Die Wiederentdeckung der Ricarda Huch

Der Fall DerugaVor 150 Jahren kam in Braunschweig die spätere Historikerin und Schriftstellerin Ricarda Huch zur Welt. Inzwischen sind ihre bedeutenden Werke ein wenig in Vergessenheit geraten. Der Insel Verlag hat jetzt ihren bekanntesten Kriminalroman wieder neu aufgelegt, den Huch selbst als „Schundgeschichte“ bezeichnet hatte. Sie habe ihn nur geschrieben, um Geld zu verdienen. Heute, mit rund 100 Jahren Abstand, liest sich der Roman jedoch als historisch feinsinniges Gesellschaftsbild mit thematisch aktueller Brisanz.

Der Arzt Sigismondo Enea Deruga reist von Prag nach München, um einem ihm zu Ohren gekommenen Verdacht nachzugehen, er selbst solle seine geschiedene Frau umgebracht haben. Dort erfährt er, dass das Gericht schon beschlossen hat, gegen ihn Mordanklage zu erheben, so dass es geradezu vorbildlich sei, dass er sich selbst stelle.

Seine Frau, Mingo Swieter, war Anfang Oktober verstorben und hatte ihn in ihrem Testament zum Alleinerben ihres Vermögens gemacht. Das rief die Baronin Truschkowitz, die schon mit der Finanzspritze fest gerechnet hatte, auf den Plan. Sie brachte das Gericht dazu, eine Exhumierung anzuordnen, nach der unglücklicherweise festgestellt wurde, dass Mingo Swieter nicht an ihrer Krebserkrankung gestorben war, sondern an einem furchtbaren Gift namens Curare.

Ein Alibi kann Deruga nicht vorweisen

Von Deruga weiß man, dass er in argen finanziellen Nöten steckt, am Vorabend des Todes seiner Exfrau eine Fahrkarte nach München gelöst hat und erst am übernächsten Tag nach Prag zurückgekehrt ist. Ein Alibi kann er nicht vorweisen. Hat er in der Zeit also seine ehemalige Frau umgebracht, damit er weiterhin seinem verschwenderischen Leben nachgehen kann?

Der Verdacht wiegt schwer, und Deruga macht es weder dem Gericht noch dem Leser leicht, Ansatzpunkte zu finden, die für ihn sprechen. Im Gegenteil: Er ist mürrisch, provozierend, spottet über das Gericht und wird oft ungeduldig und aufbrausend. Der Gerichtsverhandlung scheint er nur mit einem Ohr zu folgen, und auch sonst zeigt er kein besonderes Interesse daran, dass der Verdacht gegen ihn entkräftet wird. Spricht das am Ende dafür, dass der Richtige auf der Anklagebank sitzt?

Ricarda Huch beschreibt ihre Figuren mit vornehmer Zurückhaltung und erzählt mit dem feinsinnigen Gespür für Dialoge und Ironie. „Der Fall Deruga“ gerät so zu mehr als nur einem Kriminalstück, das überwiegend vor Gericht spielt. Es ist vor allem ein scharfsinniger Gesellschaftsroman aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Hier sind die hierarchischen Strukturen noch klar getrennt: Es gibt den Gerichtspräsidenten und den Angeklagten, die Baronesse und das Dienstmädchen, den Arzt und den Bettler. Aber das ist nur der gesellschaftliche Ausgangspunkt.

„Schwarzes Haar und Feueraugen“

Mit ungutem Gefühl vernimmt der Leser gleich zu Beginn die Stimmen des Publikums, die dem Angeklagten einen „italienischen Typus“ bescheinigen, und zwar den der „verschlagenen, heimtückischen, rachsüchtigen Welschen“. Eine andere Stimme raunt: „Ich dachte, er hätte schwarzes Haar und Feueraugen.“ Und dass es doch unmöglich sei, dass ein Mordverdächtiger auf freiem Fuße sei, „noch dazu einer, der so aussehe, als ob er zu jedem Verbrechen fähig wäre“. Das ist fein beobachtet und heutzutage bei Mordprozessen leider kaum anders.

Der Gerichtssaal ist die kleine Bühne dieses Falls. Der Leser sitzt nah am Geschehen. Fast ist der Luftzug beim Schließen der Aktendeckel zu spüren, so dicht schildert Huch den Prozess, das Auf und Ab der Zeugen, die vielen kleinen Begegnungen vor Gericht und die manchmal sogar philosophischen Betrachtungen danach. Der Leser ist nicht nur Zuschauer, er wird zum Geschworenen, dem die schillernde Persönlichkeit des Doktors von allen Seiten präsentiert wird. Fürsprecher allerdings gibt es nur wenige.

„Der Fall Deruga“ ist aber auch der Roman einer Scheidung und trägt dabei autobiographische Züge. Die Person des Deruga gilt als deutliches Porträt von Huchs erstem Ehemann, Ermanno Ceconi, mit dem sie seit 1898 acht Jahre verheiratet und bis an dessen Lebensende im Jahr 1927 verbunden war. Auch das beschreibt „Der Fall Deruga“ eindrucksvoll: Jene seltene und die Zeit überdauernde Harmonie zwischen zwei schon geschiedenen Ehepartnern.

Was ist die moralische Pflicht?

Damit verknüpft ist es letztlich auch die stets aktuelle Brisanz der Sterbehilfe, die das Buch selbst nach fast 100 Jahren immer noch lesenswert macht. Obgleich es damals ein wenig erwähntes Thema ist, macht Huch es zum zentralen Sujet ihres Romans und bietet dem Leser die rechtliche und moralische Betrachtung. Wie ist jemand zu bestrafen, der auf Verlangen tötet, dem aber keine eigennützige Motivation nachzuweisen ist? Was ist die moralische Pflicht, was bedeuten Begriffe wie Nächstenliebe und Menschlichkeit?

Es steckt also viel drin in diesem kleinen Büchlein, das nun glücklicherweise vom Insel Verlag wieder aufgelegt worden ist. Endlich!, möchte man rufen. Der Ruhm der Schriftstellerin Ricarda Huch ist ein wenig vergangen, ihre Schriften über die Geschichte des alten Deutschlands vergessen und vergriffen. Möge „Der Fall Deruga“ der Anfang eines umfassenden Wiederlesens sein.

Ricarda Huch: Der Fall Deruga, Insel Verlag, Berlin, 2014, 213 Seiten, Taschenbuch, 7,99 Euro, ISBN 978-3458360131, Leseprobe

Seitengang fährt zur Leipziger Buchmesse 2014

Druck„Seitengang – Ein Literatur-Blog“ fährt auch in diesem Jahr wieder zur Leipziger Buchmesse. Vom 13. bis 16. März 2014 berichtet Seitengang direkt aus Leipzig über Lesungen, Autoren und Verlage sowie natürlich auch über die Sputnik LitPop 2014.

Zu den besonderen Höhepunkten in diesem Frühjahr zählen die Auftritte berühmter Autoren wie Margaret Atwood, Simon Beckett, Margriet de Moor, Arne Dahl, Håkan Nesser, Ingrid Noll, Frank Schätzing oder Friedrich Ani. Leipzig bereitet aber auch erneut die Bühne für politische Autoren und Themen: Pankaj Mishra etwa, Publizist und Historiker aus Indien, bekommt in diesem Jahr den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.

Im Jahr 2006 ist der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch mit diesem Preis geehrt worden – derzeit demonstriert er auf dem Majdan-Platz in Kiew und reist im März nach Leipzig, um unter anderem über die politischen Entwicklungen seines Landes zu informieren.

Vorstellung der Neuerscheinungen des Frühjahrs

Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse ist neben der Vorstellung der Neuerscheinungen des Frühjahrs zum dritten Mal in Folge das Programm “tranzyt. Literatur aus Polen, der Ukraine und Belarus”. Dort präsentieren wie schon in den vergangenen beiden Jahren etablierte und aufstrebende Autoren aus Mittelosteuropa zum Teil noch unbekannte Literaturwelten. Eines der wichtigsten Themen wird dabei der Erste Weltkrieg sein. Polen, die Ukraine und Belarus waren wichtige Schauplätze des Krieges, der diese Länder mit all seinen Folgen heimsuchte.

Gastland der diesjährigen Buchmesse ist die Schweiz, die mit mehr als 80 Autorinnen und Autoren sowie vielen Aktionen nach Leipzig reist. Angekündigt haben sich unter anderem Milena Moser, Adolf Muschg, Peter Stamm und Martin Suter.

Außerdem wird am 13. März um 16 Uhr in der Glashalle der Messe der Preis der Leipziger Buchmesse für herausragende deutschsprachige Neuerscheinungen und Übersetzungen verliehen. Zum zehnten Mal ist das Rennen um den begehrten Preis eröffnet. Im Jubiläumsjahr reichten 136 Verlage insgesamt 410 Titel ein, die im Zeitraum bis zur Leipziger Buchmesse 2014 erscheinen werden. Unter der Leitung von Journalist und Literaturkritiker Hubert Winkels nominierte die siebenköpfige Jury jeweils fünf Autoren und Übersetzer in den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung.

Bis zum 6. März können Sie Ihren Favoriten in der Kategorie Belletristik wählen. Unter allen Teilnehmern wird ein Paket mit den nominierten Belletristiktiteln sowie Eintrittskarten zur Leipziger Buchmesse verlost.

Die drei Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse erfahren Sie am schnellsten, wenn Sie Seitengang bei Twitter folgen. Dort werden die Preisträger noch während der Preisvergabe bekannt gegeben, so schnell es möglich ist. Der ausführliche Text folgt dann selbstverständlich später hier im Blog.

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