Geistreicher Genuss

Die Würde ist antastbarDer Strafverteidiger und Schriftsteller Ferdinand von Schirach hat 13 seiner im Spiegel erschienenen Essays zu einem neuen Werk zusammengefasst. Allein aufgrund der deutlichen Ausführungen zu Recht und Menschenwürde gehört die Sammlung mit dem Titel „Die Würde ist antastbar“ in vieler Leute Hände.

Von Schirachs Erzählbände „Verbrechen“ und „Schuld“ sowie seine beiden bisher veröffentlichten Romane „Der Fall Collini“ und „Tabu“ umkreisen stets dieselben Themen: Schuld, Sühne, Verbrechen, Strafe und Moral. Als ehemaliger Strafverteidiger hat er das zum Sujet seiner Bücher gemacht, was sein tägliches Brot war, bevor er sich für den Hauptberuf des Schriftstellers entschied. Auch in seinem Essayband „Die Würde ist antastbar“ bleibt er seinen Themen treu.

Und so beginnt er seinen Band wie das Grundgesetz mit der Würde des Menschen. Was das eigentlich sei, diese Würde. Die Antwort gibt er selbst und verweist auf Kant und Schopenhauer und darauf, dass es laut Verfassung genüge, ein Mensch zu sein, um Würde zu besitzen. „Wenn nun über einen Menschen bestimmt wird, ohne dass er darauf Einfluss nehmen kann, wenn also über seinen Kopf hinweg entschieden wird, wird er zum Objekt. Und damit ist klar: Der Staat kann ein Leben niemals gegen ein anderes Leben aufwiegen. Keiner kann wertvoller sein als ein anderer.“ Dieser Grundsatz jedoch werde immer mehr in Frage gestellt, erklärt von Schirach. Als Beispiele nennt er Barack Obamas Befehl, Osama bin Laden zu töten, oder dessen Ankündigung, Guantanamo zu schließen. Vier Jahre danach aber habe sich daran nichts geändert: Noch immer würden dort Menschen gefangen gehalten und gequält.

Die Würde wird mit Füßen getreten

Auch für Deutschland benennt er Fälle, in denen die Würde des Menschen auf der Strecke bleibt: Im Fall des Kindermörders Magnus Gäfgen entschied der stellvertretende Polizeipräsident Frankfurts, Wolfgang Daschner, Gäfgen sollte Folter angedroht werden, damit er den Aufenthaltsort seines Opfers preisgibt. Daschner ging damals davon aus, dass der 11-jährige Junge noch lebte. Das zog eine Grundsatzdiskussion nach sich, ob unter bestimmten Umständen die Androhung von Folter verhältnismäßig sei. Von Schirach macht unmissverständlich klar, dass hier und in weiteren Fällen nicht mehr nur die Würde nicht angetastet, sondern sogar mit Füßen getreten werde. Denn auch die „Fürchterlichsten“, wie er Gäfgen in einem weiteren Essay nennt, besitzen Würde. Das wird tatsächlich allzu gern vergessen.

Absolut lesenswert ist der Essay mit der Überschrift „Du bist, wer du bist“, in dem sich von Schirach mit seinem Großvater beschäftigt. Baldur von Schirach war einer der obersten Nationalsozialisten und verantwortlich für die Deportation der Wiener Juden in die Vernichtungslager. In den Nürnberger Prozessen wurde er wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 20 Jahren Haft verurteilt. Er starb 1974 in Kröv an der Mosel. Weil Ferdinand von Schirach vor allem von Journalisten immer wieder mit Fragen nach seinem Großvater gelöchert wird, will er mit diesem Essay ein für alle Mal deutlich machen, warum er darauf stets keine Antworten hat. Dem Text ist deutlich anzumerken, wie fremd dem Enkel dieser Mann war, der doch sein Großvater sein sollte. „Mein Großvater war ein alter Mann mit einer Augenklappe, den ich nicht kannte“, schreibt von Schirach. Und: „Ich habe nie begriffen, warum mein Großvater der wurde, der er war.“ Gesprochen aber haben die beiden nie über das Thema. Und so ist Ferdinand von Schirach auch heute noch ratlos, absolut ratlos. Aber was von Schirach über die Schuld seines Großvaters schreibt, ist eindringlich und eine deutliche Antwort auf viele Fragen.

Es finden sich in diesem Sammelband jedoch auch Essays, die seltsam anmuten. An erster Stelle sei da jener Text mit dem Titel „Die Kunst des Weglassens“ erwähnt. Darin erklärt von Schirach seinen Lesern, warum das iPad die Zukunft des Lesens sei. Leider liest sich der Text wie eine Werbebroschüre von Apple, nicht aber wie ein fundierter Essay über die Zukunft des Lesens. Die Kunst des Weglassens hätte von Schirach hier lieber selbst beherzigen und diesen Text weglassen sollen.

Jammern auf hohem Niveau

Ähnlich fragwürdig ist der Text mit dem Titel „Weil wir nicht anders können: Über das Schreiben“. Da geht es ihm zunächst um das Urheberrecht und die Frage, ob E-Book-Tauschbörsen legalisiert werden sollen. Dann aber bekennt er sein Unverständnis darüber, „warum Schriftsteller ihre Bücher selbst vermarkten sollen“. Das verführt ihn dazu, von seinem eigenen Weg in die Schriftstellerei zu berichten. Wie er zunächst des Nachts am Schreibtisch saß, weil er nicht schlafen konnte, und bei Zigaretten, Kaffee und dem fahlen Bildschirmlicht Geschichten aus seinem Anwaltsleben niederschrieb. Wie er dann sofort einen Verlag fand („Wir machen das Buch.“), sich mit der Lektorin an die Manuskript-Bearbeitung machte und nach Erscheinen des Buchs auf Lesereise ging. Für seine Termine im Ausland, das Buch war mittlerweile auch dorthin verkauft worden, sorgte sein Verlag. „Nichts davon hätte ich selbst machen können.“ Das ist wahrlich Jammern auf hohem Niveau – und das Erschreckende ist, dass von Schirach so naiv zu sein scheint, dass er von seiner Ausnahmerolle nicht ansatzweise etwas ahnt.

Nein, von Schirach erkennt für sich: „Ein Buch entsteht also nicht nebenbei. Der Vorschlag, Schriftsteller sollten sich selbst auch noch um die Verwertung kümmern, ist absurd. Sie sollen schreiben, ihre Bücher müssen andere verkaufen.“ Von Schirach verkennt hier aber, dass viele andere Autoren genau das nach dem Schreiben ihres Buches auch noch tun müssen. Von der Krimi-Bestseller-Autorin Nele Neuhaus ist etwa bekannt, dass sie ihr erstes Buch „Unter Haien“ im Selbstverlag herausgab und sich – natürlich – um Werbung und Vermarktung selbst kümmern musste. Auf ihrer Webseite beschreibt sie sehr eindrücklich den langen, steinigen Weg inklusive „Klinkenputzen bei Buchhändlern in der Umgebung, die Erstellung einer eigenen Webseite, Lesungen vor manchmal nur zwei oder drei Leuten, Kontakte zur Presse aufbauen“. Von Schirach hat das alles nie erfahren müssen. Erschreckend aber ist, dass sich sein Blick dafür nicht weitet, sondern unwissende Leser Glauben macht, sein Weg sei der übliche.

Die Essays der Sammlung „Die Würde ist antastbar“ sind erstaunlich aktuell geblieben, obwohl sie aus den Jahren 2010 bis 2013 stammen. Was sie außerdem auszeichnet, ist die typische Schreibart, die von Schirachs Texte auch bei juristischen Zusammenhängen lesbar hält: Kurze Hauptsätze, nüchtern und sachlich, aber weit davon entfernt, spröde zu wirken. Nach seinem missglückten zweiten Roman „Tabu“ zeigt dieser Essayband einmal mehr: Von Schirachs Können liegt in der Kürze. Das ist wahrhaft geistreicher Genuss!

Ferdinand von Schirach: Die Würde ist antastbar, Piper Verlag, München, 2014, 143 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, 16,99 Euro, ISBN 978-3492056588

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