim qualvollen Häuten der Zwiebel treten nach und nach untere, verborgene Schichten nach oben, die Frage der Geschlechtsidentität vor allem. Bin ich Mann, bin ich Frau? Warum fühle ich mich als Mann, bin aber als Frau geboren? Welchen Prozess durchlaufen Transmenschen? „Jedenfalls glaube ich, dass unsere Körper manches wissen, lange bevor unser Kopf es tut“, sagt die Patientin, die als heterosexuelle Cis-Frau sozialisiert wurde.

Der Gynäkologe bleibt die meiste Zeit stumm, und doch spricht die Patientin nie ins Leere. Erst spät fragt er sie, und wir lesen nie seine Frage, sondern nur ihre Antwort, ob sie wütend auf ihre Eltern sei. Ist sie nicht. Denn ihr Kopf ist nach dem Körper schon ein Stück auf dem Befreiungsweg vorangekommen.

„Ich wünschte, wir beide hätten das durchschaut“

Sie erzählt von ihren Schwierigkeiten, als sie jung ist, und die Mutter sie zu einer jungen Dame machen will, mit Schminke und Parfüm und schönen Kleidern. „Ein Großteil unserer Schwierigkeiten miteinander rührte von einem völlig unnötigen Lampenfieber, das uns von einer Welt aufgezwungen wird, die Leute ohne Schwanz auf ihren Platz verweisen will, und ich wünschte, wir beide hätten das durchschaut.“

Das auf den ersten Blick „nur“ die deutsche Scham und Vergangenheit ankratzende Buch ist wie ein trojanisches Pferd, das ein Hitlerbärtchen trägt, vielleicht auch nur einen Hoden hat und von Dirty Talk-AnhängerInnen geschoben wird, das aber bei genauerer Betrachtung und Überwindung der Befestigungsanlagen gefüllt ist mit Kriegerinnen und Kriegern, Cis- und Transmenschen, die traditionelle Geschlechterrollen, Geschlechterbinarität, Transphobie und das Patriarchat bekämpfen. Und letztlich schaut man sich um, wie man hergekommen ist, sieht das trojanische Pferd, und muss sich doch wieder der eigenen Vergangenheitsbewältigung und dem deutschen Völkermord stellen. Dr. Seligmann kann beides verbinden, und die Patientin ist genau deshalb bei ihm.

Katharina Volckmer, wurde 1987 in Deutschland geboren und zog mit 19 Jahren zum Sprachen-Studium nach England. Heute lebt sie in London und arbeitet für eine Literatur-Agentur. „Der Termin“ ist ihr erster Roman, und es ist so ein temporeiches Wahnsinnsbuch! Man verschlingt es in wenigen Stunden und lacht und weint und fühlt sich furchtbar und interessiert und pikiert. Das ist wirklich raffinierte, konzertante und elegant kurzweilig geschriebene Literatur, die ihresgleichen sucht. Wenn das gleich beim kühnen Debüt dermaßen reinhaut, was kommt mit dem Zweitwerk auf uns zu? Kann nur gut werden für die Literatur!

Katharina Volckmer: Der Termin, Kanon-Verlag, Berlin, 2021, 128 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3985680009

Seitengang dankt dem Kanon-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Die Vergessenen um Stauffenberg

Stauffenbergs GefährtenDer Widerstand gegen den Nationalsozialismus ist eng verknüpft mit dem Namen Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Unerwähnt bleiben oft all jene Verschwörer aus dem weiteren Umfeld. Die einstige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags Antje Vollmer und der „Welt“-Redakteur Lars-Broder Keil haben jetzt zehn dieser nahezu unbekannten Widerstandskämpfer eindrucksvoll und sehr nahegehend porträtiert. Ein Buch, das Sie gelesen haben sollten.

Das Umschlagfoto des Buches „Stauffenbergs Gefährten“ zeigt einen jungen Mann, einsam und mit nachdenklichem Blick in verschneitem Gebirge sitzend, festgehalten auf einer Schwarz-Weiß-Fotografie. Der junge Mann ist Friedrich Karl Klausing, junger Offizier und späterer Hauptmann und Widerstandskämpfer. Beim Hochverratsprozess im August 1944 vor dem Volksgerichtshof wird er der mit Abstand jüngste Angeklagte aus dem Kreise Stauffenbergs sein. Sein kurzer Abschiedsbrief („So fragt nicht mehr nach mir, sondern laßt mich damit ausgelöscht sein“), mit dem er seine Familie zu schützen versucht und der in dem von Vollmer verfassten Porträt veröffentlicht ist, erreicht die Eltern erst, als der 24-Jährige bereits hingerichtet worden ist.

Berührend veranschaulicht Vollmer, wie gerade Klausing einen einsamen Weg als Verschwörer einschlug. Seine Familie hatte die nationalsozialistische Karriereleiter genutzt. Vor allem der Vater war ein überzeugter Nationalsozialist und Hitler-Verehrer, der unter der Besetzung Prags Rektor der Karls-Universität wurde. Im Elternhaus konnte der junge Klausing also nicht mit Verständnis rechnen. Umso beklemmender ist für den Leser ein vom Vater an den Sohn gerichteter Brief, den dieser nicht mehr erhält. Glücklicherweise, muss man sagen, denn er ist unbelehrbar ideologisch getränkt. Der Vater begeht schließlich Selbstmord, weil er glaubt, er müsse die Ehre der Familie retten.

„Einsam in der Familie, einsam unter Freunden“

Bei der Vorstellung des Buches auf der Leipziger Buchmesse 2013 erklärte Vollmer, warum sie sich bei der Foto-Auswahl für den Buchumschlag ausgerechnet für Klausings Foto entschieden haben: „Das Foto zeigt am besten die Einsamkeit der Verschwörer, denn wer zu so einer Gruppe gehörte, war einsam, einsam in der Familie, einsam unter Freunden – und so ein Attentat machte man auch nicht im Auftrag des deutschen Volkes.“

Es ist eine wichtige Sammlung von Porträts, die Vollmer und Keil vorgelegt haben. Sie räumt auch auf mit der umstrittenen Figur des Hans Bernd Gisevius. Er ist einer der Überlebenden des 20. Juli und Autor des Buches „Bis zum bitteren Ende“, das nach dem Krieg vernichtend und aus sehr subjektiver Sicht über den Stauffenberg-Kreis berichtete – ohne dass sich seine Mitstreiter gegen diese fatale Darstellung der Ereignisse noch hätten wehren können. Die Erklärung, die Vollmer findet, ist so nachvollziehbar wie bitter.

Die beiden Autoren sind bei ihrer Arbeit umfangreich unterstützt worden. „Wir haben teilweise sehr private Aufzeichnungen zu sehen bekommen, vor allem Briefe und Tagebücher, Dokumente also, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, und das hat uns sehr dankbar gemacht“, erklärte Vollmer nachdrücklich im März 2013 in Leipzig. So konnte nicht nur eine Annäherung an die unbekannten Gefährten Stauffenbergs entstehen, sondern eine intensive Beschäftigung mit ihrem Handeln, ihren Beweggründen und dem Schicksal ihrer Familien.

Interesse in der Nachkriegszeit gering

„Uns ging es weniger um eine Neuschreibung des Staatsstreichversuchs, sondern vielmehr darum, das Handeln der Beteiligten erlebbarer, verständlicher, emotionaler zu zeichnen – ohne dabei das historische Geschehen aus den Augen zu verlieren“, heißt es im Vorwort. Den Autoren gelingt es damit auch, den Hinterbliebenen endlich zu ermöglichen, woran sie lange Zeit gehindert waren: über ihre Ehemänner und Väter zu sprechen. Denn das Interesse an den Widerstandskämpfern und ihrer Geschichte war in der Nachkriegszeit mehr als gering.

Als Gastautorin konnten Vollmer und Keil die Historikerin Elisabeth Raiser, geb. von Weizsäcker, gewinnen, die ein berührendes Porträt über Margarethe von Oven verfasste. Von Oven arbeitete im Sommer 1943 als Büroleiterin im Heeresamt und tippte die Worte „Der Führer Adolf Hitler ist tot“, mit denen die Aktion „Walküre“ ausgelöst werden sollte. Das Porträt beleuchtet auch sehr eindrucksvoll, woher sie den Mut nahm und unter welcher Anspannung sie bis zum 20. Juli lebte.

Diese Porträts sind vortrefflich geschrieben. Ihre Emotionalität ist derart nahegehend, dass man sich immer wieder mit der Frage konfrontiert sieht: Hätte ich auch so gehandelt? Hätte ich selbst diesen Mut aufgebracht, nicht nur mein Leben zu riskieren, sondern auch das meiner Familie, meiner Freunde und Mitverschwörer?

„Zivilcourage noch immer etwas Notwendiges“

Karl Heinz Bohrer, Professor für Literaturwissenschaft und ehemaliger Herausgeber der Kulturzeitschrift „Merkur“, hielt am 20. Juli 2013 in Berlin die zentrale Gedenkrede zur Erinnerung an die Widerstandskämpfer. In seinem außergewöhnlichen Text zum Thema „Warum wir die Helden des 20. Juli nicht verstehen“ sagte er:

„Je länger die Zeit wird, in der wir uns von dem Tag, der als 20. Juli 1944 auf unserem historischen Kalender steht, zeitlich entfernen, desto mehr ist das Beispielhafte der Verschwörer jenes Tages zu begründen und zu erinnern. Sie selbst verstanden ihr Beispiel noch im Sinne eines symbolischen Ehrenkodex – sei er christlich-humanistisch oder preußisch-aristokratisch gewesen. (…) In einer so gefahrlosen, aber auch den Konformismus begünstigenden Gesellschaft wie der unseren – seit dem Attentat so friedfertigen Epochen –, ist die Zivilcourage noch immer etwas Notwendiges, wenn auch inzwischen Außergewöhnliches geworden. Um wie viel mehr die existentielle.“

Dem ist nichts hinzuzufügen. (Die Rede ist hier online abrufbar.)

Beide Autoren, sowohl Antje Vollmer als auch Lars-Broder Keil, haben sich wiederholt mit dem Widerstand gegen das Nazi-Regime auseinandergesetzt. Von Vollmer erschien zuvor eine von der Kritik begeistert aufgenommene Doppelbiografie über das Paar Heinrich und Gottliebe von Lehndorff, das ebenfalls zu den Mitwissern im Stauffenberg-Kreis gehörte.

Vollmers und Keils erstes gemeinsames Buch ist unbestreitbar eines der wichtigsten Bücher des Jahres 2013. Lesen Sie es!

Antje Vollmer / Lars-Broder Keil: Stauffenbergs Gefährten. Das Schicksal der unbekannten Verschwörer, Hanser Verlag, Berlin, 2013, 256 Seiten, gebunden, 19,90 Euro, ISBN 978-3446241565

Der Charme der Worte

„Bitte glaubt mir: Ich kann wirklich fröhlich sein. Ich kann angenehm sein. Amüsant. Achtsam. Andächtig. Und das sind nur die Eigenschaften mit dem Buchstaben „A“. Nur bitte verlangt nicht von mir, nett zu sein. Nett zu sein ist mir völlig fremd.“

Gleich zu Beginn ist es der Tod, der mit seiner Geschichte in die Phantasie des Lesers platzt. Der Tod hat viele Geschichten zu erzählen, aber es ist nur eine einzige, die ihn nachhaltig beeindruckt hat: die Geschichte der kleinen Liesel Meminger. Das neunjährige Mädchen kommt im Januar 1939 zu Pflegeeltern nach Molching in der Nähe von München. Die Pflegemutter, Rosa Hubermann, ist keine Frau feiner Worte und versteht es, ihre Mitmenschen herumzukommandieren und mit Schimpfworten zu überhäufen, insbesondere ihren Mann, Hans Hubermann, den Liesel schnell ins Herz schließt. Es ist die Zeit des Nationalsozialismus, der nach und nach seine Spuren in der Stadt und ihren Menschen hinterlässt. Auch Liesel wird immer öfter mit dem Thema konfrontiert. Ganz besonders, als ihre Pflegeeltern den Juden Max Vandenburg aufnehmen und ihn im Keller verstecken.

Max wird zu einem Freund, einem Vertrauten. Liesel, die ihr erstes Buch mehr gefunden als gestohlen hat, als es einem Totengräber bei der Beerdigung ihres Bruders aus der Hosentasche rutscht, erlernt mit Hilfe ihres Pflegevaters das Lesen. Sie stiehlt weitere Bücher, und dann ist es mehr und mehr Max, der ihr Worte zeigt und erklärt und die Lust am Lesen fördert. Mit ihrer unbekümmerten Art wickelt Liesel nicht nur Max, ihren Pflegevater und ihren besten Freund Rudi um den Finger, sondern auch die harte Rosa Hubermann kann sich dem Charme des Mädchens nicht erwehren. Und nicht zuletzt der Tod, der sich stets mit einer kunstvollen Arroganz und Eigenwilligkeit immer wieder einmischt und mit seinem Allwissen jongliert, Lösungen im Voraus präsentiert, Teile der Geschichte verrät, nicht zuletzt der Tod verfällt dem kleinen Mädchen, das allen vor Augen führt, was Menschlichkeit in einer Zeit der Unmenschlichkeit ausmacht.

Dem Autoren, Markus Zusak, ist hier ein Buch gelungen, das bald zum Kanon der Bücher gehören wird, die Kinder und Jugendliche zum Thema Nationalsozialismus gelesen haben müssen. Dazu gehören auch: „Der Junge im gestreiften Pyjama“ von John Boyne und „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ von Judith Kerr. Und jedem Erwachsenen sei das Buch wärmstens ans Herz gelegt, weil es eine zauberhafte Wortvielfalt enthält, die ihresgleichen sucht. Ungewöhnliche Metaphern, wie sie nur der Tod finden kann. Es ist ein literarischer Hochgenuss und ein Werk, das den Leser tief beeindruckt zurücklässt.

Markus Zusak: Die Bücherdiebin, Blanvalet Verlag, 2008, 588 Seiten, gebunden, 19,95 Euro, ISBN 978-3570132746

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