Der Laut der Stille

An einem Freitag, dem 13., gehen die Lichter aus. Für eine sehr lange Zeit kehrt in den Clubs, Diskotheken und Bars in Berlin die Ruhe ein. Denn an diesem Tag im März 2020 entscheidet der Senat, die Clubs zu schließen. Am 11. März spricht die WHO zum ersten Mal von einer Corona-Pandemie, und Angela Merkel macht die Bekämpfung zur Chef-Sache. Schulen und Kitas werden geschlossen, Donald Trump ruft in den USA den nationalen Notstand aus, Deutschlands Nachbarländer machen zunehmend die Grenzen dicht. Am 22. März geht Deutschland in den ersten Lockdown. Es bleibt nicht der letzte, aber für viele Branchen gibt es zwischendurch immerhin ein Aufatmen, eine Fahrt auf Sicht. Nicht so für die Betriebe, die im Verdacht stehen, körperliche Nähe und die Vermischung von Aerosolen zu begünstigen.

Der Journalist Timo Stein und die Fotografin Marie Staggat haben für ihr deutsch-englisches, großformatiges und schwergewichtiges Fotobuchprojekt „Hush – Berliner Clubkultur in Zeiten der Stille“ von April 2020 bis Januar 2021 insgesamt 42 Berliner Technoclubs besucht, „um festzuhalten, was in besonderem Maße bedroht ist und nach der Krise in dieser Vielfalt womöglich nicht mehr existieren wird“.

„Wir starteten mit dem Ziel, die oft vergessenen Gesichter dieser Krise sichtbar zu machen – die Barfrau, den DJ, den Toilettenmann oder Hausmeister“, schreiben die beiden in ihrem aufschlussreichen Prolog. So sollte es ihnen gelingen, die Geschichten dieser besonderen Orte in dieser außergewöhnlichen Zeit zu erzählen.

„Was für Paris der Eiffelturm, ist für Berlin der Technoclub“

Stein und Staggat konzentrierten sich auf die Berliner Techno- und Elektro-Clubs. „Denn: Was für Paris der Eiffelturm oder für Rom der Papst, ist für Berlin der Technoclub.“ Und so lesen wir im Inhaltsverzeichnis von all den Clubs, die Rang und Namen haben. Die „Fiese Remise“, der „Tresor Club“, das „Watergate“, das „Golden Gate“, der „Kit Kat Club“, die „Wilde Renate“, der „Klunkerkranich“.

Der Club „Crack Bellmer“ auf dem Gelände der alten Reichsbahnausbesserungswerkstatt in Berlin-Friedrichshain hatte 2.534 Tage ununterbrochen geöffnet, als die Pandemie der pausenlosen Freiheit ein Ende setzte. Clubbetreiber Matze registrierte das zunächst mit „einer gewissen Erleichterung“. Sein Club war jetzt dicht, er konnte wieder ausschlafen, sich Zeit nehmen für Frau und Kind. Er baut um, überlegt sich Alternativkonzepte und ist sich aber sicher: „Hier wird irgendwann wieder getanzt werden.“ Matze hat recht behalten. Heute ist der Club wieder geöffnet.

Auch LCavaliero Mann, künstlerischer Leiter im SchwulenZentrum, kurz: SchwuZ, hatte eine Gewissheit: „Das SchwuZ wird in irgendeiner Form weiter existieren. Selbst dann, wenn wir Insolvenz anmelden müssen und alles vor die Hunde geht.“ Zu dem Zeitpunkt, als Stein und Staggat ihn besuchen, weiß er aber auch: Die Gelder reichen nur noch bis November, und das auch nur, weil das Vorjahr einen Gewinn gebracht hat und die Community für den Erhalt des SchwuZ gespendet hat. Und was passiert, wenn die Krise länger dauert? Wenn der aufgenommene Kredit und die gestundete Miete zurückgezahlten werden müssen? Hinzu kommt das eigene Ohnmachtsgefühl: „Es fühlt sich an, als wäre nicht nur das SchwuZ ausgeschaltet, sondern als wäre ich ausgeschaltet.“ Inzwischen ist LCavaliero Mann wieder eingeschaltet, auch das SchwuZ ist wieder geöffnet.

„Sind in ein depressives Loch gefallen“

Stein und Staggat porträtieren auch die 37-jährige Alex von Hell. Sie ist Türsteherin im „Suicide Circus“ und erzählt, dass sich zwei Mitarbeiter des Clubs vier Wochen nach dem Lockdown das Leben nehmen. „Die hatten vorher schon schwierige Lebensumstände und sind in ein depressives Loch gefallen. Der Club war der letzte Halt für sie. Das hat mich richtig getroffen.“ Und: „Alle kämpfen gerade. Es geht an die Substanz. Und bei vielen um die Existenz.“

Ehrliche und deutliche Worte findet Uli Wombacher, Gründungsmitglied des weltbekannten Clubs „Watergate“ an der Grenze zwischen Kreuzberg und Friedrichshain. Ein Foto zeigt das 12 Meter lange LED-Laufband, unter dem normalerweise die Menschen mit Blick auf die Spree tanzen. Jetzt ist die Tanzfläche leer, der Raum erinnert an die Ladefläche eines Raumschiffs. Seit Monaten schläft Wombacher kaum mehr als vier Stunden. Ihm fehle die Sinnstiftung, weil er nicht mehr tun kann, was er eigentlich kann. Und wirtschaftlich trifft es ihn zudem.

„Unser Tod ist langfristig unsere Miete“

„Corona ist nicht unser Tod“, sagt er. „Unser Tod ist langfristig unsere Miete. Wir wurden halt irgendwann an den falschen Investor verkauft. Und der ist nicht bereit, uns entgegenzukommen, sondern verlangt 40.000 Euro im Monat.“ Und von der These, die Krise könne auch eine Chance sein, hält Wombacher gar nichts, das könnten nur Leute sagen, die nicht von der Krise betroffen sind. „Den möchte ich sehen, der sein Geschäft 20 Jahre aufbaut, dem unverschuldet durch ein Ereignis von außen alles genommen wird und dann sagt: Das ist jetzt aber auch eine Chance.“

Ein wenig anders sehen kann das Sascha Disselkamp. Der Mann, der in der 80er Jahren nach einer Klassenfahrt nach Berlin das Gymnasium abbricht, das ostwestfälische Rheda-Wiedenbrück verlässt, in die Großstadt Berlin zieht, dort in ein besetztes Haus einzieht und 1986 einen Punkrock-Club aufmacht, ist heute der Kopf des sogenannten Sage-Imperiums. Er betreibt Clubs, Restaurants und eine Strandbar.

Disselkamp hält beide Lockdowns für angemessen, es sei ja kein willkürlicher Akt gewesen. Mit dem ersten Virusfall in Deutschland hätten sie gewusst, dass es den Clubs an den Kragen geht. Disselkamp sagt aber auch: „Ich fand den Lockdown auch irgendwo reizvoll, eine inspirierende Phase“. Das kann aber ein Gastronom mit vielfältigeren Outdoor-Möglichkeiten leichter von sich sagen als ein Clubbetreiber, dessen Veranstaltungsfläche sich nur in Innenräumen befindet.

Wie klingt der Corona-Sound?

„Du wirst sie hören, die Krise, da bin ich mir sicher“, sagt Ralf Kurzhals über den Corona-Sound. Er ist Licht- und Tontechniker im Club „Weekend“, rund 60 Meter über Berlin im zweithöchsten Hochhaus am Alexanderplatz. „Die Produktionen, die während der Krise entstehen, wirst du in zehn Jahren noch immer an der besonderen Stimmung erkennen. Sie werden wieder härter, auch politischer, düsterer, die Ängste und Sorgen werden hörbar.“

Marius Grabow, zuständig für das Event- und Konzertbooking im Elektroclub „Burg Schnabel“ in Kreuzberg, hat schon die perfekte Platte für die erste Party nach Corona gefunden: „Wann strahlst du“ von Jacques Palminger & Erobique aus dem Album „Songs for Joy“. Darin heißt es zu Beginn: „Ich liebe die Träumer, die Aufbruchsgeister, die überall Samen erkennen, die Fehlschläge nicht zu ernst nehmen, und immer das Gute benennen. Nicht die, die die Zukunft auswendig kennen, Begeisterung als Naivität anschauen und dir ihre altbekannten Ängste als Ratschläge verpackt um die Ohren hauen.“ Und im Refrain: „Ich schulde dem Leben das Leuchten in meinen Augen. Wann strahlst du?“

Eindrückliche Fotos entwickeln eigene Faszination

Es sind nicht nur die sehr nahe gehenden Texte mit den Porträtierten, die teilweise verzweifelt sind und nicht wissen, ob ihr geliebter Club in einem Jahr noch besteht. Es sind auch die eindrücklichen Fotos von Marie Staggat, die eine eigene Faszination entwickeln. Die Bilder von leeren Tanzstätten sind bedrückend, fast meint man, die Stille riechen zu können in dem oft kalten Putzlicht der Tanzstätten. Die Menschen auf den Fotos schauen ernst, weil sie alle in einer ernsten Lage sind. Auch diejenigen, die Hoffnung haben, die glauben, es werde alles wieder gut.

Staggat hat mit 21 Jahren selbst angefangen, im „Tresor Club“ die „Tür zu machen“, also als Türsteherin zu arbeiten. Sie fotografierte viele namhafte nationale und internationale DJs, ihre Fotos illustrieren Platten- und Magazincover. Im Jahr 2016 veröffentlichte sie einen Fotoband über die elektronische Musikszene Detroits. Stein arbeitet für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften.

Einziges Manko: Den Texten in diesem Buch hätte eine gründliche Redigatur gut getan. Damit hätten auffällige Komma- und Rechtschreibfehler behoben werden können. Das ist aber nicht dem Autoren oder gar der Fotografin anzukreiden.

Das Buchprojekt „Hush“ ist bereits 2021 erschienen und hat bis heute nichts von seiner Bedeutung eingebüßt. Auch wenn die Pandemie nun zu einer Epidemie herabgestuft wurde, ist sie in unserem kollektiven Gedächtnis verankert. „Hush“ ist ein wichtiges Zeugnis der Pandemie-Geschichte, das nicht nur für Berlin, sondern für jede Clubkultur in Deutschland, in Europa und auf der ganzen Welt gilt.

Marie Staggat / Timo Stein: Hush – Berliner Clubkultur in Zeiten der Stille (dt./engl.), Parthas-Verlag, Berlin, 2021, 368 Seiten, 179 Abbildungen, Paperback, 30 Euro (der Erlös des Buches kommt zu 100 % den Berliner Clubs zugute), ISBN 978-3869641287

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