Fallen und Aufrichten. Fallen.

Das Lächeln meiner MutterWer immer dieses Buch zur Hand nimmt, sollte nicht in der schwärzesten Lebensphase stecken, denn schon die ersten Seiten werfen den Leser derart aus der Bahn, dass selbst starke Gemüter den Tränen nahe sein könnten. In ihrem autobiographischen Roman „Das Lächeln meiner Mutter“ sucht Delphine de Vigan nach den Hintergründen für den Freitod ihrer eigenen Mutter. Sie fragt Verwandte, hört alte Tonaufnahmen, findet Fotos und Briefe aus vergangenen Zeiten und zeichnet mehr und mehr ein beeindruckendes Bild einer schwer zu fassenden Frau sowie einer französischen Großfamilie, die mit Schicksalsschlägen zu kämpfen hat, als sei sie von einem Fluch belegt.

Als Lucile Poirier im November 1946 geboren wird, ist sie das dritte Kind der Familie. Weitere sechs Kinder folgen. Es ist die typische Großfamilie, wie wir sie in den leichten französischen Sommerkomödien oft zu sehen bekommen. Mit großen Feiern auf dem Land, wildem Kindergetummel, Gelächter, Weingelagen und Diskussionen bis in die Nacht, alle Generationen an einem großen Tisch vereint.

Lucile wächst in einem Haus in Pierremont auf, einer kleinen Stadt im Département Yonne südöstlich von Paris. Als Kind ist sie ein gefragtes Fotomodell, sie liebt das Fotografiertwerden, genießt aber auch das Kindsein in vollen Zügen. Doch kurz vor ihrem achten Geburtstag muss sie lernen, dass der Tod das Leben mitbestimmt: Im Sommer 1954 stirbt ihr jüngerer Bruder Antonin, nachdem er beim Spielen in einen Brunnenschacht gefallen ist. In der Familienmythologie wird sein Tod zur bezeichnenden Tragödie, mit der das Unglück seinen Anfang nimmt.

Ein Grauen für Eltern und Geschwister

Ihr folgen zwei weitere Todesfälle: Jean-Marc und Milo, Luciles jüngere Brüder, sterben ebenfalls. Jean-Marc wird eines Morgens von seiner Mutter mit einer Plastiktüte über seinem Kopf tot im Bett gefunden – der Auslöser bleibt ein Mysterium, ein Grauen für Eltern und Geschwister.

Milo ist von neun Geschwistern der dritte Bruder, der stirbt. „Ich weiß nicht, ob sich solche Schmerzen addieren oder multiplizieren, aber ich denke, für eine einzige Familie wird das doch recht viel“, schreibt de Vigan. Milo kauft sich eine Pistole und schießt sich in einem Wald eine Kugel in den Kopf. In seinem Taschenkalender findet sich an seinem Todestag der Eintrag: „Bitte verzeiht mir, ich habe nie leben wollen.“

Wie geht ein Geschwisterkind mit diesen die Familie überschattenden Ereignissen um? Wirken sie sich auf das spätere Leben aus? Behutsam versucht die Autorin, sich ihrer Mutter zu nähern, die fast unnahbar war und sich bis zuletzt – oft mit einem Lächeln – entzog. Auch Luciles Geschwister finden keine Antworten: „Sie war ein geheimnisvolles Kind, ein absolutes Geheimnis.“ Später wird klar, dass Lucile an einer bipolaren Störung leidet, die nicht nur Lucile, sondern vor allem ihre beiden Töchter in Gefahr bringt. Sie glaubt, sie könne die Pariser Metro mit ihren Gedanken kontrollieren und stehe in Kontakt mit Claude Monet.

Ein ständiges Fallen und Aufrichten

Sie treibt weiter in ihre eigene Welt. Mehrere Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken folgen. Sie bekommt sich in den Griff, verlebt glückliche Momente mit ihren Enkelkindern und muss den nächsten Schlag einstecken: Bei ihr wird Krebs diagnostiziert. Es ist ein ständiges Fallen und Aufrichten. Fallen und Aufrichten. Am Ende kann die Autorin nur noch resümieren: „Lucile starb, wie sie es sich wünschte: lebendig. Jetzt bin ich in der Lage, ihren Mut zu bewundern.“

Dass die Aufarbeitung einer schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung schon oft literarisch umschrieben wurde, ist auch Delphine de Vigan bewusst. Sie nennt das Gelände „vermint“ und das Thema „abgegriffen“. Und dennoch stellt ihr Buch vieles Zuvorgewesenes in den Schatten. De Vigan ringt mit sich, das wird immer wieder deutlich. Sie unterbricht ihr Schreiben, erzählt von den Schwierigkeiten, allen gerecht werden zu wollen, ihre Mutter nicht zu sehr in die Öffentlichkeit zu zerren und den Geschwistern die Ruhe zu erlauben, die sie sich über Jahre hinweg aufgebaut haben.

Es ist ein großes Familienprojekt, sie alle haben ihren Anteil daran, sie alle haben nicht nur lang verschlossene Kisten wieder geöffnet, sondern vor allem Erinnerungen geteilt und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Allein das ist bewundernswert, mutig, selbstlos, und zeugt von einer tiefen Zuneigung zu einer rätselhaften und zugleich faszinierenden Schwester und Mutter. Diese Faszination ergreift den Leser schon früh, denn der Buchumschlag zeigt ein Originalfoto von Lucile, aufgenommen in Pierremont, dem Ort ihrer Kindheit. Und es ist und bleibt faszinierend.

Fragwürdiger deutscher Titel

Lediglich der deutsche Titel des Buches ist fragwürdig. Im Original heißt das Buch „Rien ne s’oppose à la nuit“ („Nichts steht der Nacht entgegen“). Das Zitat entstammt laut Danksagung Alain Bashungs und Jean Fauques Chanson „Osez Josephine“, der die Autorin beim Schreiben begleitet hat. Muss ein deutscher Verlag im Titel gleich auf die Mutter-Tochter-Beziehung aufmerksam machen? Oder kann nicht auch ein feuilletonistischer Titel Erfolg haben?

Dem „Lächeln meiner Mutter“ sind auch in Deutschland viele Leser zu wünschen. In Frankreich wurde es für alle vier bedeutenden Literaturpreise nominiert.

Delphine de Vigan: Das Lächeln meiner Mutter, Droemer Verlag, München, 2013, 384 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 19,99 Euro, ISBN 978-3426199466

Die Schatzinsel? Pah!

Der Master von BallantraeFamos, ganz und gar famos! Seien Sie dem Mareverlag dankbar, dass er erneut einen literarischen Schatz gehoben hat. Mit der glänzenden und modernen Neuübersetzung von Robert Louis Stevensons „Master von Ballantrae“ ist der alte Klassiker über einen Bruderkampf im Schottland des 18. Jahrhunderts neu zu entdecken. Das sollte man nicht versäumen.

Die Geschichte beginnt im Jahr 1745. In Schottland zieht Bonnie Prince Charlie in den Zweiten Jakobitenaufstand. Unter seiner Fahne reitet auch James Durie, der Master von Ballantrae und einer der Söhne von Lord Durrisdeer, ein Hallodri, Raufbold und Weiberheld, unberechenbar, skrupellos und arrogant. Als der zurückgebliebenen Familie die Kunde vom Tod des Masters zugetragen wird, übernimmt der jüngere und anständige Bruder Henry die Geschäfte und heiratet die Frau, die einst dem Master zugesprochen war. Doch eines Tages kehrt der totgeglaubte James nach Hause zurück.

Das Sujet klingt altbekannt, fast trivial, und doch ist es geradezu meisterlich, was Stevenson daraus geschaffen hat. Gäbe es noch Kaminabende, an denen Freunde beisammen sitzen und sich die tollsten Geschichten erzählen, während Tabak geraucht wird und die Gläser klirren, es wäre diese Geschichte des „Masters von Ballantrae“, die die staunendsten Blicke ernten würde. Das Abenteuer führt durch Schottland, Frankreich, Indien und Amerika. Es gibt Piratengeschichten, Moorwanderungen und Schatzsuchen. Indianer skalpieren das eine oder andere Bleichgesicht, ein Inder versteht mehr Englisch, als er zugibt, und Piraten tun das, was sie eben tun.

Ein Pas de deux par excellence

Die Feindschaft der beiden Brüder findet seinen Höhepunkt in einem nur von Kerzen beleuchteten winterlichen Degen-Duell, das wie ein Tanztheater konzipiert ist. Das Bühnenbild von eindringlicher Qualität, die Requisiten spärlich, aber mit Bedacht gewählt, vollführen die handelnden Personen einen Pas de deux par excellence.

Der Winter spielt eine wichtige Rolle im „Master von Ballantrae“. Stevenson bezeichnete das Buch nicht als Roman, sondern als „Eine Wintergeschichte“ und verweist damit auf die Entstehung des Buches. Ende 1887 hielt sich Stevenson in einem Sanatorium in Saranac auf, um sich dort von einem Tuberkulosespezialisten behandeln zu lassen.

In einem Entwurf für ein Vorwort schreibt Stevenson: „Es war Winter; die Nacht war sehr finster; die Luft war außerordentlich klar und kalt und von köstlicher Waldesfrische. Weit unten hörte man den Fluss mit Eis und Felsbrocken kämpfen; einzelne Lichter waren zu sehen, ungleichmäßig in der Dunkelheit verstreut, doch so weit entfernt, dass sie den Eindruck der Einsamkeit nicht minderten. Das waren gute Voraussetzungen für das Verfassen einer Geschichte.“

„Seine einzige Geschichte in Schwarz und Weiß“

Obgleich der „Master von Ballantrae“ nicht notwendigerweise im Winter gelesen werden muss, sind es doch vor allem die winterlichen Szenen, die besonders wirkungsvoll und eindringlich sind, allen voran die schon erwähnte Duell-Szene. Gilbert Keith Chesterton schreibt in einem Essay aus dem Jahr 1927 über Stevenson: „Stevenson bewies seinen untrüglichen Instinkt, als er [das Buch] „Eine Wintergeschichte“ nannte. Es ist seine einzige Geschichte in Schwarz und Weiß, und ich kann mich keines Worts entsinnen, das ein Farbfleck wäre.“

Auch er lobt die Duell-Szene: „Das Haus Durrisdeer geht nicht unter wie das Haus Usher. Diese mörderische Szene ist durchdrungen von etwas unbenennbar Reinem, Salzigem, Gesundem, und allem zum Trotz ist der weiße Raureif für die Kerzen eine kalte Läuterung wie eine Art Lichtmess.“

Ganz vortrefflich ist sie, diese Ausgabe des Mareverlags. Melanie Walz hat den Text nicht nur brillant übersetzt und dabei alle bisherigen Übersetzungen außer Acht gelassen, sondern ihn auch noch kommentiert sowie ein aufschlussreiches Nachwort und Stevensons Entwürfe für ein Vorwort beigefügt.

Auch äußerlich ist der „Master von Ballantrae“ gelungen: In Leinen gebunden und mit zweifarbiger Prägung auf dem Titel und Rücken, mit einem farbigen Vorsatzpapier und einem Lesebändchen, steckt das Werk in einem von Simone Hoschack und Petra Koßmann gestalteten stabilen Schmuckschuber. Wahrlich eine Pracht. Der geneigte Leser sollte nicht lange zögern.

Robert Louis Stevenson: Der Master von Ballantrae, Mareverlag, Hamburg, 2010, 352 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, im Schmuckschuber, 29,90 Euro, ISBN 978-3866481206

Die Totgeburt einer Legende

Der Veröffentlichung des ersten Teils der „Legend“-Trilogie von Marie Lu ging eine Medienkampagne voraus. Die Filmrechte sind bereits verkauft, ein Buchtrailer versprach Großes. Doch „Fallender Himmel“ ist nur eine von vielen Dystopien, die derzeit vor allem im Jugendbuchbereich auf den Markt schwemmen. Und die Idee krankt vor allem an ihrer Unausgereiftheit.

Los Angeles im Jahr 2130. Die Republik Amerika führt Krieg gegen die Kolonien, während in den Städten Seuchen grassieren. Durch die Straßen patroulliert die Seuchenpolizei und markiert all jene Häuser, in denen bereits Erkrankte wohnen, mit einem roten X. Auch an dem Haus von Days Familie prangt ein solches Mal, aber er wäre nicht Amerikas meistgesuchter Verbrecher, wenn es ihm nicht gelingen sollte, Medikamente für seine Familie zu besorgen.

Doch der Einbruch im Krankenhaus verläuft anders, als Day erwartet hat. Er muss fliehen, wird schwer verletzt und kann seinen Verfolger nur mit einem beherzten Messerwurf abschütteln.

Von Rachegelüsten getrieben

Der Verfolger aber ist niemand anderes als Metias Iparis. Dessen 15-jährige Schwester June hat als einziges Kind jemals die volle Punktzahl des „Großen Tests“ erreicht und ist als Elitesoldatin für eine Militärkarriere vorgesehen. Ihr erster Auftrag lautet: Den vermeintlichen Mörder ihres Bruders Metias zu finden – Day, Staatsfeind Nummer eins. June, von Rachegelüsten getrieben, heftet sich an die Fersen des sagenumwobenen Rebellen und erkennt fast zu spät, dass sie nur ein Rädchen in einem großen, perfiden Spiel ist.

Dystopien haben derzeit Hochkonjunktur. Und es gibt gute Beispiele wie die „Die Tribute von Panem“-Trilogie. Oder „Die Nacht von Shyness“. Doch der Anfang der „Legend“-Trilogie ist zu wenig durchdacht, um aus dem Wust der Anti-Utopien herauszustechen. Kaum etwas erfährt der Leser über die Hintergründe des Kriegs gegen die Kolonien, die politischen Machtverhältnisse und das Leben der Menschen abseits der Seuchen und Militäraktionen. Der Plot ist geprägt von Schwarz-weiß-Malerei, teilweise sehr brutalen Szenen und einer wenig nachvollziehbaren Liebesgeschichte. Die Idee, die Geschichte abwechselnd aus beiderlei Sicht zu erzählen, ist nicht neu, sorgt aber zumindest für etwas Abwechslung. Die beiden Hauptcharaktere bleiben dennoch blass und entwickeln keine Tiefe. Trotzdem: Dem rebellischen Day ist man als Leser schon näher, als der unglaublich stupide folgsamen June.

Diese Geschichte überzeugt nicht. Sie ist lesbar, ja, aber vor allem ist es ein Werk, das das Regal nicht braucht. Bitte nicht mehr davon!

Marie Lu: Legend – Fallender Himmel, Loewe Verlag, Bindlach, 2012, 367 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 17,95 Euro, ISBN 978-3785573945, vom Verlag empfohlenes Alter: 14 bis 17 Jahre

Oh, du mein arg romantisch pochendes Herz

Wir schreiben die siebziger Jahre. In einer Moorlandschaft im Süden Englands hat sich eine Künstlerkolonie angesiedelt, deren Bewohner das freie Leben genießen. Auch Cecilia wächst dort auf. Ihre Eltern Dora und Patrick haben ein altes Gehöft gekauft, in den Ställen kommen andere Hippies unter, bezahlt wird mit Naturalien oder handwerklichen Dingen. Das alles geht Cecilia gehörig auf den Keks. Am schlimmsten für sie ist aber die antiautoritäre Erziehung an ihrem Internat, einer Reformschule, wo sie auch das Töpfern und Flechten erlernt. Welch ein Lichtblick, als der ernsthafte Englischlehrer James Dahl an die Schule kommt, und die 15-jährige Cecilia und ihre Freundinnen sich reihenweise in den Mann verlieben.

„Gefährliche Nähe“, das ist Joanna Briscoes aktueller Roman, der in Deutschland jetzt bei Bloomsbury Berlin erschienen ist. Und wie der Vorgänger „Schlaf mit mir“ ist auch dieses Buch sehr emotional, schwülstig und für das romantische Herz geschrieben. Kaum vorstellbar, dass ein Mann an diesem Buch Gefallen finden kann. Jedoch: Freundinnen von tiefromantischen Liebes- und Familiensagas werden wahrscheinlich ihre helle Freude daran haben.

Es kommt, wie es kommen muss: Die belesene Cecilia entbrennt in tiefer Liebe zu ihrem Lehrer, weil er die klassische Bildung verkörpert. Auch er liest Bücher, weiß daraus zu zitieren und ist ansonsten unnahbar ernsthaft. In der Beschreibung erinnert Mr. Dahl an Matthew Macfadyen und seine meisterhafte Darstellung des Mr. Darcy in der Joe-Wright-Verfilmung von „Stolz und Vorurteil“.

Vom zarten Band zur gefährlichen Nähe

Zwischen Cecilia und James Dahl entwickelt sich ein zartes Band, das sich mehr und mehr zur titelgebenden gefährlichen Nähe entwickelt. Die wird zwar von Cecilias Mutter Dora gesehen, aber nicht wirklich erkannt. Dafür ist keine Zeit, denn Dora fühlt sich zum anderen Part der Dahls hingezogen, Elisabeth, James‘ bi-interessierte Ehefrau.

Rund zwanzig Jahre später kehrt Cecilia mit ihrer eigenen Familie in das Haus ihrer Kindheit zurück, um näher bei ihrer krebskranken Mutter zu sein. Die Erinnerungen an die Erlebnisse in ihrer Kindheit prasseln auf sie ein, und schnell wird deutlich: Auch jetzt noch lauert an diesem Ort eine gefährliche Nähe.

Es wird viel gefühlt und geliebt in diesem Roman, dafür fehlt es an derb-deftigen Sexszenen, wie man sie noch in „Schlaf mit mir“ lesen konnte. Wer also zumindest darauf hofft, wird enttäuscht werden. Insgesamt bleibt es ein Liebesroman durch und durch, der sich durch die verbotene Liebe zwischen Lehrer und Schülerin etwas Reiz verspricht, ihn aber nicht halten kann. Wieder mal ein Buch für den Urlaub, sofern man ein arg romantisch pochendes Herz besitzt.

Joanna Briscoe: Gefährliche Nähe, Bloomsbury Verlag, Berlin, 2012, 495 Seiten, gebunden, 22,90 Euro, ISBN 978-3827010490

Krass, man!

Fürwahr, es ist ein dünnes Büchlein, das Tamara Bach als ihr erstes beim Carlsen Verlag vorlegt, nachdem sie schon drei andere Kinder- und Jugendbücher bei anderen Verlagen veröffentlicht hat. Es ist ein dünnes Büchlein mit dicken Themen: Freundschaft, Verlust, Ängste, Trauer, Erwachsenwerden, Verzweiflung, erste Liebe. Zu viel für 140 Seiten? Nein, das alles darf sein und rein in so einen Text – wenn er so ungewöhnlich daherkommt, wie die preisgekrönte Tamara Bach ihre Bücher schreibt. Weil sie anders sind. Aber vielleicht hat sich Tamara Bach auch ein wenig verzettelt in ihrer Andersheit. Ihr Verlag indes weiß sie trotzdem zu rühmen.

„Was vom Sommer übrig ist“ ist keine leichte Sommerlektüre für den Strandkorb, sondern harte Lesearbeit. Es erzählt von der 17-jährigen Louise und der 12-jährigen Jana, die sich an einem heißen Sommertag begegnen. Louise ist im Ferienjob-Dauerstress, weil sie nicht nur einen Job beim Bäcker angenommen hat, sondern auch noch den Hund ihrer Oma hütet und für einen Freund dessen Job übernommen hat, die Zeitungen auszutragen. Mit den vielen Jobs will sie möglichst schnell ihren Führerschein finanzieren, bietet der doch einiges an Unabhängigkeit. Jana dagegen sucht und flüchtet. Sie sucht Aufmerksamkeit und flüchtet vor der atemlosen Stille zu Hause, seit ihr Bruder Tom von einer Brücke sprang. Ihre Eltern sind pausenlos bei ihm im Krankenhaus und vergessen sogar Janas 13. Geburtstag. Und just an diesem Tag trifft sie auf Louise.

Erzählt wird die Geschichte aus beiderlei Sicht, wobei dem Perspektivwechsel manchmal schwer zu folgen ist. Leicht hat es auch derjenige Leser nicht, der sich gegen Jugendsprache sperrt, denn Tamara Bach lässt ihre beiden Charaktere oft in einem Bewusstseinstrom einfach drauflos erzählen, ohne Punkt und Komma, gerne auch in unvollständigen Sätzen. Das macht das Buch nicht unbedingt einfacher, aber auch nicht weniger lesenswert. Fast kunstvoll, nur an wenigen Stellen unangenehm gekünstelt, lässt Tamara Bach die beiden Mädchen zu Wort kommen. Trotzdem bleibt die Sprache stets grammatisch korrekt und einwandfrei, wenn sich Bach der typischen Auslassungszeichen wie des Apostrophs bedient.

„Gerade die Verwendung des Dativs ist absichtlich“

In zwei Fällen aber, nur in zwei Fällen, stimmt die Grammatik unangenehm nicht. Der Verlag, vom Rezensenten darauf hingewiesen, dass es sich möglicherweise um zwei Fehler handeln könnte, weil ansonsten die Grammatik eingehalten werde, und ob der Verlag die Fehler in der nächsten Auflage berichtige, antwortete – und hier wird die Antwort gerne in ihrer Gänze zitiert: „Tamara Bach hat einen eigenen, absichtlich ungewöhnlichen Sprachstil gewählt. Sie schreibt immer abwechselnd aus der Sicht der beiden Hauptfiguren und hält den Erzählstil deshalb absichtlich „jugendlich“ oder umgangssprachlich. Man könnte den Stil auch assoziativ nennen. Sätze sind absichtlich unvollständig, es fehlen Artikel oder es kommen Gedankensprünge vor. Oftmals werden so Rechtschreib- und Satzbaukonventionen ignoriert. Deshalb sind die von Ihnen gemeinten Stellen keine versehentlichen Fehler. Gerade die Verwendung des Dativs im Zusammenhang mit „wegen“ ist absichtlich. Es ist korrekter, sauberer den Genetiv zu verwenden, dies würde jedoch zu dem umgangssprachlichen Ton der jugendlichen Figuren nicht passen.“

Jugendsprache hin oder her – aber das geht nicht. Lassen wir in Zukunft aus Jugendbüchern den Genetiv fort, weil die Jugendsprache ihn auch nicht kennt? Wird „brauchen“ ohne „zu“ gebraucht, weil nicht nur die Jugendsprache es nicht mehr kennt, sondern weil selbst gestandene Wortverwender die Regel missachten? Ist es denn nicht viel mehr eine Kunst des Bücherschreibens, wenn man die Jugendsprache einzufangen, sie aber dennoch in den grammatischen Regeln zu halten vermag?

Ansonsten aber legt Tamara Bach hier ein berührendes Buch vor, das nicht nur ein Jugendroman ist. Und ganz sicher keine leichte Sommerlektüre, sondern ein dünnes Büchlein mit dicken Themen. Oder sollte man besser schreiben: „Krass, man“?

Tamara Bach: Was vom Sommer übrig ist, Carlsen Verlag, Hamburg, 2012, 140 Seiten, mit Lesebändchen, gebunden, 12,90 Euro, ISBN 978-3551582423