Kein Leben ohne Dorine

Fünf Jahre ist es her, dass André Gorz sein letztes Buch „Brief an D.“ auf Deutsch veröffentlichte und sich mit seiner schwerkranken Frau Dorine das Leben nahm. Zeit, dieses zutiefst berührende Buch einer öffentlichen Liebeserklärung wieder zur Hand zu nehmen und sich an den bedeutenden Sozialphilosophen zu erinnern.

„Soeben bist Du zweiundachtzig geworden. Und immer noch bist Du schön, anmutig und begehrenswert. Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe Dich mehr denn je“, schreibt Gorz in seinem mit „Geschichte einer Liebe“ untertitelten Buch. Und dann, auf dem letzten Blatt des 84 Seiten langen Briefes: „Jeder von uns möchte den anderen nicht überleben müssen.“ Ein Wunsch, den Liebende oft verspüren, von dem die meisten in der letzten Konsequenz aber doch Abstand nehmen. Denn die schwerwiegende Entscheidung des Überlebenden kann nur bedeuten, den Freitod zu wählen. André Gorz und seine Frau Dorine haben diesen Entschluss gefällt. Am 22. September 2007 nahmen sich die beiden in ihrem Haus im französischen Vosnon (Region Champagne-Ardenne) das Leben.

„Brief an D.“ ist eine Berichtigung. Es ist die Korrektur seiner im Jahr 1958 beschriebenen Darstellung der Beziehung zu seiner Frau Dorine. In seiner Autobiographie aus jenem Jahr (auf Deutsch erst im Jahr 1980: „Der Verräter“) hat er ihr den verfremdenden Namen „Kay“ gegeben und sie als bemitleidenswertes Wesen dargestellt, das „niemanden kannte, kein Wort Französisch sprach, sich ohne mich zugrunde gerichtet hätte“. Kurzum: Er schrieb sie klein, während er sich bereits mit seinen Arbeiten einen Namen als Sozialphilosoph machte. Gorz fragt sich selbst eingangs des Briefes, warum er Dorine so entstellt: „Warum aber ist dort keine Rede von der wunderbaren Liebesgeschichte, die wir sieben Jahre zuvor zu leben begonnen hatten?“ Vielleicht war er zu sehr vom Existentialismus seines Freundes und Förderers Jean-Paul Sartre durchdrungen? Eine Antwort gibt Gorz nicht, nicht expressis verbis. Im „Brief an D.“ klingt aber der Versuch einer solchen an.

„Fast wie ein coup de foudre“

Der junge André Gorz, ein österreichischer Jude, begegnet der aus Schottland stammenden Dorine Ende Oktober 1947 in Lausanne, wo er unter dem Namen Gérard Horst die Kriegsjahre in Internaten verbracht hatte und so der Verfolgung durch die Nazis entkommen war. Die Begegnung mit Dorine beschreibt Gorz als „fast wie ein coup de foudre“. Bei der ersten Unterhaltung begeistert sie ihn mit ihrer Belesenheit und ihrem Wissen über die britische Politik. Sie fordert und fördert ihn. Wird er arbeitslos, nimmt sie eine weitere Stelle an. Sie erträgt es, dass er tagelang schweigt und schreibt. Denn: „Einen Schriftsteller lieben heißt lieben, dass er schreibt, sagtest Du. ‚Also schreib!'“ André und Dorine Gorz stehen zueinander, in guten wie in schlechten Tagen. Dabei hatte er die Ehe zuvor stets für eine bourgeoise Institution gehalten.

Als die Ärzte feststellen, dass Dorine unheilbar krank ist, dass es für ihre fortschreitenden Schmerzen keine Behandlungsmöglichkeit gibt, dass sie „von der Medizin (…) nichts mehr zu erwarten“ hat, bleibt sie die Starke, die Kämpferische. Aus seinen Worten spricht tiefe Bewunderung. Seine bisherigen Essays und Schriften über die politische Ökologie werden jetzt durch kritische Texte zur Apparatemedizin und Dossiers zur Alternativmedizin ergänzt.

„Ich kann mir nicht vorstellen, weiter zu schreiben, wenn du nicht mehr bist.“ Ja, es läuft alles auf den letzten gemeinsamen Willen hinaus. Doch nicht nur deshalb ist dieses Buch ein so zutiefst berührendes, sondern auch wegen der jugendlichen Verliebtheit eines 83-Jährigen und einer offensichtlich so sehr beglückenden Wirkung dieser Liebe und dieser Frau. Kaufen, lesen, ins Regal stellen und immer wieder lesen.

André Gorz: Brief an D., Rotpunktverlag, Zürich, 2007, 98 Seiten, gebunden, 15 Euro, mit Lesebändchen, ISBN 978-3858693532
André Gorz: Brief an D., btb Verlag, München, 2011, 128 Seiten, Taschenbuch, 6,99 Euro, ISBN 978-3442742608

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