Vom natürlichen Glück

Wer das Buch zum ersten Mal in den Händen hält oder den Titel sieht, hält es für einen Schreibfehler. Aber das Buch heißt wirklich so: „Mikroorgasmen überall“. Wortneuschöpfer dafür ist Dominik Eulberg. Der Mann mit dem Vogel im Namen, nicht im Kopf, ist Biologe und Naturschützer, und auch noch international bekannt und erfolgreich als DJ. Gerade erst hat er sein siebtes Album veröffentlicht („Avichrom“, ein Kunstwort, quasi „vogelfarben“) und die einzelnen Titel nach Vögeln benannt. Schwarzhalstaucher, Weißstorch, Gelbspötter.

Mit „Mikroorgasmen überall“ begeistert Eulberg seit dem vergangenen Jahr nicht nur Berufsbiolog*innen. Sein Buch über die „Raffinesse und Mannigfaltigkeit der Natur vor unserer Haustür“ wurde „Wissensbuch des Jahres“ und kam zur rechten Zeit, als sich wegen Pandemie und Lockdown immer mehr Menschen in die Natur begaben, zu Fuß oder auf dem Fahrrad.

Andere entdeckten durch ihre Homeoffice-Tage, was tagsüber und von ihnen bisher kaum beobachtet in ihren Gärten unterwegs ist oder auf den Balkonkästen landet und die sorgsam gepflanzten Blumen durcheinanderbringt.

Das komplexe Sexleben der fliegenden Minidrachen

Wer sich für das Getier und Gewusel um uns herum auch nur ein bisschen begeistert, kommt an diesem wunderbaren Buch nicht vorbei. Es gehört in Wanderrucksäcke, auf Fensterbänke mit Aussicht (bestenfalls ins Grüne), in die Gartenhütte sowie in die Hände von jungen Leser*innen, die der Natur auf der Spur sind. Fans von „Game of Thrones“ fangen am besten ganz hinten an und lesen das Kapitel „Fliegende Minidrachen“. Daenerys Targaryen hat hier nichts zu melden, dabei geht es um Drachen, die einst eine Flügelspannweite von bis zu 70 Zentimetern hatten, heute nur noch bis zu 19 Zentimetern, um ihre bunten Augen und ihr komplexes Sexleben.

Bleiben wir beim Thema: Andernorts lesen wir von „kuriosen Brutgeschäften“, vom „bunten Vögeln von Vögeln (FSK 18)“, von „drei Millionen Musketieren“ (und stellen Sie sich da mal das Prinzip „einer für alle“ vor!) und über einen „Baumbewohner für Zaubertränke und Liebesschwüre“. Diese Kapitelüberschriften machen neugierig und verraten fast nichts darüber, wem wir da gegenübertreten. „Spitzer – Leben am Limit“ etwa. Hätten Sie gewusst, dass es da um Spitzmäuse geht?

Eulberg beschreibt die kleinen flinken Wesen so liebevoll, dass man am liebsten gleich eine Stiftung für burnout-gefährdete Spitzmäuse ins Leben rufen würde, denn die possierlichen Insektenfresser sind immer unter Strom – oder, wie Eulberg schreibt, „so als hätten sie etwas zu viele Energydrinks konsumiert“. Alle zwei Stunden etwas fressen, um nicht zu verhungern, Nahrungssuche, Nahrungssuche, Nahrungssuche. Huch, zwei Stunden rum. Wieder fressen. Was für ein Leben! Und das Ende ist nah, denn auch das erklärt Eulberg: Spitzmäuse können sich im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode erschrecken.

Eulberg beschreibt die Welt voller Warmherzigkeit

Wo es in der Jugendsprache der 1990er ganz salopp „affengeil“ hieß, heißt es bei Eulberg heute „bibergeil“. Im „Bat Kingdom“ erklärt er, warum Fledermäuse keine Kopfschmerzen bekommen, wenn sie auf dem Kopf hängen. Und recht weit am Schluss räumt er mit dem Bambi-Irrtum auf und dass ein Reh nicht die Frau eines Hirsches ist: „Walt Disney ist schuld.“ In 56 Kapiteln, die meist nicht länger sind als drei bis fünf Seiten, streift Eulberg mit uns einmal durch die Fauna unserer Natur. Er beschreibt die Welt dort draußen voller Liebe und Warmherzigkeit, stets anschaulich und eloquent, aber ohne erhobenen „Kinder, das müsst Ihr wissen“-Zeigefinger. Dabei hätte man sich in der Schule manchmal einen Lehrer wie Eulberg im Naturkundeunterricht gewünscht.

Für ihn, schreibt er in der Einleitung, seien die „Natursensibilisierung und der Schutz unserer heimischen Biodiversität“ seit Kindheitstagen seine Mission, „der tiefste und mich ganzheitlich erfüllendste Sinn meines Lebens“. Das merkt man seinem Buch in jeder Zeile, in jedem Absatz, in jedem Kapitel an. Sein Ziel ist es, Menschen auch außerhalb der „Ökoblase“ zu erreichen, „denn die Dinge ändern sich nur, wenn sie entweder wehtun (Fukushima und Atomausstieg) oder mehrheitsfähig sind“.

Der Vater nimmt ihn früh mit in die Natur

In der Einleitung erklärt Eulberg, wie aus dem kleinen Jungen ein großer Naturliebhaber wird. Aufgewachsen im Westerwald mit einem Vater, der ebenfalls ein großer Naturliebhaber ist und ihn schon früh mit in die Natur nahm, träumt er von bunten Schmetterlingen und gedenkt der ersten Begegnung mit einem Eisvogel auf einer Bachwanderung. Und wie er so schreibt und erzählt, meint man als Leser*in den Bach rauschen und das Rotkehlchen singen zu hören, den Rotmilan am Himmel schweben und den kleinen Dominik Eulberg staunen zu sehen. Vielleicht schwebt er auch ein wenig über dem Erdboden, weil er so voll des Glücks ist. Und so lässt sich auch der Titel erklären: In der Natur zu sein, das bedeutet, unzählige Male überall das kleine Glück zu spüren. Eben „Mikroorgasmen überall“.

Eulberg sagt: „Wir schützen nur das, was wir auch schätzen, was wir lieben.“ Schätzen können wir die Dinge aber erst, wenn wir wissen, dass sie da sind. Dominik Eulberg hat mit seinem Buch einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass wir nicht nur mit offenen Augen durch die Welt gehen, sondern auch in Kleinigkeiten Wissenswertes erkennen. Dazu: Die Umschlagsgestaltung und die Innenillustrationen sind wahre Augenschmeichler und Herzöffner. Es ist eine faszinierende Pracht. Nutzen wir sie doch, um die Natur zu schützen!

Dominik Eulberg: Mikroorgasmen überall, Eichborn-Verlag, Köln, 2021, 350 Seiten, gebunden, 25 Euro, ISBN 978-3847900658, Leseprobe

Seitengang dankt dem Eichborn-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Es gibt Schlimmeres im Leben als Drachen

Der zwölfjährige Gustave hat’s nun wirklich nicht leicht: Erst zerstört ein Siamesischer Zwillingstornado sein Schiff und saugt seine Mannschaft in den Himmel, da trifft er auch schon auf den Tod und dessen etwas anstrengende Schwester Dementia. Der Tod ist nicht zimperlich und stellt dem lebenswilligen Gustave sechs Aufgaben. Verliert er, gehört seine Seele dem Tod. Es beginnt eine wilde Reise durch die Nacht.

Der gleichnamige Roman des „Käpt’n Blaubär“-Schöpfers Walter Moers ist ein Ausbund an Phantasie, Humor und Andeutungen an die Weltliteratur. Es ist ein Kinderbuch und ein Buch für den belesenen erwachsenen Leser. Dem Kind wird es herzlich egal sein, wie das sprechende Pferd heißt, auf dem Gustave manche Abenteuer erlebt – es hat genug Witz für das eine oder andere Kinderkichern. Der erwachsene und belesene Leser aber freut sich, dass das Pferd Pancho Sansa heißt und erkennt eine Anspielung auf Don Quijote. Doch der besondere Kniff des Buches ist: Es ist nicht von Moers selbst illustriert worden, sondern von Gustave Doré, ohne dass der davon je erfahren hätte.

Gustave Doré war ein bekannter Maler und Grafiker des 19. Jahrhunderts, der sich vor allem durch seine Illustrationen zu Cervantes‘ Don Quijote, Dantes Göttlicher Komödie und der Bibel einen Namen gemacht hat. Schon als Schüler wurde seinen große Begabung offenbar – mit neun Jahren begann er seine Zeichnungen an Dantes Göttlicher Komödie, mit 15 Jahren verdiente er sein erstes Geld mit seinen Illustrationen. Fast 120 Jahre nach seinem Tod zieren seine Xylografien nun das Werk „Wilde Reise durch die Nacht“ von Walter Moers. Der hat die Holzschnitte aus verschiedenen Werken entliehen und daran entlang seine skurrile Geschichte erzählt.

Sechs Aufgaben muss der junge Held in einer Nacht bestehen. Dabei klingt eine schlimmer als die andere: Eine Jungfrau aus den Klauen eines Drachen befreien, möglichst auffällig durch einen Gespensterwald reiten oder gar dem schrecklichsten aller Ungeheuer einen Zahn ziehen. Das scheint gar furchtbar zu sein, aber Moers ist bekannt dafür, dass er die Erwartungen seiner Leser auf den Kopf stellt. Und so muss Gustave schon im ersten Abenteuer erkennen, dass es weitaus Schlimmeres im Leben gibt, als einem Drachen zu begegnen. Der Liebe etwa.

Es weht eine Luft von alten Abenteuerbüchern durch den Roman. Das fühlt sich ganz und gar großartig an, würdigt aber als Taschenbuchausgabe fast zu wenig die schaurigen Zeichnungen des Gustave Doré. Die gebundene Ausgabe jedoch ist vergriffen und derzeit nur antiquarisch erhältlich. Das ist schade, hätte dieser Roman von Walter Moers doch eine stets im Buchhandel verfügbare Prachtausgabe verdient.

Walter Moers: Wilde Reise durch die Nacht, Goldmann Verlag, München, 2003, 224 Seiten, Taschenbuch, 9 Euro, ISBN 978-3442452910;
gebunden (derzeit vergriffen): Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 2001, 208 Seiten, ISBN 978-3821808901

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