Als Nia in der Diskothek des „Diabetic Hotels“ einen jungen Typen mit John-Travolta-Frisur kennenlernt, der nur unter dem Namen Wolfboy bekannt ist, beginnt die wohl schrägste Nacht ihres Lebens. Denn Wolfboy kommt aus dem Stadtviertel Shyness, wo die Sonne niemals aufgeht. Dort herrscht stets völlige Dunkelheit, und in den Straßen sind allerlei zwielichtige Gestalten unterwegs. „Die Nacht von Shyness“ – nicht nur für Jugendliche ein ganz und gar ungewöhnliches Buch, das unbedingt nachts gelesen werden sollte.
Nia nennt sich fortan Wildgirl und lässt sich von Wolfboy durch die Nacht von Shyness führen. Sie betreten exklusive Clubs, essen Döner bei einer Wahrsagerin, die die Zukunft aus dem Verlauf der Adern voraussagt, und werden schließlich von einer Gang der zuckersüchtigen „Kidds“ überfallen. Die kleinen radelnden Ganoven stehlen Wolfboy das Feuerzeug seines Bruders, das ihm als einzige Erinnerung geblieben war. Klar: Das gute Stück muss wieder her. Und so ist es das mutige und nicht auf den Mund gefallene Wildgirl, das Wolfboy davon überzeugt, dass sie beide in die Festung der „Kidds“ einbrechen müssen, um seine Erinnerung an den Bruder zurückzuholen.
Die Geschichte klingt flach und unbedeutend und ist doch in ihrer Ausgefallenheit so verrückt wie anrührend und überzeugend. Es gilt, den Kopf frei zu machen und sich auf die Welt von Shyness einzulassen. Dystopien haben in Büchern derzeit Hochkonjunktur, aber hier ist eine besonders gelungene angelegt: Ein Stadtviertel, in dem seit fast drei Jahren die Sonne nicht mehr scheint, während in anderen Vierteln alles seinen gewöhnlichen Gang geht, zuckersüchtigte Kinderbanden, die von kleinen Affenhorden begleitet werden, sowie ein Psychiater, der offenbar einen rätselhaften Plan verfolgt – und niemand weiß den Grund für die plötzliche Dunkelheit.
Es strotzt vor Phantasie
Wolfboy – der Name erinnert unweigerlich an Bücher, in denen Wölfe oder Werwölfe ihr Unwesen treiben, doch in einem Interview, das dem Roman beigefügt ist, erklärt die australische Autorin Leanne Hall: „Die Namen Wolfboy und Wildgirl habe ich bei einer Recherche über den schwedischen Botaniker Carl von Linné, der im 18. Jahrhundert gelebt hat, entdeckt. In seinem Buch „Systema naturae“ hat er Gedanken zu einer Rasse namens Monstrosus notiert, unter ihnen Wolfboys und Wildgirls.“ Beide Charaktere sind allerdings kaum monströs, wenn man davon absieht, dass Wolfboy ab und zu ein Heuler entfleucht. Wer jetzt denkt: „Das ist doch Fantasy – nichts für mich“, dem sei anempfohlen, das Buch trotzdem zur Hand zu nehmen, denn es wäre zu einfach, „Shyness“ in die Fantasy-Schublade zu stecken. „Shyness“ ist kein Fantasy-Buch, und doch strotzt es vor Phantasie.
Aber nicht nur der Autorin ist ein Lob für ihr ungewöhnliches Buch auszusprechen, sondern auch dem Aufbau-Verlag, der sich bei der Umschlaggestaltung wirklich Gedanken gemacht hat. Denn sobald das Licht erloschen ist und das Buch in schwarzer Nacht liegt, leuchtet die weiße Farbe auf dem Buchdeckel, der Mond, die Häuser, die Wolken – das ist wirklich gut durchdacht. Und für den Fall, dass der Leser des Nachts aufwacht, völlig gefesselt von einem Gedanken, so ist dem Werk ein „Notizheft für Nachtgedanken“ beigefügt. Wenn nur mehr Verlage so liebevolle Mühe auf die Edition einiger Bücher verwenden würden!
„Die Nacht von Shyness“ wird fortgesetzt. Auf Englisch ist der zweite Teil namens „Queen of the Night“ bereits seit dem 27. Februar 2012 erhältlich, ein Erscheinungsdatum für die deutsche Ausgabe ist nicht bekannt. Sie wird aber von den Lesern der „Nacht von Shyness“ sehnlichst erwartet werden, denn einige Geheimnisse sind noch längst nicht gelöst. Bis dahin: Schlafen Sie gut!
Leanne Hall: Die Nacht von Shyness, Aufbau Verlag, Berlin, 2012, 280 Seiten, gebunden, 16,99 Euro, ISBN 978-3351041540