Das „Golem“ ist eine Bar am Hamburger Fischmarkt, eine vorübergehende Heimstatt für all jene Individuen, die Getränke mit feinen Ingredienzien meist alkoholischer Natur zu schätzen wissen und darüberhinaus eigenwillige Mixturen unterschiedlichster Musikeinflüsse tanzbar finden. Das „Golem“ ist ein Geheimtipp für die Bonvivants und Hedonisten dieser Welt. Das könnte sich ändern. Denn jetzt ist „Das Ende der Enthaltsamkeit“ erschienen. Ein Buch übers Bars, Cocktails, Selbstermächtigung und die Schönheit des Niedergangs, wie es im Untertitel heißt. Ein „Golem“-Buch für die „Golem“-Fanatikerinnen und -Liebhaber und solche, die dazu veranlagt sind.
Wer das „Golem“ betritt, sofern er überhaupt den Eingang findet, könnte meinen, Nick Charles müsse einst zum Stammpublikum gehört haben, dermaßen gekonnt werden dort alkoholische Getränke zubereitet. Nick Charles, Hauptfigur der „Dünne Mann“-Filme aus den 30er Jahren, erklärt in einer Szene von „The Thin Man“ (1934) einem Barkeeper: „The important thing is the rhythm. Always have rhythm in your shaking. Now, a Manhattan you shake to fox-trot time, a Bronx to two-step time, a dry martini you always shake to waltz time.“ (Deutsche Fassung: „Das Allerwichtigste beim Mixen ist der Rhythmus. Auf den müssen Sie unbedingt achten. Ein Manhattan wird selbstverständlich im Fox-Rhythmus gemixt. Und ein Bronx im Two-Step-Rhythmus. Und ein Dry Martini im langsamen Walzertempo.“)
Das Mixen müsste Nick Charles den Barkeepern im „Golem“ nicht mehr beibringen – das beherrschen sie. Nein, Nick Charles würde an der Bar lehnen, einen Dry Martini nach dem anderen trinken und in einem mysteriösen schwarzen Büchlein blättern, das man ihm verschwiegen zugeschoben hat. Ein Leineneinband mit Goldprägung, innen dann und wann illustriert, ein goldenes Lesebändchen zwischen den feinen Seiten.
So wahnwitzig und abgedreht
Es ist ein lesenswertes Panoptikum des Hochprozentigen, das Anselm Lenz, Mitbegründer und Hausdichter des „Golem“, und Betreiber Alvaro Rodrigo Piña Otey auf 270 Seiten versammelt haben. 21 Autorinnen und Autoren, viele von ihnen Gäste der Bar, sorgen mit ihren Beiträgen für mehr oder minder gehaltvolle Unterhaltung, ja, sogar Belehrung. Manches steigt zu Kopf, anderes ist so wahnwitzig und abgedreht, dass es nur im Alkoholrausch zu Papier gebracht worden sein kann. Im Präludium geben die Herausgeber zu bedenken, dass das „Buch als virulente Klolektüre verstanden werden“ will, „im besten Falle noch als Vademecum für Fragen abgehobener und in Schönheit bruchgelandeter Saufkultur“.
Nicht zu ernst nehmen also? Vielleicht. Distanzierte Neugier scheint angebracht, um nicht verschreckt das Büchlein wieder schließen zu müssen. Erwarten Sie nichts, aber lassen Sie sich darauf ein. Laden Sie Freunde zu einem Abend der Alkoholgenüsse, bieten Sie Rauchwaren an und lassen Sie reihum Auszüge aus dem Buch vortragen. Es wird Wirkung zeigen. Ob Heinz Strunk Trinker gegen Abstinenzler antreten lässt, Thomas Ebermann darüber nachdenkt, was Herbert Marcuse Ihnen wohl mitzuteilen hätte, verkehrten tatsächlich Hedonisten im „Golem“, „Tocotronic“-Sänger Dirk von Lowtzow den Song-Text von „Ich will für dich nüchtern bleiben“ beisteuert, der gute Tino Hanekamp einen „Selbstversuch ohne Saufen“ macht, der Künstler und Philosoph Fahim Amir sich dem Thema „Tiere und Alkohol“ widmet oder der Theaterregisseur Nis-Momme Stockmann vom „Prisma-Katapult (Lord der Einhörner)“ erzählt, lassen Sie sich bloß darauf ein!
Lassen Sie sich auch darauf ein, weil sie am Ende von sieben Zirkeln mit einem Appendix belohnt werden, der Ihnen nicht nur bei der Ausstattung und Einrichtung des heimischen Saufkabinetts behilflich sein will (sofern Sie über entsprechende Barmittel verfügen), sondern Sie auch in einige Cocktail-Rezepte des „Golem“ einweiht, die bisher argwöhnisch unter Verschluss gehalten worden sind. Den „Golem“-Fanatikerinnen und -Liebhabern sind die meisten der Rezept-Offenbarungen schon aus den Newslettern „Golem Cogitationes“ bekannt, die Anselm Lenz höchstselbst in regelmäßigen Abständen verfasst. Hier sind sie teilweise gekürzt, bearbeitet und erweitert worden, was sie nicht weniger erhellend macht.
„Was wären wir ohne den magischen Zaubertrank“
Ist das nun bedenklich, ein Buch zu empfehlen, das vom Alkohol handelt und die gepflegte Trinkkultur propagiert? Die Herausgeber versuchen im Präludium einen ersten Vorstoß: „Ist es nicht der Rausch, der kulturelle Höchstleistungen, allen Fortschritt und dazu die Liebe zuerst ermöglicht und bedingt? Was wären wir ohne den magischen Zaubertrank, der, zumindest für einen heidnischen Moment, geeignet ist, uns der rationalen Authentizität unserer beknackten, unbefriedigenden und letztlich doch auch immer nutzlosen Tätigkeit zu entheben?“ Ganz so einfach lassen sich Alkoholgegner aber wohl nicht überzeugen. Wie andere Genussmittel kann auch Alkohol zu einer Sucht führen.
Der Nutzen eines Buchs wie „Das Ende der Enthaltsamkeit“ lässt sich angesichts der Alkoholismusstatistiken nur schwer begründen. Allenfalls kann es dann noch als Kompendium herhalten, wozu Alkoholgenuss auch führen kann. Die Genießer recken das Büchlein in die Höhe und verweisen auf gepflegte Gespräche, philosophische Betrachtungen, die ohne den entfesselnden Geist des Hochprozentigen nicht gedacht worden wären. Aber fürwahr: Bei dem einen oder anderen Text wird sich der Leser fragen, ob der Autor nicht etwas zu tief ins Glas geschaut hat und ihm eine nüchterne Betrachtungsweise besser zu Gesicht gestanden hätte.
Es gibt keine Lösung. „Der Mensch ist frei“, schrieb Clemens Brentano. „Er kann sein Teil sich wählen.“ Dann wähle er: „Das Ende der Enthaltsamkeit“, das Lustwandeln und verschmitzte Lesevergnügen – oder eines der vielen anderen Bücher auf dem Markt.
Anselm Lenz / Alvaro Rodrigo Piña Otey (Hrsg.): Das Ende der Enthaltsamkeit, Verlag Lutz Schulenburg (Edition Nautilus), Hamburg, 2013, 270 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 19,90 Euro, ISBN 978-3894017743
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