Eine viel zu kurze Geschichte von fast allem

Eine schöne junge FrauDer niederländische Autor Tommy Wieringa hat einen Kurzroman über einen erfolgreichen Virologen geschrieben, der sich in eine 15 Jahre jüngere Frau verliebt. Als die beiden ein Schrei-Baby bekommen, nimmt das Drama seinen Lauf. Leider ist der nur 124 Seiten lange Roman mit Themen dermaßen überfrachtet, dass er seine Stärke nicht entfalten kann. Die Kürze jedoch hat Gründe.

Jedes Jahr im Frühjahr wird in Amsterdam die „Nationale Buchwoche“ gefeiert, bei der Verlage ihre Neuerscheinungen vorstellen und Autoren aus ihren Werken lesen. Traditionell vergibt die Veranstalterin, die „Stiftung Kollektive Propaganda für das niederländische Buch“, jedes Jahr einen lukrativen Auftrag an einen Autoren, einen kurzen Roman zu schreiben, der dann an die Buchkäufer verteilt wird. Das sogenannte Buchwochengeschenk wird immer von bekannten Autoren verfasst. Harry Mulisch, Cees Nooteboom und Salman Rushdie haben schon ihren Beitrag dazu geleistet. Im Jahr 2014 bekam Tommy Wieringa den Auftrag. Das Ergebnis ist das jetzt in Deutsche übersetzte Werk „Eine schöne junge Frau“.

Edward ist 42 Jahre alt, als er auf einer Caféterrasse sitzt und eine unfassbar schöne, junge Frau an sich vorbeiradeln sieht. Wenig später trifft er Ruth in einer Billardkneipe wieder und macht Nägel mit Köpfen. Trotz des Altersunterschieds verlieben sich die beiden ineinander und heiraten. Als auch der Kinderwunsch nach langen Mühen in Erfüllung geht, könnte ihr Glück perfekt sein, doch Ruth entwickelt den irrsinnigen Glauben, ihr Sohn reagiere allergisch auf Edward und sei deshalb solch ein Schrei-Kind. Fortan übernachtet er nicht mehr im Ehebett, sondern im Dachstuhl.

Aber ihr Glück ist auch vorher schon nicht perfekt, denn Edward geht mit einer jungen Chemielaborantin fremd. Sein Gewissen beruhigt er mit sozialpsychologischen Studien, nach denen es nicht anormal ist, dass ein Mann in der Schwangerschaft seiner Frau fremd geht. Außerdem glaubt er, er habe sich schon zu sehr an die Schönheit seiner Frau gewöhnt, so dass neue optische Reize hermüssen: „Man gewöhnte sich an alles. Und was war Gewohnheit anderes als der erste Schritt zum Tod? Auch ihre Schönheit führte nicht automatisch zu Geilheit, ganz im Gegenteil, ein Mädchen wie Marjolein van Unen erregte ihn viel mehr als seine tausendmal besser aussehende Frau.“

Der Nährboden ist damit genug bereitet, um ein Ehedrama darzustellen. Wieringa hätte nur alle anderen Themenanrisse unterlassen sollen: Die Tierversuche, zu denen Edward als Virologie eine sehr drastische Einstellung hat, die Geschichte des Aids-Virus‘, von der der allwissende Erzähler in epischer Breite berichtet, die Nebenhandlung mit Ruths Bruder. Stattdessen hätte Wieringa die Tücken des Altersunterschieds intensiver herausarbeiten und die Ängste vor Verlust und Alleinsein sowie die Überlegungen zum Ehebruch stärker in den Blick nehmen können.

Außerdem bleiben vor allem die Frauenfiguren des Romans seltsam blass, obwohl der Leser sie mit Edwards Augen betrachtet. Zu selten wird ihnen die Bühne bereitet, auf der sie sich hervortun können. Edward ist und bleibt der Dreh- und Angelpunkt dieses Romans, und auch das ist schlichtweg zu wenig. Warum sich Ruth beispielsweise von der betörend jungen Frau in das streitsüchtige Muttertier verwandelt, wird nicht annähernd erklärt.

Glücklicherweise ist der Roman wenigstens sprachlich gelungen. Wieringa beobachtet sehr fein, hat Sinn für leise Zwischentöne, und manche Sätze und Metaphern möchte man sich einfach gern notieren. Zum Beispiel: „Die Hitze lag seufzend wie ein Hund auf der Straße.“ Oder die Beschreibung des Schrei-Babys: „So tritt der Lärm in Edwards Leben, wie ununterbrochen hupende Lastwagenfahrer im Streik, angeführt von einem Umzug des Vereins ‚Mopeds ohne Auspuff‘. Hundert lautstark wehklagende semitische Witwen bilden das Schlusslicht.“ Wieringa vereint Witz und Ernsthaftigkeit, ohne dass es gekünstelt wirkt. Doch sprachliche Raffinesse genügt nicht. So bleibt „Eine schöne junge Frau“ leider nur ein Werk, das das Regal nicht braucht.

Tommy Wieringa: Eine schöne junge Frau, Carl Hanser Verlag, München, 2015, 124 Seiten, gebunden, 14,90 Euro, ISBN 978-3446247888, Leseprobe

Erwachsenwerden, der blanke Horror

Black HoleEs ist ein kleiner Horrortrip durch die Adoleszenz, gezeichnet in beeindruckenden Schwarz-Weiß-Bildern: Vier Heranwachsende stecken sich in den 70er Jahren mit einer sexuell übertragenen Krankheit an, die sie mutieren lässt und groteske Deformationen zur Folge hat. Charles Burns‘ düstere Graphic Novel „Black Hole“ ist zurecht bereits zum Klassiker der Neunten Kunst avanciert und soll jetzt von David Fincher verfilmt werden.

Das Buch spielt in den wilden 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. In einem Vorort von Seattle grassiert eine mysteriöse Krankheit, die sich „Teenager-Pest“ oder „Der Bazillus“ nennt. Die Erkrankten mutieren in unterschiedlichsten Formen, manche nur wenig, andere bizarr. Doch wer immer mit der „Teenager-Pest“ infiziert ist, verändert sich: „Einige erwischte es nicht so schwer – ein paar Beulen, ein hässlicher Ausschlag… andere verwandelten sich in Monster oder bildeten neuer Körperteile…“ Die Mutationen lassen sich nur selten verstecken, und so müssen sich die Erkrankten mit ihrem neuen Aussehen arrangieren, oder sie stürzen in eine tiefe Identitätskrise.

Der Leser folgt der Geschichte von vier Charakteren: Chris, Rob, Keith und Eliza. Keith ist in die etwas naive Chris verliebt, die jedoch nichts von ihrem Verehrer ahnt und ihrerseits für den Schulschwarm Rob in tiefer Zuneigung entbrannt ist. Bei einer Party kommen die beiden sich näher und geraten bei der Suche nach einem ungestörten Fleck auf einen Friedhof, wo sie zum ersten Mal zusammen Sex haben. Doch Rob ist bereits mit der „Teenager-Pest“ infiziert und steckt wegen eines Missverständnisses zwischen den beiden nun auch Chris an. Wenig später wird Chris zu den Erkrankten gehören, die sich häuten wie eine Schlange. Rob dagegen hat einen kleinen zweiten Mund am Hals, der redet und Geräusche macht.

Ein Schwanz, der sich bewegt

Zur selben Zeit gerät Keith beim Drogenkauf mit Freunden in ein Haus, wo er der betörenden Eliza begegnet. Auch sie ist infiziert: Ihr ist ein kleiner Schwanz gewachsen, der sich bewegt. Keith jedoch scheint entweder unwissend oder unbedarft zu sein, denn er macht keine Anstalten, Eliza darauf anzusprechen. Als die beiden Sex haben, steckt sie Keith an. Ihn befällt die Krankheit glücklicherweise nur mit kleinen Hautveränderungen, die Kaulquappen ähneln. Andere Teenager trifft es härter: Mit entstellten Gesichtern werden sie von der Gesellschaft ausgeschlossen. In den Wäldern außerhalb der Stadt bauen sie ein Outsider-Camp auf. Doch auch dort treibt der Horror sein böses Spiel mit den Ausgestoßenen.

„Black Hole“ erschien 1995 in den USA nach mehr als zehnjähriger Arbeit in einer Serie von 12 Ausgaben. Im Jahr 2011 veröffentlichte der deutsche Reprodukt-Verlag das Werk in einer übersetzten Gesamtausgabe. Es ist Burns‘ Opus Magnum, rund 400 Seiten stark. Inzwischen gilt der US-amerikanische Zeichner als einer der einflussreichsten Comic-Macher der neuen Generation, die Tiefgründigkeit und Ästhetik vereinen. Schon deshalb ist „Black Hole“ kein bloßer Sex-, Drogen- und Horror-Comic. „Black Hole“ ist anspruchsvolle Kunst, die betrachtet und gelesen werden sollte.

Burns schafft mit seinen Schwarz-Weiß-Bildern eine kontrastreiche und ganz eigentümliche Atmosphäre, einen Film Noir in Comic-Form. Dem titelgebenden schwarzen Loch meint man deshalb in jeder Zeichnung zu begegnen. Gleich zu Beginn drängt sich ein Loch-Quartett auf: ein sezierter Frosch, ein Schnitt in einer Fußsohle, die Rückenansicht eines sich häutenden Menschen und eine mit einer Hand bedeckte Vulva. Die sexuellen Anspielungen sind nicht immer unbedingt subtil, aber in der Adoleszenz erwacht das sexuelle Interesse oft auch nicht besonders rücksichtsvoll. Die Idee, die Zeit des Erwachsenwerdens und Heranreifens mit all seinen physischen und psychischen Entwicklungen als Krankheit darzustellen, ist schlichtweg grandios gelungen.

Eine Metapher für Aids?

Ist die Geschlechtskrankheit in „Black Hole“ auch eine Metapher für Aids? Charles Burns verneint diese Frage jedes Mal, wenn sie ihm gestellt wird. Die Mutationen sollen die Veränderung des Körpers beim Heranwachsen und die Ängste beim Finden der eigenen Identität versinnbildlichen, nicht aber auf Aids anspielen. Das wird beim Lesen dieser grausigen und doch bestechend berührenden Geschichte auch schnell deutlich.

Vielleicht verhilft die Verfilmung durch David Fincher dem Buch zu einer größeren Aufmerksamkeit. Das ist Charles Burns zu wünschen. Eine erste sehenswerte Kurz-Verfilmung hat der britische Regisseur Rupert Sanders auf seiner Webseite veröffentlicht. Und das Buch? Da gibt es nur eine Antwort: Lesen!

Charles Burns: Black Hole, Reprodukt Verlag, Berlin, 2011, 368 Seiten, schwarzweiß, Klappenbroschur, 24 Euro, ISBN 978-3941099753, Leseprobe (vergriffen)

Charles Burns: Black Hole, Reprodukt Verlag, Berlin, 2016, 368 Seiten, schwarzweiß, Klappenbroschur, 29 Euro, ISBN 978-3941099753 (Neuauflage im Februar 2016)

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