„Sie rümpfen die Nase über uns“ – Sexarbeit im Porträt

Halbe Stunde„Früher konnte ich mich auch mal ausruhen, aber jetzt muss ich immer stehen und kucken, ob die Polizei kommt“, sagt Faghira. Sie ist 23 Jahre alt und arbeitet in einem Stundenhotel im Hamburger Stadtteil St. Georg. Die Fotografin Tanja Birkner hat sich dort drei Jahre lang mit Menschen aus der Prostitution getroffen und sie interviewt. Daraus ist das überzeugende Fotoprojekt „Halbe Stunde“ entstanden, eine Sammlung aus nahe gehenden Porträts in Text und Foto, vorurteilsfrei, respektvoll und nie voyeuristisch. Zunächst war es nur eine Ausstellung, jetzt sind die sensiblen Porträts auch als Buch erschienen.

Faghira heißt nicht wirklich Faghira. Es stimmt aber, dass sie aus Bulgarien kommt, dass sie erst seit zwei Jahren in Hamburg ist, und dass sie nicht nur in einem Stundenhotel arbeitet, sondern auch dort wohnt. Sie hat keine Papiere, denn dazu braucht sie eine Adresse, eine Wohnung. Dafür aber hat sie kein Geld, denn das wenige, das sie verdient, gibt sie für Verpflegung und ihr Zimmer aus. 40 Euro kostet das pro Tag. „Ich finde diese Arbeit nicht gut, aber ich weiß keine andere“, sagt sie.

Tanja Birkner hat ihr Gesicht von der Seite fotografiert. Hinter den langen dunklen Haaren lassen sich Mund und Nase erahnen, in der Hand hält Faghira eine Zigarette. Zwei Seiten weiter steht sie auf einer hölzernen Hängebrücke eines leeren Kinderspielplatzes, dem Betrachter hat sie den Rücken zugewandt. Das nächste Foto zeigt Faghiras Arbeitsplatz: Ein karges Zimmer, ein quadratisches Bett mit rosa Laken, darüber ein kleineres, weißes Laken, darauf ein rosa Handtuch. Am Kopfende ein aufgestelltes, weiß bezogenes Kissen, am Fußende eine Schachtel mit Taschentüchern. Links und rechts ein Nachttisch.

„Ich wusste, alles ist besser als zu Hause“

In „Halbe Stunde“ kommen die Porträtierten selbst zu Wort. Es ist nicht Tanja Birkner, die über sie schreibt, sondern die Menschen erzählen in der Ich-Form von ihrem Leben, ihrer Arbeit, ihren Wünschen und Ängsten sowie von ihrem Blick auf die Welt. So lernt man auch Mariam kennen, die beschreibt, wie sie mit 15 Jahren nach St. Georg gekommen ist, geflüchtet aus einer Familie, in der beide Elternteile schwere Alkoholiker waren. „Ich wusste, alles ist besser als zu Hause. Ich bin dann direkt in die Szene.“ Sie nimmt Drogen, ihr Leben klettert auf und ab, sie infiziert sich mit HIV.

Um sie herum hat sich die Prostitution verändert. Der Hamburger Senat erklärte St. Georg im Jahr 1980 zum Sperrbezirk. Straßenprostitution ist dort nicht mehr erlaubt. Wer dennoch von der Polizei erwischt wird, muss heute mit Bußgeldern von mindestens 200 Euro rechnen. Seit 2012 gilt ein zusätzliches Kontaktverbot. Seitdem kann die Polizei auch die Freier empfindlich bestrafen. Die Folge: Viele bleiben weg, die Preise sinken, das Arbeitsumfeld für die Prostituierten wird schwieriger und gefährlicher. Derweil wandelt sich auch der Stadtteil, der Hansaplatz wird renoviert, immer mehr neue Wohnungen entstehen. Mariam sagt: „Die Stundenhotels sind in Wohnungen umgewandelt worden, und die neu Hinzugezogenen rümpfen die Nase über uns.“

In ihrer Freizeit geht Mariam gerne ins Gewächshaus im Park Planten und Blomen, sie liest dort oder spielt mit ihrem Gameboy. „Im Gewächshaus gibt es eine Agave, die wächst aus dem Dach. Sie ist jetzt vierzig Jahre alt, wird diesen Sommer blühen und dann sterben“, erzählt sie. Mariam ist nicht mehr Vierzig geworden. Birkner notiert am Ende des Porträts: „Mariam starb im Januar 2015 an den Folgen ihrer Erkrankung.“

Veröffentlichung im Sinne der Beteiligten

Alle Porträtierten haben ihre Texte gegengelesen und konnten sie auch noch ändern, bevor sie veröffentlicht wurden. Auch bei den Fotos gab es ein Mitspracherecht. „So konnte ich sicher sein, dass die Veröffentlichung im Sinne der Beteiligten und der Idee des Projektes ist“, erklärt Tanja Birkner auf Anfrage von Seitengang. Voraussetzung für die Auswahl der porträtierten Menschen sei zunächst ein erstes Gespräch gewesen, in dem über die Idee, Zweifel und die Tragweite des Projektes gesprochen worden sei. „Dafür brauchte es dann manchmal auch die Unterstützung von Sozialpädagogen oder Dolmetschern.“

„Halbe Stunde“ ist konzeptionell hervorragend gestaltet. Auffällig ist zunächst der nur leicht durchsichtige Schutzumschlag, der die Farben des darunter liegenden Fotos abschwächt und ins Diffuse stellt. Wer den Band dann öffnet und zum ersten Porträt blättert, entdeckt auf der rechten Seite ein erstes Foto, auf der linken Seite nur den Namen, das Alter und ein Zitat. Darunter verweist eine Seitenzahl auf das Gesagte, das sich stets im hinteren Teil des Buches finden lässt. So gerät man unweigerlich in andere Fotos und andere Porträts, bevor man schließlich das Gesuchte liest. Von dort zeigt ein weiterer Seitenhinweis an, von welcher vorderen Seite man denn nun gekommen ist. Oder auf welcher Seite die Fotos zum Gesagten stecken, falls man sich vorher von anderen Worten hat ablenken lassen.

Man sollte sich, wie für einen Galeriebesuch, Zeit nehmen. Denn der Leser hält nicht nur eine beeindruckende Fotoausstellung in den Händen, sondern vor allem 16 Lebensgeschichten. Darunter sind zum einen die Zeugnisse der Frauen und Männer aus der Armutsprostitution, aber auch Tamara, Inhaber des Gay-Clubs „La Strada“, stellt seine Sicht dar. Oder der 23-jährige Jan, der als Escort arbeitet. Oder auch die selbstbewusste Domina Undine de Rivière, die das Prostitutionsgesetz zum Thema macht. Hier verändert sich auch die Wortwahl. Statt des Begriffs „Prostituierte“, der sich für manch einen so gut in Schubladen stecken lässt, sagt sie „Sexarbeiterinnnen“ und „Sexarbeiter“: „Wir wollen, dass unsere Arbeit anerkannt wird, was sie offiziell leider immer noch nicht ist.“ Nach wie vor fehle es an der gesellschaftlichen und politischen Anerkennung, stattdessen würden „verschiedene Seiten das Ganze am liebsten kriminalisieren“.

Intensive Auseinandersetzung

Wie sieht Tanja Birkner selbst inzwischen die Prostitution, vor allem die Armutsprostitution? „Durch die intensive Auseinandersetzung ist mir die Komplexität des Themas bewusst geworden“, erklärt sie gegenüber Seitengang. „Deshalb war es mir wichtig, möglichst viele unterschiedliche Facetten von Prostitution zu zeigen, wie zum Beispiel männliche und weibliche Prostitution, selbstbewusste Prostitution und auch Armutsprostitution, ohne zu bewerten oder zu stigmatisieren.“

Dass die Arbeit an der Porträtserie mitunter sehr schwierig war, es auch Einbrüche und Hindernisse gab, verhehlt sie nicht: „Es gab viele Momente, in denen ich kurz davor stand, das Projekt abzubrechen, weil es sich schwierig gestaltete – auch auf Grund des Kontaktverbots in St. Georg, das durch eine hohe Polizeipräsenz im Stadtteil durchgesetzt wird.“ Das sei keine gute Voraussetzung gewesen, Menschen dazu zu bewegen, über ihre Arbeit als Prostituierte zu erzählen und sich porträtieren zu lassen. „Einige der Menschen habe ich über den gesamten Zeitraum hinweg ein Stück weit begleitet und sie mich.“ Manche habe sie am Anfang getroffen, dann wieder aus den Augen verloren und nach zwei Jahren wieder getroffen. Andere seien am Anfang unsicher gewesen und hätten Zweifel gehabt, ob sie sich am Projekt beteiligen wollen. „Im Laufe der Zeit gab es die Möglichkeit, immer wieder in Kontakt zu kommen und über Unsicherheiten zu sprechen – so hat sich die Idee immer weiterentwickelt und auch die Beziehungen selbst“, erzählt sie.

Gestoßen ist sie auf das Thema schon deshalb, weil die Prostitution in Hamburg so sichtbar sei und mitunter sogar als Werbung für die Toleranz und Freizügigkeit der Stadt diene. „Aber Klischees und Mythen erschweren einen vorurteilsfreien Blick auf die Menschen, die sich prostituieren“, sagt Birkner. „Es gibt wenig Bilder, die von den Menschen selbst erzählen und die die Vielschichtigkeit des Themas beleuchten. Im Rahmen meines Projekts ging es mir genau um diese Vielschichtigkeit.“

Faible für Porträtserien

Tanja Birkner hat ein Faible für Porträtserien. Zuletzt hat sie sich im Projekt „Kleine Freiheit“ mit der Parallelstraße der Großen Freiheit in Hamburg beschäftigt und die Betreiber von alten Handwerksbetrieben und neuen Kreativschuppen porträtiert. Davor zeigte sie in „Xpac“ junge Flüchtlinge, die im Hamburger Stadtteil Billstedt leben, einem sozialen Brennpunkt der Stadt. Und 2004 fotografierte sie junge Frauen aus unterschiedlichen Kulturen mit und ohne Kopftuch. Dazu schreibt sie auf ihrer Webseite: „Die Portraits geben keinen eindeutigen Aufschluss über persönliche und kulturelle Hintergründe der Frauen. Dies soll so sein, um eine möglichst große Vielfalt an Bedeutungen – fern von Festlegungen – sichtbar zu machen.“

Eine möglichst große Vielfalt an Bedeutungen, die zeigt Birkner auch in „Halbe Stunde“. Fernab aller Klischees und Vorverurteilungen, stattdessen behutsam und mit Respekt. Ein Glossar klärt zudem über die wichtigsten Begriffe, Orte und Bars auf, die in den Texten erwähnt werden. Das ist hervorragend gemacht! Die Ausstellung ist weiterhin buchbar, und ihr ist zu wünschen, dass auch andere Galerien noch darauf aufmerksam werden und bereit sind, das Projekt zu zeigen.

Tanja Birkner: Halbe Stunde, Sieveking-Verlag, München, 2015, 160 Seiten, 75 Abbildungen, broschiert mit Schutzumschlag, 35 Euro, ISBN 978-3944874289, Sichtprobe, Webseite der Fotografin, Video-Trailer zum Fotoprojekt

Seitengang dankt dem Sieveking-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Zeichnung des Künstlers als junger Mann

VenustransitBen Rama ist wirklich nicht zu beneiden: Er arbeitet in einem öden IT-Job und ist damit sehr unglücklich. Seine Freundin wiederum ist unglücklich mit ihm, genervt von seiner stetig trüben Laune und seiner Antriebslosigkeit. Und eigentlich will Ben nur eines: Zeichnen und als Künstler wahrgenommen werden. In „Venustransit“ erzählt der Deutsch-Iraner Hamed Eshrat die anrührende wie mitreißende Geschichte des jungen Berliners Ben, mit viel Drive, Lokalkolorit und feinem Gespür für Kleinigkeiten, die keine Nebensächlichkeiten sind.

Wir befinden uns in Berlin-Kreuzberg, einer der angesagten Kieze. Ben ist ein grauer Mäuserich, der untergeht in der Masse der Kreativen und Hippen auf den Straßen in der Hauptstadt. Er schwelgt und träumt von seiner Zukunft als Zeichner, und weiß dennoch nicht so recht, wie er das eigentlich anfangen soll. Seine Freundin Julia hängt nicht mehr an seinen Lippen, sondern an denen eines Freundes, zunächst nur metaphorisch, später auch real. Denn sie hat genug von Ben, wie er durchs Leben tapert, lethargisch, verbittert gar, und dabei nur nach Aufforderung in der Lage ist, Pfandflaschen wegzubringen.

„Ich kann’s nicht mehr hören, Glück, Glück, Glück! Weiß doch keiner mehr, was das ist“, sagt Ben an einer Stelle. Nein, was Glück ist, das weiß auch Ben nicht. Das muss er suchen und erfahren. Und was so pathetisch und abgedroschen klingt, das gelingt in „Venustransit“ so überragend anders. Seine Freundin Julia trennt sich von Ben, und natürlich folgt auch eine Phase des Herzschmerzes. Er selbst sieht sich in der Rolle des Sisyphos, einer immer wiederkehrenden Szene in seinen Zeichnungen. Eshrat spielt mit den Klischees einer solchen Story, kann den Leser aber dann immer wieder neu überraschen.

Bens Travelerbook als Faksimile

Faszinierend in diesem Zusammenhang ist etwa Bens Reise nach Indien. Die nimmt einen Extrateil des Buches ein, der sich auch zeichnerisch vom Rest abhebt. „Interludium – Die Reise“ ist dieses Kapitel überschrieben. Darin findet sich Bens Travelerbook als Faksimile mit Bordkarten, Visitenkarten von Hotels und Rechnungen von Restaurants, aber vor allem mit vielen Zeichnungen, Entwürfen, Skizzen, die Ben während seiner Reise angefertigt hat. Allein in diesem Teil kann man sich lange aufhalten, in Ruhe den Strichen folgen, seinen Gedanken nachhängen. Und wer genau hinschaut, erkennt auch hier, dass Bens Geschichte zum Teil autobiographisch sein muss.

Eshrat zeichnet nur mit Bleistift und Kohle. Was aber dessen Phantasie entspringt, ist so bunt, dass es dafür keine Farben braucht. Kraftvoll, kontrastreich, und manchmal ganz schön skurril und abstrakt – das ist sein Stil. Reich an Anspielungen ist „Venustransit“ zudem: Als Ben nach einer Nacht im Berghain von einem Käfer begrüßt wird, ist das eine deutliche Hommage an Franz Kafkas „Verwandlung“, aber es kommen auch Rainer Maria Rilke oder Walt Whitmann zu Wort (Kinogänger erkennen vielleicht eher ein Zitat aus dem „Club der toten Dichter“).

Das Berghain wiederum gehört natürlich zur Kategorie Lokalkolorit, wie auch Alis Späti, wo sich Ben mit seinen Freunden Beule und Tim trifft. Gentrifizierung und Bio-Läden, Neubaugebiete und der stetige Wandel der Stadt, das sind die Themen, die wie beiläufig eingestreut werden und dennoch einen zweiten Zugang zu dieser Großstadt-Graphic-Novel erlauben.

In Teheran geboren, in Bünde aufgewachsen

Hamed Eshrat, der 1979 in Teheran geboren wurde und 1986 mit seiner Familie nach Deutschland floh, wuchs in Bünde (Kreis Herford) auf. Nach dem Abitur studierte er Visuelle Kommunikation an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee sowie an der Massey-Universität in Wellington (Neuseeland). Heute arbeitet er als Designer, freischaffender Künstler und Autor in Berlin und hat damit den Traum verwirklicht, zu dem sein Held aus „Venustransit“ noch unterwegs ist.

In Eshrats erster Graphic Novel „Tipping Point – Téhéran 1979“ hat er die Geschichte seiner Familie während des politischen Umbruchs im Iran der 70er Jahre erzählt. Dieser Comic ist bislang leider nicht auf Deutsch erschienen, sondern nur in Frankreich bei Edition Sarbacane. Das Manuskript von „Venustransit“, Eshrats zweiter Graphic Novel, wurde 2015 unter die zehn Finalisten des Deutschen Comicbuch-Preises der Berthold-Leibinger-Stiftung gewählt.

Wer jetzt noch zweifelt, ist vielleicht nur noch mit Musik zu überzeugen: Viele Künstler haben in Berlin große Inspiration gefunden: David Bowie, Iggy Pop, Lou Reed oder Federico Aubele. Wer Musik liebt und Schallplatten nicht nur als Hype begreift, wird mit „Venustransit“ einen grandiosen Großstadt-Soundtrack lesen. Nur dass Eshrats Arm der Tonarm ist – und sein Bleistift die Nadel.

Hamed Eshrat: Venustransit, Avant-Verlag, Berlin, 2015, 255 Seiten, Klappenbroschur, 24,95 Euro, ISBN 978-3945034330, Leseprobe

Seitengang dankt dem Avant-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

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