„Lass uns jeden Tag das Leben endlos spüren / Und uns niemals unsre Ehrlichkeit verlieren“, heißt es in dem deutschen Schlager „Jenseits von Eden“ von Nino de Angelo. In dem neuen Kriminalroman „Das Ende von Eden“ des US-amerikanischen Autors Stephen Amidon ist Eden kein (biblischer) Ort, sondern eine junge Frau von 20 Jahren, und trotzdem passt das Schlager-Zitat. Irgendwer hat Eden zwischen Abend und Morgen in der idyllischen Bostoner Vorstadt Emerson ins Jenseits befördert. Dorothy Gates, Detective bei der State Police, sagt es Edens Mutter, wie es ist: „Man kann das einfach nicht schonend sagen. Eden ist tot.“ Was danach in dem Örtchen geschieht, ist perfekte Serienvorlage, ist Zeugnis für menschliche Abgründe, für Klassenunterschiede und die Macht des Geldes. Und es ist gut geschrieben.
Der 1959 geborene Stephen Amidon ist in Deutschland leider ein völlig unbekannter Autor. Abgesehen von „Das Ende von Eden“ (im Original: „Locust Lane“), das in diesem Jahr erschienen ist, haben es nur „The New City“ im Jahr 2000 als „Traumstadt“ sowie „Human Capital“ 2006 als „Der Sündenfall“ in eine deutsche Übersetzung geschafft (2019 mit Liev Schreiber verfilmt). In den USA dagegen ist Amidon durchaus ein Name. Wendy Smith schrieb im Januar in der Washington Post über ihn: „Stephen Amidon hat in den letzten drei Jahrzehnten eine Reihe von ebenso fesselnd lesbaren wie scharfkantigen Romanen über so unbequeme Fakten des amerikanischen Lebens wie Rasse, Klasse und Geld geschrieben.“ Auch in „Das Ende von Eden“ bleibt er dieser Linie treu. Opfer dieser Geschichte ist am Ende nicht nur das Mord-Opfer.
Eden, die in voller Pracht Eden Angela Perry heißt, liegt – offenbar erschlagen – im Haus der Bondurants. Dort war Eden seit drei Monaten als eine Art Haushälterin und Hundesitterin angestellt, dabei sind Eden und ihre Mutter Danielle mit der wohlhabenden Familie über mehrere Ecken verwandt. Danielle und Eden hatten eine Auszeit vereinbart, so wie auch Partnerschaften manchmal eine Auszeit brauchen, damit sich alle Beteiligten besinnen können. Eden, die hin und wieder dummes Zeug macht, weil das einfacher ist, die aber keiner Fliege was zuleide tun kann. Eden, die Menschen allzu leichtherzig vertraut. Eden, die ihre Mutter zum Wahnsinn getrieben hat, die von ihrer Mutter jedoch im selben Atemzug als Engel beschrieben wird. „Es ist schwer zu erklären. Dafür muss man sie kennen“, sagt Danielle. Was nun schwierig geworden ist.
Aber glaubt man ihm?
Ihren letzten Abend hat Eden mit drei Leuten von ihrer Schule verbracht: Christopher Mahoun, der schwer in sie verknallt war, sowie Jack Parrish und Hannah Holt, die beide ein Paar sind. Die Polizei hat schnell einen Verdächtigen ausgemacht, der es gewesen sein kann. Gewesen sein muss. Christopher Mahoun, Sohn eines libanesischen Einwanderers und bekannten Gastronoms in der Stadt, war von ihnen allen der letzte, der Eden lebend gesehen hat. Er beteuert jedoch, dass er sie nicht angefasst, dass sie noch gelebt hat, als er sie in der Nacht verließ. Und er kann auch die Kratzer an seinem Hals erklären. Aber glaubt man ihm?
Alle drei Jugendlichen fallen zu Hause auf. Noch in der Nacht oder am nächsten Morgen. Sie alle haben etwas zu verbergen. Auch die mitunter schwerreichen Eltern. Da ist Lug und Betrug, da sind Alkohol und Drogen im Spiel, falsche Freundschaften brechen auf und moralische Grenzen verschwimmen. Manch einer rächt sich, andere halten aus vermeintlich hehren Motiven schützend ihre teuren Hände über die Köpfe ihres Nachwuchses.
Für die Polizei passt es bei Christopher Mahoun einfach am besten. Für die Kommentatoren in den Sozialen Medien ohnehin: ein Dunkelhäutiger, der ein weißes Mädchen aus der privilegierten Schicht killt, weil sie ihn abblitzen lässt? Da ist der Schuldige also schnell gefunden, und die Hexenjagd beginnt mit all ihren hässlichen Fratzen.
Kluger Wechsel der Erzählstimmen
Stephen Amidon schreibt seinen Kriminalroman aus der Sicht von fünf Erwachsenen: Hannahs Stiefmutter, Jacks Mutter, Christophers Vater, Edens Mutter und aus der Sicht eines eigentlich unbeteiligten Dritten, der in der besagten Nacht etwas gesehen hat, sich aber aufgrund eines Alkoholproblems nicht traut, zur Polizei zu gehen. Geschickt rationiert Amidon die Häppchen, die er uns vorlegt und mit denen wir der Lösung immer wieder nahe zu kommen glauben. Nur um uns gleich danach wieder auf eine völlig neue Fährte zu bringen. Klug lässt der Autor seine fünf Erzählstimmen die Blickwinkel wechseln – und wir wissen nie sicher, welcher davon wie zu trauen ist.
Die Figurenzeichnung ist in ihrer Tiefe fast ausschließlich gut gelungen, vor allem die der Frauen. Oberflächlich gesehen bedient sich Amidon zwar gängiger Klischees von Klassenunterschieden. So ist Danielle, die Mutter der getöteten Eden, mit ihren Tattoos („Ich bin die illustrierte Ausgabe“) und den schwarz gefärbten Haaren der Arbeiterklasse zuzurechnen, während die anderen Frauen aus der oberen Mittelschicht edel wohnen, nicht arbeiten müssen und sich mit Geld ein paar Probleme vom Leib schaffen können. Amidon darauf zu relativieren, wäre aber falsch. Denn der Autor versteht es, die Innensicht seiner Figuren psychologisch nachvollziehbar darzustellen. Nur Michel, der Vater des Hauptverdächtigen, sowie die beiden Detectives bleiben ungewöhnlich blass. Im Hinblick auf seine wichtige Rolle im Innenverhältnis zu seinem Sohn ist das vor allem bei Michel unverständlich.
Sorgfältig ausstaffiert
Amidon schreibt gut, und Alice Jakubeit hat seinen Text in ein flüssiges Deutsch übertragen, das auch den Sarkasmus transportiert, mit dem Amidon seine Figuren manchmal sprechen oder denken lässt. Der Autor gibt seiner Geschichte viel Zeit, sich zu entwickeln. „Das Ende von Eden“ ist also kein atemloser Pageturner, der mit Cliffhangern arbeitet, sondern eine gesellschaftskritische Kriminalgeschichte, die nach und nach sorgfältig ausstaffiert wird.
Die Auflösung kommt schließlich unerwartet, heftig und erschütternd und öffnet uns in diesem Roman einmal mehr die Augen, wie Gerechtigkeit zurechtgebogen wird, wenn Menschen mit Geld ihre Macht und ihren Einfluss ausnutzen. Das Ende ist kein versöhnliches. Mit seiner Bitterkeit wird es nicht allen schmecken. Aber es hinterlässt uns nicht ohne Hoffnung, trotz der noch offenen Fragen.
Hoffen wir außerdem, dass der Droemer-Verlag mit „Das Ende von Eden“ genug Aufmerksamkeit auf dem deutschsprachigen Buchmarkt erzeugen kann, damit auch die anderen Romane von Stephen Amidon eine deutsche (Neu-)Übersetzung erfahren. Ansonsten bleibt uns nichts anderes übrig, als die Bücher im Original zu lesen. Entdecken Sie Stephen Amidon!
Stephen Amidon: Das Ende von Eden, Droemer-Verlag, München, 2023, 381 Seiten, broschiert, 16,99 Euro, ISBN 978-3426283929, Leseprobe

