Die österreichische Tageszeitung Kurier kündigte nichts Geringeres an, als dass Michal Hvorecky „die Zukunft“ vorstelle. Am vergangenen Donnerstagabend war mit ihm einer der wohl bekanntesten und erfolgreichsten Schriftsteller der Slowakei anlässlich der „Buch Wien“ zu Gast im Literaturhaus Wien. Im Gepäck hatte Hvorecky seinen neuen Roman „Troll“, der im November im Tropen-Verlag erschienen ist.
Darin entwickelt der Autor eine düstere Science-Fiction-Geschichte über ein Heer von Internet-Trollen, das die Online-Kommentarspalten und die sozialen Medien mit Hass flutet, die Massen beeinflusst und die öffentlichte Meinung in die gewünschte Richtung lenkt. Was bedeutet noch die eigene Meinung, wenn Trolle von allen Seiten mit Hass feuern? Die EU ist in Hvoreckys Szenario zerschlagen, im Osten beherrscht eine Diktatur das sogenannte „Reich“. Zwei Freunde entwickeln jedoch immer stärkere Zweifel und beschließen, das System von innen heraus zu stören. Dabei geraten sie selbst in die Unkontrollierbarkeit der Netzwelt – und an die Grenzen ihres gegenseitigen Vertrauens.
„Ich beschäftige mich seit Jahren mit dem Hass im Netz“, erklärt Hvorecky in Wien. Die neuen Trolle haben mit den alten mythischen Figuren nicht mehr viel gemein. „Sie kennen keine Grenzen, sie wollen die Gesellschaft spalten und sind ziemlich real.“ 2015 habe er angefangen, das Buch zu schreiben, aber mit der Zeit sei seine Fiktion Realität geworden. Spätestens mit dem Mord an dem slowakischen Investigativjournalisten Ján Kuciak und dessen Freundin im Februar 2018.
„Dreckige, antislowakische Prostituierte“
Kuciak hatte versucht nachzuweisen, dass höchste Regierungsbeamte mit der italienischen Mafia zusammenarbeiten und hatte immer wieder kritisch über Oligarchen geschrieben. Der damalige Premierminister Robert Fico betitelte Kuciak und dessen unbequeme Journalistenkollegen daraufhin als „dreckige, antislowakische Prostituierte“ oder „schleimige Schlangen“. Wenig später war Kuciak tot – erschossen.
Ganze Trollfabriken betreiben mittlerweile professionelle Propaganda für ihre Auftraggeber. „Falsche Kommentare wie ‚Clooney hat sich entschieden, für Trump zu wählen‘ kommen leider bei Menschen gut an – ob sie stimmen oder nicht“, erklärt der Autor. „Trolle wollen die Menschen verwirren und verachten die Freiheit.“
Er selbst sei schon oft Opfer des Trollings geworden: „Die kommen zu meinen Veranstaltungen, machen grässliche Fotos von mir, die sie im Internet verbreiten, und gleichzeitig legen sie mir Sätze in den Mund, die ich nie gesagt habe.“ So unterstelle man ihm etwa , dass er sich islamistische Angriffe wünsche oder dass alle Menschen homosexuell werden. „Es dauert leider länger, eine Wahrheit zu beweisen, als eine Lüge zu verbreiten.“
Engagiert sich für die Pressefreiheit
Wie Kuciak, mit dem er befreundet war, ist auch Hvorecky Journalist. Er lebt in Bratislava und schreibt regelmäßig Beiträge für die FAZ, die Zeit und zahlreiche Zeitschriften. In seiner Heimat engagiert er sich für den Schutz der Pressefreiheit und gegen antidemokratische Entwicklungen.
Was die richtige Reaktion auf solche Digitalattacken sei, fragt ORF-Moderatorin Christa Eder. Ob es nicht besser sei, sich aus den sozialen Netzwerken ganz zurückzuziehen. „Nein“, antwortet Hvorecky entschieden, „das ist die falsche Richtung, stattdessen sollten wir die sozialen Netzwerke mit sinnvollen Inhalten füllen.“ Es wachse inzwischen eine Generation heran, die zur Information und Prägung ihrer Meinung nicht mehr die traditionellen Medien nutze, sondern Facebook & Co. Glauben schenken.
„Die sozialen Netzwerke haben unsere Zivilgesellschaft geschwächt“, ist sich Hvorecky sicher. Auf der anderen Seite aber hätten sich die Proteste in der Slowakei nach dem Mord an Kuciak vor allem über Facebook gebildet. Man dürfe die sozialen Netzwerke also nicht per se verteufeln. In jeder Generation müsse Demokratie neu gelernt werden, sagt Hvorecky: „Der Freiheitskampf ist nie beendet.“
Vertrauen in den Staat wiederherstellen
Im Fall der ermordeten Kuciak haben die Ermittlungen mittlerweile ergeben, dass ein Multimillionär und ehemaliger Nachbar des früheren Premierministers Fico möglicherweise den Auftrag gegeben hat, den Journalisten zu ermorden. Auch den hatte sich Kuciak zum Feind gemacht. „Ich will, dass die Täter verurteilt werden“, erklärt Hvorecky. Das sei wichtig, um das Vertrauen in den Staat wieder herzustellen. „Ansonsten bleibt der Eindruck, dass es Menschen gibt, die andere Rechte haben als ’normale‘ Menschen.“
Zum Ende der Lesung befasst sich Hvorecky mit der Eröffnungsrede der Philosophin Svenja Flaßpöhler und der von ihr aufgeworfenen Frage des richtigen Umgangs mit Rechts. Er habe die gekürzte Fassung in der SZ gelesen und stimme ihr zu. „Allerdings sind Diskussionen mit Menschen, die Diskussionen verachten, sehr mühsam.“ Jeder habe das Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten. „Lügen sind Lügen“, sagt er und wiederholt damit eine Äußerung der Heldin seines Romans: „Eine Lüge ist keine andere Meinung. Eine Lüge ist eine Lüge, und man muss über sie die Wahrheit sagen.“
Michal Hvorecky: Troll, Tropen Verlag, Stuttgart, 2018, 215 Seiten, gebunden, 18 Euro, ISBN 978-3608504118, Leseprobe
Wenn schon die Verlegerin eines deutschen Verlags eine „Gebrauchsanweisung fürs Lesen“ schreiben muss, scheint es sehr schlecht bestellt zu sein um die Welt der Bücher. Felicitas von Lovenberg, ehemalige FAZ-Literaturchefin und seit 2016 Verlegerin des Piper-Verlags, hat genau das getan. Am Donnerstag stellte sie ihr kleines, handliches Buch auf der „Buch Wien“ vor.
Laut Verlagsangaben schildert von Lovenberg, wie sich die Rolle des Buches immer wieder gewandelt habe und welch ungewöhnliche Lesegewohnheiten es gibt, gleichzeitig gehe sie auf Lieblingsbücher und Entdeckungen ein. Die in Münster geborene von Lovenberg zeige, wie „aus dem Zeitvertreib Lesen eine beglückende, lebenslange Sucht werden kann“.
Dass sie eine wahre Büchernärrin ist, zeigt sich auf bei ihrer Buchpräsentation auf der „Buch Wien“. Schon als Kind habe sie nichts mehr geliebt, als ein Buch in der Hand zu haben. „Im Sommer war ich entweder draußen und habe Räuber und Gendarme gespielt, oder ich lag mit einem Buch auf der Wiese.“
„Der Inbegriff von Geborgenheit“
Dass sie schon früh zur Leseratte wurde, habe sie wesentlich ihrem Vater zu verdanken. Sie erinnert sich noch heute gerne daran, erzählt sie Moderator Günter Kaindlstorfer, wie ihr Vater in einem alten Sessel gesessen und ihr Grimms Märchen vorgelesen habe, aus einer alten, schon etwas zerfledderten Dünndruckausgabe von Winkler. „Das war für mich der Inbegriff von Geborgenheit.“ Das dritte Wort, was sie damals nach „Mama“ und „Papa“ habe sagen können, sei „Buch“, behaupten die Eltern. „Ich glaube ihnen das mal.“
Der Vater war Anwalt und „gläubiger FAZ-Leser“. Bedeutet: Bücher, die im Kultur-Ressort gut besprochen waren, wurden gekauft. Und so bekam von Lovenberg schon früh Zugang zu Büchern, Büchern und noch mehr Büchern. „Ich habe mit 12 Jahren ‚Krieg und Frieden‘ gelesen, nix verstanden, kam mir aber sehr schlau vor“, erzählt sie lachend. Dabei lasen Mädchen in ihrem Alter lieber andere Bücher, die es jedoch niemals in die FAZ schafften. Mit ihrer Mutter fuhr sie oft in die Stadt und durfte sich dann im Buchladen wünschen, was sie wollte. „Wir verheimlichten vor meinem Vater, dass ich dort ‚Bille und Zottel‘ und anderes, was man damals so las, kaufte.“
Von Kaindlstorfer darauf angesprochen, ob so eine „Gebrauchsanweisung fürs Lesen“ vielleicht deshalb nötig sei, weil das Buch als solches nicht mehr das Leitmedium sei, erklärte von Lovenberg, sie glaube sehr wohl, dass das Buch diese Rolle noch inne habe. „Unser Wissen ist und bleibt dort gespeichert.“ Aber das Buch sei davon abhängig, dass andere Medien anerkennen, dass es ein Leitmedium ist.
Menschen orientieren sich an Bestsellerlisten
„Es fehlt an der Vermittlung“, kritisiert sie und verdeutlicht: „Die Menschen sagen immer mehr: ‚Ich finde nicht mehr die zu mir passenden Bücher.'“ Es gebe inzwischen viel zu wenige Empfehlungen in Zeitungen. Stattdessen orientierten sich die Menschen an Bestsellerlisten. „Viele glauben daran: Wenn viele dieses und jene Buch lesen, muss es ja gut sein.“
Früher seien wesentlich mehr Debatten über Bücher geführt worden, ist von Lovenberg überzeugt, „aber diese Debatten sind leiser geworden.“ Dabei seien es gute Jahre für Literatur: „In Zeiten von gesellschaftlichen Umbrüchen haben wir Sehnsucht nach guten Büchern, die uns weiterbringen.“ In diesem Zusammenhang könne sie auch nicht verstehen, dass die Buchbranche Jahr für Jahr darüber klage, wie schlecht es ihr gehe. „Niemand kauft gerne beim Verlierer – ich rede lieber positiv über Bücher.“
Kaindlstorfer weist darauf hin, dass Bücher aber doch mittlerweile im täglichen Zeitbudgt der Menschen große Konkurrenz bekommen haben. Vor allem die Neigung der Menschen, stundenlang hintereinander Fernsehserien zu gucken, sei der Nutzung von Büchern sicherlich nicht zuträglich. „Das stimmt alles“, sagt von Lovenberg, „aber Lesen ist dem überlegen.“ Das Austauschen über Serien sei niemals „so filigran“ wie das Austauschen mit Freunden über Bücher. „Niemand wird das Buch genauso lesen wie ich – das ist bei Serien anders.“ Außerdem sei die Erfahrung des Lesens nicht multitaskingfähig. Beim Serienschauen könne man bügeln, aufs Handy schauen, und allerlei Sachen nebenher machen. Beim Lesen nicht.
„Ich habe viele Männerherzen frustriert“
Zu Anfang wurde von Lovenberg gefragt, ob sie es mit der Männerauswahl genauso halte wie ihre Kollegin Elke Heidenreich, die sich nur in Männe verlieben könne, die lesen. „Nein, bei mir ist das anders, ich habe mich auch in Männer verliebt, die nicht gelesen haben oder nicht so viel wie ich.“ Sie habe allerdings wohl auch „viele Männerherzen frustriert“, weil sie manchmal ein Buch einer Verabredung vorgezogen habe. „Einer meiner Freunde hat mir damals mal gesagt: ‚Du wirst irgendwann von deinen Büchern aus dem zusammenbrechenden Billy-Regal erschlagen, und es kriegt niemand mit.'“
Felicitas von Lovenberg moderierte einst im SWR-Fernsehen die Literatursendung „lesenswert“. Ihre stets letzte Frage an ihre Schriftsteller-Gäste stellte Kaindlstorfer nun ihr selbst: Mit welcher Romanfigur wären Sie gern verheiratet? „Wenn ich nicht schon glücklich mit meinem Mann verheiratet wäre, wäre es vielleicht Boris aus ‚Krieg und Frieden‘ – und ich war auch mal sehr verliebt in den namenlosen Ich-Erzähler aus ‚Liebeserklärung‘ von Michael Lentz.“
Felicitas von Lovenberg: Gebrauchsanweisung fürs Lesen, Piper Verlag, München, 2018, 128 Seiten, gebunden, 10 Euro, ISBN 978-3492277174, Leseprobe
Erstaunlicherweise wird dem jungen Suhrkamp-Autor Philipp Weiss nur eine recht kleine Bühne geboten, um sein von der Kritik hochgelobtes und gefeiertes Debüt-Werk „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“ in Wien vorzustellen. Das ist ausgesprochen unglücklich. Und ebenso unglücklich ist es, dass Weiss nicht die Gelegenheit gegeben wird, selbst in seinen in fünf Bände unterteilten Roman (insgesamt 1.064 Seiten im Schuber!) einzuführen. Das übernimmt Stefan Gmünder, Literatur-Redakteur beim Standard, für ihn. Gmünder macht das hervorragend, zweifelsohne, aber aus dem Munde des neben ihm sitzenden Autoren hätte die Einführung vermutlich eine andere Relevanz gehabt.
Laut Verlagsangaben erzählt Philipp Weiss von der Verwandlung der Welt im Anthropozän – „jener Epoche der Erdgeschichte, in welcher der Mensch zur zentralen gestaltenden Kraft geworden ist“. Zwischen Frankreich und Japan, zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert, in Form von Enzyklopädie, Erzählung, Notizheft, Audiotranskription und Comic „entwirft dieser kühne Roman ein Panoptikum unserer fliehenden Wirklichkeit“.
Dass der fünfbändige Roman keine vorgegebene Lesereihenfolge hat, macht Weiss bei seiner kurzen Lesung aktiv deutlich. „Ich lese jetzt sozusagen einen Remix oder ein Medley meines Romans“, sagt der Jazz-Fan und stellt fortan immer das Buch aufrecht vor sich auf den Tisch, aus dem er gerade liest.
„Drohgebärde der Primaten“
Der ungewöhnliche Titel seines Romans habe zwei Referenzen, erzählt Weiss auf Nachfrage von Gmünder. Zum einen sei da der Holzstich „Wanderer am Weltenrand“ (auch: „Flammarions Holzstich“), dem er das Wort „Weltenrand“ entliehen habe. Die Darstellung zeigt einen Menschen, der am Horizont als dem Rande seiner Welt mit den Schultern in der Himmelssphäre steckt und das dahinter Befindliche erblickt. „Dieses Bild eröffnet die positive Lesart des Titels und erzählt von der menschlichen Urbewegung der Überschreitung“, erklärt Weiss. „Zum anderen ist das Lachen, wie wir wissen, eine Drohgebärde der Primaten – und das zusammen erzählt die Grundbewegung meines Romans.“
Sechs Jahre hat Weiss an diesem Roman gearbeitet. Zuvor studierte er Germanistik und Philosophie, schrieb Prosa und Theaterstücke, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. 2009 trug er beim Ingeborg-Bachmann-Preis seinen Beitrag „Blätterliebe“ vor, in dem ein Autor seinen eigenen Text isst. Weiss tat es ihm nach und verspeiste daraufhin ebenfalls seinen Text, was aber nicht so richtig gut ankam bei der Kritik.
Nach 30 Minuten ist die Buchvorstellung vorbei – nur 30 Minuten für den Roman, der als der Roman dieses Literatur-Herbstes gilt.
Philipp Weiss: Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2018, 1.064 Seiten, fünf Taschenbücher im Schuber, 48 Euro, ISBN 978-3518428177, Leseprobe, Buchtrailer, Lesung bei zehnSeiten.de
Die internationale Buchmesse in Wien, die „Buch Wien“, beginnt mittlerweile traditionell mit der „Langen Nacht der Bücher“, bei der die Messehalle bis Mitternacht geöffnet bleibt, sich den Besuchern ein vielfältiges Programm bietet und die Messestände schon zum ersten Reinlinsen einladen. Nach der Eröffnungsrede der deutschen Philosophin Svenja Flaßpöhler und dem Eröffnungskonzert der österreichischen Singer-Songwriterin Clara Luzia, die gerade ihr neues Album „When I Take Your Hand“ veröffentlicht hat, nehmen auf der großen, den meisten Raum einnehmenden ORF-Bühne Autoren wie Bernhard Aichner, Hanna Herbst, David Schalko oder die Kabarettgruppe maschek sowie die Anchorwoman Lou Lorenz-Dittlbacher Platz. Auf der Kochbühne wird, nun, der Name verrät es bereits, gekocht und gebacken, am lautstärksten nach Clara Luzia & Band sind aber wie eh und je die Zuschauer des jährlichen Poetry Slams, der von den österreichischen Slam-Ikonen Mieze Medusa und Markus Köhle souverän moderiert wird.
Auf der ORF-Bühne ist es der österreichische Kabarettist und bekennende „Lese-Junkie“ Florian Scheuba, der bereits zum fünften Mal in Folge die stets keinen Blatt vor den Mund nehmende Moderation übernimmt. Zur Einführung von Bernhard Aichners neustem Thriller „Bösland“ etwa schockiert er das Publikum mit der Ankündigung, frevelhafterweise die letzte Seite des Buches vorzulesen. Von Aichner nicht abgehalten (keine Sorge, dieser Text ist spoilerfrei!), liest Scheuba die Bitte des Autors vor, die Leser mögen sich doch per Mail an ihn wenden, wie Ihnen „Bösland“ gefallen habe. Damit also schließt das Buch – nichts, was man nicht verraten könnte.
„Bei zwei Leuten habe ich das Geld zurücküberwiesen“
Aichner erklärt, dass ihm die Meinung seiner Leserinnen und Leser wichtig sei. „Ich bin gerne mit denen im Austausch, auch bei Facebook.“ Zu 98 Prozent seien die Rückmeldungen auch „sehr schön“, aber es gebe auch Leute, die ihr Geld zurückforderten. „Bei zwei Leuten habe ich das Geld zurücküberwiesen“, sagt Aichner und lacht. Aber es wird sehr schnell wieder ernst auf der Bühne, denn Aichners neuer Thriller behandelt eine ernste Hintergrundgeschichte: Gewalt an Kindern.
Der Fall: Im Sommer 1987 wird auf dem Dachboden eines Bauernhauses ein Mädchen brutal ermordet. Ein 13-jähriger Junge schlägt sieben Mal mit einem Golfschläger auf seine Mitschülerin ein und richtet ein Blutbad an. 30 Jahre bleibt diese Geschichte im Verborgenen, bis der Junge von damals wieder das Morden beginnt. Die Idee dazu habe Aichner eines Nachts geträumt. „Ich hab das dann gleich aufgeschrieben und bald mit der Recherche begonnen.“
Dass Aichner gerne selbst erfährt, was er seinen Helden zutraut, ist bekannt. Im Jahr 2016 erklärte Aichner bei einem Gespräch auf der „Buch Wien“, er habe für seine Bücher über die mordende Bestatterin Brünhilde Blum (Die „Totenfrau“-Trilogie) nicht nur selbst schon ein Grab ausgehoben („Das war eine tolle Erfahrung, aber richtig harte Arbeit“), sondern sei auch in der Rechtsmedizin Hamburg bei einer Obduktion dabei gewesen. Für „Bösland“ hat Aichner in der Psychiatrie recherchiert, viele Fallgeschichten gelesen und mit Kinder- und Jugendpsychiatern zusammengearbeitet. „Ich wollte von denen wissen: Wie lebt ein 13-Jähriger weiter, der eine Mitschülerin erschlägt?“
Pamela, Petting und Apfelfruchtfleisch
In einem Interview mit der Wiener Zeitung wurde Aichner 2015 gefragt, ob er jetzt in der „Bestsellermaschinerie“ sei, weil er einen Krimi nach dem nächsten schreibe. Und auch auf der „Buch Wien 2018“ kündigt der Tiroler das nächste Buch bereits für Herbst 2019 an. Von Scheuba darauf angesprochen, erklärt er, dass er erst sieben Bücher habe schreiben müssen, die nur mäßig verkauft worden seien, bis der Erfolg kam. Mit 15 habe er sein Erstlingswerk geschrieben, einen Liebesroman, der nach nur 36 Seiten schon beendet war. Ein Quickie literarischen Schaffens in der jungen Blüte eines pubertierenden Teenagers, dessen Helden aus Fernsehserien wie „Knight Rider“ und „Baywatch“ stammen. Und so heißt die weibliche Hauptrolle seines Erstlings „Baywatch“-inspiriert Pamela. Aichner liest die „ersten 11 Zeilen“ vor, sehr zur Erheiterung des Wiener Publikums, das hier von Pamela, Petting und Apfelfruchtfleisch hört.
Wie ein Thriller-Autor wie Aichner seine Bücher schreibt, will Scheuba wissen. Ob es stimme, was im bereits erwähnten Interview mit der Wiener Zeitung von 2015 zu lesen war. Dass er beim Schreiben „sanfte Popsongs“ höre. „Auch kitschig-romantische Schmachtfetzen, manche davon höre ich 70 Mal hintereinander.“ Florian Scheuba dazu trocken: „Kein Wunder, dass man da jemanden umbringen will.“
Bernhard Aichner: Bösland, btb Verlag, München, 2018, 448 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3442756384, Leseprobe
Die ehemalige Vize-Chefredakteurin der österreichischen Vice und derzeitige Vize-Chefredakteurin des Magazins Liga, Hanna Herbst, stellt bei der „Langen Nacht der Bücher“ ihr erstes Buch vor: „Feministin sagt man nicht“. Darin zeigt sie laut Angaben ihres Verlags, dass ein Frauenleben auch heute noch nur in einem Kontext aus Macht- und Gewaltfragen zu verstehen sei. Leider bleibt dem Buchmessen-Publikum eine Lesung aus dem Buch jedoch verwehrt: „Aus Sachbüchern liest man nicht, sagen die Verleger“, entschuldigt sich Herbst. Es ist nicht zu übersehen, wie unsinnig sie selbst diesen verlegerischen Rat findet. Aus Sachbüchern liest man nicht, aber Herbst hat ja genug zu sagen. Also hat sie kurzerhand einen neuen Text geschrieben, einen Essay, der kurz anreißt, was man eigentlich nicht anreißen kann. Vielleicht stimmt er deshalb doch, dieser Rat der Verleger.
„Feministin sagt man nicht“, heißt der Titel ihres Buches. Nicht, weil es einem Schimpfwort gleich käme, die man ja auch nicht sagt. „Feminismus nahm mir die Berufsbezeichnung weg – war ich vorher Journalistin, bin ich jetzt Feministin“, schreibt die 1990 in Mainz geborene und jetzt in Wien lebende Herbst in ihrem Text. Im Gespräch mit Kabarettist Florian Scheuba erzählt sie auch von den Stereotypen, die ihr Kritiker entgegenschleudern. Am häufigsten: „Du hast nicht genug Sex, deshalb bist du Feministin.“ Ähnlich übergriffige Varianten wie „Der muss man es nur einmal richtig besorgen“ kennen auch lesbische Frauen aus ihrem Alltag. Und weil sich Herbst auch bei den Themen Rechtsextremismus und Flüchtlingshilfe einen Namen gemacht hat, bekommt sie auch das oft zu hören und zu lesen: „Frauen wie du gehören vergewaltigt. Weil du findest, dass immer noch mehr Ausländer zu uns kommen sollen – und die sind alle Vergewaltiger.“
Dem Thema „Hass“ hat sie ein eigenes Kapitel in ihrem Buch gewidmet. „Der Männerhass, der Feministinnen vorgeworfen wird, steht diametral zu dem Hass, der Frauen – und gerade Feministinnen – entgegenschlägt. Es ist psychische Gewalt, der sie Tag für Tag ausgesetzt sind. (…) Findet psychische Gewalt online statt, wird sie oft nicht als solche angesehen. Obwohl ihr viele Frauen ständig ausgesetzt sind.“ Dass Hassbotschaften nicht erst existieren, seit es die sozialen Netzwerke gibt, wird deutlich, wenn Herbst von den Suffragetten erzählt, die ähnliche Anfeindungen über sich ergehen lassen mussten. „Hass auf Feministinnen ist so alt wie der Feminismus selbst.“
„So erbärmliche Sachen“ über die sozialen Netzwerke
Herbst selbst bekommt über sie sozialen Netzwerke „so erbärmliche Sachen“. Am schlimmsten werde es, wenn ein Thema politisch aufgeheizt sei. „Wenn man sich nur minimalst gegen die FPÖ und für Menschenrechte äußert, ist man gleich schon die linke Zecke“, erklärt sie Scheuba. Je politisch angespannter die Situation, desto schärfer werde der Ton.
Zu ihrem ersten Buch aber habe sie bislang durchweg positive Nachrichten bekommen. Nur einer habe ihr geschrieben, er wolle das Buch gar nicht erst anfassen, es sei ihm „zu schirch“ („zu hässlich“). Zur Erklärung: Das Cover zeigt ein Porträt der Autorin. Im Gespräch mit Florian Scheuba erklärt Herbst, dass ja auch Männer in den sozialen Netzwerken durchaus einschüchternde Nachrichten bekämen. „Aber bei den Frauen sind sie zusätzlich auf den Körper bezogen.“ Wer nach Hanna Herbst googelt, findet bald auf einschlägigen Blogs und in FPÖ-nahen Medien Beispiele dafür. Die „hübsche Hass-Hanna“ ist nur eines davon.
Es war auch ein FPÖ-nahes Medium, das sie in Verruf brachte, Fan von Andreas Gabalier zu sein, erzählt sie. Der österreichische Schlagersänger macht aus seiner homophoben Gesinnung keinen Hehl. Im Jahr 2015 hatte er bei der Gala zum österreichischen Musikpreis gesagt, dass man es „nicht leicht auf dieser Welt (habe), wenn man als Manderl noch auf ein Weiberl steht“. In einem Interview mit der Welt im Juni 2015 kritisierte er zu viel Homosexualität in der Öffentlichkeit: „Man muss doch nicht jeden Tag schmusende Männlein in der Zeitung oder auf Plakaten drucken. Das löst das Gegenteil aus. Abwehr, Überdruss, Antipathie, selbst bei Leuten, die es doch eigentlich tolerieren.“
„Und wir Frauen machen da mit und unterstützen die Arschlöcher auf der Bühne“
Gabalier ist gegen die österreichische Bundeshymne, in der seit 2012 nicht nur die „großen Söhne“, sondern auch die Töchter besungen werden, und er sammelt bei Konzerten BHs seiner Fans und hängt sie demonstrativ über seinen Mikrofonständer: „Und wir Frauen machen da mit und unterstützen die Arschlöcher auf der Bühne“, sagt Herbst fassungslos auf der „Buch Wien“. (lesenswert: Der Vice-Artikel von Hanna Herbst über einen Besuch eines Gabalier-Konzerts)
Ob sie nicht in die Politik gehen oder eine Frauenpartei gründen wolle, will Scheuba wissen. „Nein“, lautet die klare Antwort, „aber ich würde jede Frauenpartei unterstützen. Und ich würde sagen, ich kann außerhalb der Politik mehr tun.“
Seit sie ihr Buch veröffentlicht habe und zu Lesungen unterwegs sei, habe sie außerdem ein neues Hobby für sich entdeckt: das Büchersignieren. „Das ist ja so weird! Würdest du einer 10-jährigen Hanna sagen, du sitzt da mal und signierst Bücher, ich würde sterben.“ Und was sie meint, als sie sagt „Ich lieb’s, ich lieb’s!“, wird deutlich, als die Schlange am Büchertisch nur sehr langsam kürzer wird. Hanna Herbst lässt einen zweiten Stuhl aufstellen und bittet jeden Buchkäufer zum Gespräch. Das wird mitunter so lang wie die kleinen Romane, die die Journalistin danach als Widmung auf die Vorsatzblätter der Bücher schreibt. Als schon längst der nächste Autor auf der ORF-Bühne sitzt, stehen und sitzen noch immer Menschen am Büchertisch. Und Hanna Herbst schreibt noch sehr lange sehr lange Widmungen.
Hanna Herbst: Feministin sagt man nicht, Brandstätter Verlag, Wien, 2018, 136 Seiten, gebunden, 20 Euro, ISBN 978-3710601941, Buchtrailer
Kurz vor Mitternacht ist schließlich noch David Schalko mit seinem bereits im April erschienenen Roman „Schwere Knochen“ zu Gast auf der „Buch Wien“. Darin setzt er der Wiener Unterwelt der Kriegs- und Nachkriegsjahre ein literarisches Denkmal. Die Zusammenfassung des Sujets aus Verlagssicht: „Wien, März 1938, ‚Anschluss‘ Österreichs ans Deutsche Reich. Am Tag, als halb Wien am Heldenplatz seinem neuen Führer zujubelt, raubt eine Bande jugendlicher Kleinganoven, die sich darauf spezialisiert hat, Wohnungen zu ‚evakuieren‘, einen stadtbekannten Nazi aus. Sieben Jahre lang müssen die Kleinkriminellen daraufhin als sogenannte Kapos für die ‚Aufrechterhaltung des Betriebs‘ in den KZs Dachau und Mauthausen sorgen und wachsen so zu Schwerverbrechern heran, die lernen, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier eine Illusion ist. Zurück in der österreichischen Hauptstadt übernimmt die Bande um Ferdinand Krutzler die Wiener Unterwelt. Mit ungekannter Brutalität nutzt sie ihre Macht nicht zuletzt, um ehemalige Nazi-Widersacher aus dem Weg zu räumen. Aber der eingeschworene Zusammenhalt täuscht. Zunehmend verlieren sie einander in verräterischen Verstrickungen und verhängnisvollen Liebschaften. So lange, bis sie ihren Ehrenkodex aufgeben und aus Freunden unerbittliche Feinde werden.“
„Die banalsten Dinge in meinem Roman habe ich erfunden“, erklärt der 1973 in Wien geborene und dort lebende Regisseur und Autor. „Aber die krassesten nicht.“ Sein Roman orientiert auch an echten Nachkriegskriminellen. Und so geht’s in dem Gespräch mit Florian Scheuba, das nach und nach zu einer feinen Plauderei gerät, viel um die Unterwelt von damals und heute. Einen starken Ehrenkodex gebe es noch heute, er habe jedoch einen erheblichen Wandel erfahren. „In der 30er Jahren war es nicht üblich, ein Messer oder eine Pistole zu verwenden.“ Meinungsverschiedenheiten wurden mit den Fäusten ausgetragen. In den Jahrzehnten danach kamen die Schusswaffen, darunter sogar die Maschinengewehre, die der Unterwelt eine brutalere Macht gaben.
„Für die Deutschen ist das KZ-Kapitel sehr schwierig“
Wie sein Buch in Deutschland ankomme, will Scheuba wissen. „Für die Deutschen ist das KZ-Kapitel sehr schwierig“, sagt Schalko, „weil sie nicht kennen, dass man das aus der Unterwelt-Perspektive erzählt.“ Ohnehin erkenne der Deutsche den Wiener Humor selten. „Was die Deutschen als skurril empfinden, ist bei uns in Österreich Naturalismus. Und was sie lustig finden, ist von uns Österreichern gar nicht lustig gemeint.“ Scheuba: „Aber es gibt doch lustige Deutsche.“ Schalko: „Ja, Helge Schneider. Aber der ist kein Deutscher, das ist ein Missverständnis.“ Scheuba: „Loriot.“ Schalko: „Nein, nicht Loriot.“
Schalko ist über Österreich hinaus bekannt geworden mit Fernsehformaten wie der „Sendung ohne Namen“. Seine Filme wie „Aufschneider“ mit Josef Hader und die Serien „Braunschlag“ und „Altes Geld“ genießen Kultstatus und wurden mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Für den ORF und RTL Crime hat er gerade die Mini-Serie „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“, ein Remake von Fritz Langs berühmtem Film, abgedreht – mit Udo Kier, Lars Eidinger, Bela B und Moritz Bleibtreu unter den Schauspielern. Die Serie wird im Frühjahr 2019 ausgestrahlt.
Er habe lange nicht vom Schreiben leben können, erzählt Schalko, der mit 22 begann, Lyrik zu veröffentlichen. „Jetzt ist es zum ersten Mal wirklich realistisch.“ Fürs Regieführen werde man auch irgendwann zu alt, sagt er lakonisch. Dass das Volkstheater plane, seinen neuen Roman zu einem Theaterstück zu machen, findet er „schmeichelhaft“. Viel interessanter aber fände er die Äußerung, die ein Nachbar ihm gegenüber zuletzt getätigt habe: „Dein Buch wird sehr geschätzt in der Unterwelt.“
David Schalko: Schwere Knochen, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2018, 576 Seiten, gebunden, 24 Euro, ISBN 978-3462050967, Leseprobe, Videotrailer
Die deutsche Philosophin Svenja Flaßpöhler hat am Mittwochabend mit einem diskussionsanregenden Vortrag über den „richtigen Umgang mit Rechts“ die elfte internationale Buchmesse „Buch Wien“ eröffnet. Unter dem Titel „Ignorieren, bekämpfen, verstehen?“ stellte sie verschiedene Strategien vor, sei es zum einen die von Jürgen Habermas vorgeschlagene der Ausgrenzung und Ignorierung, zum anderen aber auch die des Verstehens, wie Hannah Arendt es im Fall von Adolf Eichmann versucht habe. Verstehen hieße ja nicht direkt nachvollziehen, Recht geben oder entschuldigen.
Ihr sei auf der anderen Seite aber auch bewusst, dass eine solche Offenheit des Diskurses Risiken berge. „Große Risiken sogar. Die Gefahr, dass die neue Rechte jeden Meter Geländegewinn zur Installierung eines neuen Faschismus nutzt, muss deutlich betont und gesehen werden. Aber, so wäre zu fragen: Ist eine Demokratie, die sich selbst gegen allfällige Gefahren immunisiert, noch eine Demokratie?“
Flaßpöhler, die auch in der #MeToo-Debatte ein streitbarer Geist ist, schlägt einer demokratischen Gesellschaft deshalb vor, „Räume für Streit“ zu eröffnen, „anstatt sie zu schließen“. Dennoch müsse man stets „sehr genau unterscheiden zwischen jenen, die dialogbereit sind. Und denen, die es nicht sind.“ Eine Dethematisierung, wie Habermas es will, sei in Deutschland schon gar nicht mehr möglich, da etwa die Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) inzwischen in allen Landesparlamenten sitzt.
Eines machte Flaßpöhler, die in Münster geborene Chefredakteurin des „Philosophie Magazins“, in ihrem Vortrag ebenfalls deutlich: „Den Faschismus muss man bekämpfen, und zwar in aller Entschiedenheit. Denn ein Faschist hat kein Interesse am Diskurs, sondern nur an Macht und Zerstörung.“ (Lesen Sie hier die vollständige Rede von Svenja Flaßpöhler.)
Vor diesen ernsten Worten, die vom geladenen Publikum mit anhaltendem Applaus quittiert wurden, hatte Wiens Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler (SPÖ) für Belustigung gesorgt, als sie die „Buch Wien“ als „wunderbares Bordell des Geistes“ bezeichnete. Sie wünsche sich, dass es „richtig brummen“ möge auf der Messe, die Bücher ihre Verführungskünste zeigen und die Leserinnen und Leser der „sinnlichen Begegnung mit Papier“ erliegen.
Traditionell schließt sich an die feierliche Eröffnung der Buchmesse die beliebte „Lange Nacht der Bücher“ an, die auch in diesem Jahr hochkarätig und facettenreich besetzt war: Nach dem Eröffnungskonzert der österreichischen Singer-Songwriterin Clara Luzia stellten im Gespräch mit Kabarettist Florian Scheuba unter anderem Bernhard Aichner, Hanna Herbst und David Schalko ihre neuen Bücher vor, während auf der Kochbühne gekocht und beim Poetry Slam vor allem das junge Publikum im Scharen begeistert wurde.
Noch bis Sonntagabend präsentieren mehr als 370 Aussteller aus 20 Nationen auf der „Buch Wien“ die Neuerscheinungen dieses Herbstes. „Seitengang – ein Literatur-Blog“ ist noch bis einschließlich Samstagabend vor Ort und berichtet von der Buchmesse.